Efeu - Die Kulturrundschau

Der eigene lustvolle Blick

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10.11.2017. FR und Tagesspiegel feiern Rahul Jains Dokumentarfilm "Machines" über eine indische Färberei. Zeitonline erklärt den Öffentlich-Rechtlichen, was sie in puncto Dokumentarfilm von Netflix lernen können. Reicht es schon rassistische Stereotype zu reproduzieren, fragt die taz beim Spielart-Festival, das sich postkolonialen Diskursen widmet. Die NZZ empfiehlt Facebooks Sittenwächtern ein Studium der Kunstgeschichte. In der taz sinniert der Rock'n'Roller Ian Svenonius über die Macht von Popkultur im Kalten Krieg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.11.2017 finden Sie hier

Film


"Machines" von Rahul Jain.

Sehr beeindruckend findet Daniel Kothenschulte Rahul Jains Dokumentarfilm "Machines" über eine indische Färberei, in der bedrückende Bedingungen wie einst im Manchester-Kapitalismus herrschen. "Es gibt hier nichts zu kommentieren, lediglich die Bildmontage setzt wie im klassischen Dokumentarfilm die Informationen in einen Kontext", erklärt Kothenschulte in der FR. "Rahul Jain behandelt visuelle und akustische Reize mit größter Vorsicht. Fast mag man an Henri Cartier-Bresson denken, der, als er ein befreites Konzentrationslager filmte, vorrangig Porträts der Überlebenden aufnahm. Die Schönheit dieses Films liegt nicht in fotografischem Reiz, sie liegt in einer Haltung, die sich wiederum mit ästhetischen Mitteln artikuliert." Im Tagesspiegel fühlt sich Gunda Bartels an die Filme von Michael Glawogger erinnert: Der Film "ist sichtlich von dessen 'Workingman's Death' inspiriert, visuell allerdings weniger wuchtig ausgeführt. Sein Hammer ist der Satz eines Arbeiters: 'Mein einziger Trost ist, dass alle sterben werden. Und dass auch die Reichen diese Welt mit nichts verlassen müssen.'"

Überhaupt Dokumentarfilme: Auch in diesem Bereich baut Netflix sein Portfolio sichtlich aus, aktuell erschienen ist gerade ein Porträt über Joan Didion. Mit einer solchen Ausdifferenzierung des Programms rückt der Online-Fernsehsender jetzt auch den Öffentlich-Rechtlichen auf die Pelle, zu deren "Kernkompetenzen" der Dokumentarfilm zählt, erklärt Jana Weiss auf ZeitOnline. Die sollten langsam mal aufwachen und ihre Perlen besser platzieren: "Die Sender müssen überlegen, wie sie wettbewerbsfähig bleiben, vor allem bei einer jüngeren Zielgruppe. In puncto Vermarktung können die Öffentlich-Rechtlichen in jedem Fall von der Konkurrenz lernen. Viele der Dokumentationen dort haben noch immer einen etwas, nun ja, angestaubten Charme. Titel wie 'Wilde Schlösser' (arte), 'Unsere wilde Schweiz' (3Sat) und 'Wildes Venedig' (NDR) zeugen höchstens von einer merkwürdigen Überschätzung eines Reizwortes - nicht aber davon, dass man sich besonders viel Mühe gibt. Das macht Netflix besser."

In Mülheim durchstöbert Hanns-Georg Rodek für die Welt die legendäre, auf die Vorgeschichte des Kinos spezialisierte Sammlung des im Januar gestorbenen Avantgarde-Filmemachers Werner Nekes, dem sich nun auch ein aktueller Porträtfilm widmet. Diese Sammlung von Weltrang muss schnellstmöglich in institutionelle Obhut, findet er: "In Los Angeles schätzt man die Sammlung. In jeder Stadt auf der Welt, in jeder Ausstellung, die etwas mit Bildern und Licht zu tun hat, finden sich Nekes-Exponate. ... Deutsche Kinematheken, wo bleibt ihr? Hasso Plattner, wo bist du? Humboldt-Forum, sind deine Räume schon voll? Wir dürfen nicