Efeu - Die Kulturrundschau

Sozialismus stinkt bekannt

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18.01.2018. Die taz versucht unter die Oberfläche von François Ozons Film "Der andere Liebhaber" zu blicken. Sasha Marianna Salzmann erzählt im Logbuch Suhrkamp von ihrer Havanna-Reise. Zeit online ärgert sich über die deutsche Missachtung für Pussy Riot. In der FR fordert Bariton Holger Falk von den "schönen Stimmen": Singt mehr neue Musik! Die SZ bewundert die neue gediegene Gemütlichkeit auf der Kölner Möbelmesse.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2018 finden Sie hier

Design

Side Table von
New Tendency
Max Scharnigg begutachtet für die SZ die neue Bescheidenheit auf der Kölner Möbelmesse. Hier "regiert dieses Jahr hallenweit eine ziemlich biedere Mischung aus gediegener Gemütlichkeit, neu aufgelegten Klassikern und allerlei Bauhaus-Remixen, dessen großes Jubiläum 2019 begangen wird. Bevor es so weit ist, wird im wahrsten Sinne schon mal aufgeräumt: Wohnlandschaften gewinnen Klarheit zurück, Möbel ihre Kanten. Wo die letzten Jahre allerorten mit Samt und Edelmetall geprasst wurde, findet sich jetzt allenfalls noch ein bisschen Marmor - und zwar nicht die dramatisch weiße oder schwarze Ausführung, sondern auch hier lieber melancholisches Braun und Schmutzgrün. Wenn Oberflächen noch glänzen, wie neuerdings etwa beim Präzisions-Schrankbauer Piure, dann in einem Spiegelfinish, das aussieht wie angelaufen und über die Jahre edelpatiniert."

Außerdem: Jürg Zbinden schreibt in der NZZ zum Tod der Modedesignerin Christa de Carouge. Vor kurzem war ihr noch eine Ausstellung gewidmet worden (unser Resümee).
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Film


Derangiert und sehr slick: François Ozons "Der andere Liebhaber" (Bild: Weltkino)

Zu Beginn seines neuen, stark psychoanalytisch geprägten Amour-Fou-Films "Der andere Liebhaber" lässt François Ozon buchstäblich tief blicken, erklärt Nicolai Bühnemann im Perlentaucher. Doch nach vielen Spiegeleien in diesem Konstellations-Drama zwischen Therapeut und Patientin und zahlreichen Wendungen, "bleibt nur noch: ein großes Nichts". Ekkehard Knörers Urteil in der taz fällt etwas vorsichtiger aus: "Wie steht der Film zu seinen Oberflächen, an denen alles zugleich derangiert und sehr slick ist", fragt er sich. "Ist etwas darunter, oder ist die schiere Oberfläche der Punkt? Ist das selbst ein psychoanalytischer Film oder geht es ihm um die Ausbeutung von Motiven, die ihm zu nichts weiter als Bildanlässen werden? ... Zeigeverrückt, vernarrt ins Vorführen des bereits Gesagten, ins Explizieren des Impliziten" sei dieser Film sehr - "oder scheint es". In der SZ bewundert David Steinitz die Balance, die Ozon hält.

Seit den Neunzigern klagt Dylan Farrow ihren damaligen Adoptivvater Woody Allen an, sie als Kind sexuell missbraucht zu haben. Die Staatsanwaltschaft hat nach Untersuchungen jedoch nie Anklage erhoben. Für Hollywoods Schauspielriege galt es dennoch bislang als schicker Adelsschlag, an einem Allen-Film mitgewirkt zu haben, sodass viele für dieses Privileg ein überschaubares Honorar in Kauf nahmen. Doch nachdem die Schauspielerin Ellen Page ihre Mitarbeit an Allens "To Love With Rome" öffentlich bereut hat, beeilen sich viele der betreffenden Schauspieler laut einer SZ-Meldung von Tobias Kniebe, sich der veränderten Wetterlage anzupassen und ihrerseits öffentlich Reue zu zeigen - offenbar ist die wichtige #MeToo-Debatte endgültig in die Hände der Opportunisten gefallen. Schade.

Drehbuchautorin Kristin Derfler ärgert sich im Freitag darüber, dass bei der kommenden Verleihung des Deutschen Fernsehpreises kaum Autoren eingeladen sind, also "ausgerechnet diejenigen, die sich am längsten und intensivsten mit dem Stoff beschäftigen, oft Jahre bevor Regisseure, Schauspieler und Produzenten etwas von ihrem kommenden Glück ahnen."

Außerdem: Im Freitag erklärt Drehbuchautor Alex von Tunzelmann, was ihn an Winston Churchill fasziniert, weshalb er Joe Wrights (in taz und Tagesspiegel besprochenes) Biopic "Die dunkelste Stunde" geschrieben hat. Michael Pekler empfiehlt im Standard eine Conrad-Veidt-Retrospektive im Filmarchiv Austria.

Besprochen werden Takashi Miikes auf DVD erschienener Samuraifilm "Blade of the Immortal" (taz), Trey Edwards Shults' Horrorfilm "It Comes At Night" (taz, SZ), Michael Almereydas beim "Unknown Pleasures"-Festival in Berlin gezeigter Science-Fiction-Film "Marjorie Prime" (Perlentaucher), Alexander Paynes "Downsizing" (Welt), "Lucky", der letzte Film von Harry Dean Stanton (NZZ), Robin Campillos AIDS-Aktivisten-Drama "120 BPM" (NZZ) und Mouly Suryas "Marlina - Die Mörderin in vier Akten" (FAZ).
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Literatur

Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann liefert im Logbuch Suhrkamp die erste Folge aus ihrem Havanna-Reisetagebuch: "Ich bin noch nicht so weit, über Havanna zu sprechen, grad noch zu grob der Gedanke, dass es die schönste Stadt ist, in der ich je gewesen bin. Die brüchigen Säulen hundertjähriger Villen, der mit einsamen Männerrücken gesäumte Malecón, gleich daneben Plattenbauten im Zickzack. Sozialismus stinkt bekannt. Über allen Farben Staub, das meiste ist blau und altrosa und schwarz, Art-déco-Paläste, in denen Katzen wohnen, irgendwo in der Stadtmitte der Kempinski-Wahnsinn, der Beweis dafür, dass der Kapitalismus ein Rad ab hat. Und der Sozialismus vielleicht alle Räder."

Weiteres: Vom vernetzten Smart Home zum Spukhaus ist der Weg nicht weit, meint Manuel Müller in der NZZ nachdem er in den Klassikern der Horrorliteratur entsprechende Stellen nachgeschlagen hat. Peter Becker präsentiert im Tagesspiegel Fundstücke aus dem Fundus Alfred Kerrs.

Besprochen werden unter anderem der von Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke herausgegebene Reader "Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags" (taz), Tito Topins Krimi "Casablanca im Fieber" (Welt), Oliver Bottinis "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" (FR), Res Stouts neu übersetzte Kriminalromane um den Ermittler Nero Wolfe (Tagesspiegel), Gottfried Benns Briefauswahl "Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift" (SZ) und Fernando Aramburus "Patria" (FAZ).
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Bühne

Im Interview mit der FR findet es der Bariton Holger Falk, der ab Sonntag in Frankfurt die Titelpartie in Manfred Trojahns Oper "Enrico" singt, ziemlich abwegig, dass ein Sänger sich heute quasi dafür entschuldigen muss, dass er neue Musik liebt. "Ich glaube, dass die Frage, warum einer, der eine schöne Stimme hat, zeitgenössisches Repertoire singt, überhaupt nur aufkommt, weil es eine Zeit gab, in der oft solche Sänger das sangen, die im Mainstream keine Karriere machen konnten. Als Verlegenheitslösung also. Und entsprechend haben die Komponisten nicht für schöne Stimmen komponiert, also nicht kantabel, sondern irgendetwas zwischen expressiv und brutal. Und das dann zu singen haben wiederum Sänger mit schönen Stimmen keine Lust. Ein Teufelskreis."

Weiteres: Andreas Klaeui unterhält sich für die Nachtkritik mit der Schauspielerin Ursina Lardi über den Schauspielerberuf. In der Berliner Zeitung stellt Petra Kohse die afghanische Theatertruppe Azdar vor.

Besprochen werden Richard Strauss' "Capriccio" an der Frankfurter Oper (nmz) sowie Andrea Breths Inszenierung der Kurzopern "Il Prigioniero" von Luigi Dallapiccola und "Das Gehege" von Wolfgang Rihm in Brüssel (FAZ, in der Zeit porträtiert Christine Lemke-Matwey den Bariton Georg Nigl, der in Dallapiccolas "Gefangenen" singt).
Archiv: Bühne

Kunst

Nachdem Vorwürfe wegen sexueller Übergriffigkeit seitens einiger männlicher Models laut wurden, hat Kurator Ingo Taubhorn eine seit drei Jahren geplante Retrospektive des Fotografen Bruce Weber im Hamburger Haus der Photographie "auf Eis gelegt", berichtet Jan Kedves in der SZ. "Dabei hat er durchaus Zweifel, ob diese Entscheidung richtig ist. Man wisse derzeit zu wenig darüber, was an den Anschuldigungen dran sei, sagt er. Andererseits macht er sich keine Illusionen darüber, was los wäre, würde er Webers Fotos zeigen. 'Man kann doch keine Ausstellung machen, wo man dann gar nicht mehr über die Kunst redet, sondern nur noch darüber, was in den Köpfen drin ist', sagt Taubhorn - und meint damit die Kombination aus Empörung, Fantasie, Sensationsgier und Moral, die sich 'wie ein Schleier' vor das Werk und dessen Wahrnehmung lege. So ein Schleier kann wieder verfliegen, aber das brauche Jahre."

Weitere Artikel: Der Maler Georg Baselitz, der am Dienstag seinen 80. Geburtstag feiert, beklagt im Interview mit der Zeit, dass die AfD im Bundestag "vollständig undemokratisch" behandelt wird und tritt auch sonst mit Begeisterung in jedes Fettnäpfchen. Andreas Platthaus berichtet in der FAZ über die erste "Martin Roth Lecture" Edmund de Waals in Dresden.

Besprochen werden Rob Pruitts Ausstellung "The Church" in der Zürcher Kunsthalle (NZZ-Kritiker Thomas Ribi fragt sich verwirrt, was er hier eigentlich sucht - "in einem Museum, das eine Kirche sein will, die so aussieht, als wäre sie ein Museum. Und die ja trotzdem ein Museum bleibt. Oder spielt das am Ende gar keine Rolle?")
Archiv: Kunst

Musik

Auf ZeitOnline ärgern sich Kerstin und Sandra Grether darüber, dass Pussy Riot im Musikjournalismus zwar als Spektakel wahrgenommen, jenseits dessen aber künstlerisch kaum ernst genommen werden. Dabei "gibt es diverse künstlerische Genres, in denen Pussy Riot sich mühelos bewegen: Video, Lyrics, Theater, Literatur, Tanz, philosophische Essays. Und immer wieder Musik als roter Faden. Dazu ihr Stil - bunte, leuchtende Kleider und Sturmhauben als Markenzeichen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Punk es wieder geschafft, neu auszusehen und anders zu klingen."

Mit ihrem neuen Album "Die Unendlichkeit" werden Tocotronic wieder interessanter, meint Christian Schachinger im Standard, für dessen Geschmack sich die einstigen Hamburger Schüler zuletzt viel zu sehr mit Kunst- und Feuilletonbetrieb verfilzt hatten. Doch jetzt geht Bandleader Dirk von Lowtzow "zurück zu seinen Wurzeln und schreibt ausschließlich autobiografische Lieder über Kindheit und Jugend in der Schwarzwaldhölle und glücklich verpeilte Twen-Jahre in Hamburg wegen Ausschweifengehen", erfahren wir. Zum Glück geht es auf dem Album "nicht um Trauerarbeit ... Mit Anklängen an alte Idole wie die US-Hardcore-Götter Hüsker , aber auch mit pathetischen Streichereinlagen und Reinhard-Mey-Geschrubbe wird vielmehr eine lebenslange Sehnsucht oder Suche nach etwas beschrieben, das mit dem Begriff Erlösung überzogen, aber letztlich treffend beschrieben ist."

Sehr dankbar ist Karl Fluch im Standard dafür, dass Minnie Ripertons von Stevie Wonder unter Pseudonym produziertes meisterliches Album "Perfect Angel" aus dem Jahr 1974 damit neu aufgelegt wurde. Die stilistische Vielfalt des Albums wirkte sich seinerzeit ungünstig auf den Erfolg aus - heute besteht es, so Fluch, als "immens reichhaltiges Album. ... Allein der Opener 'Reasons' ist ein Traum. Wonder sitzt am Schlagzeug, die Band fällt in einen lässigen Groove, in dem eine nach oben ziehende Rockgitarre sich am Firmament mit Ripertons Stimme vereint: Ein Gänsehautmoment." Diesen wollen wir uns nicht entgehen lassen:



Außerdem: Eric Facon porträtiert in der NZZ das Schweizer Duo Markus Schönholzer und Robi Rüdisüli. Besprochen wird ein Konzert des Pianisten Jan Lisiecki (FR).
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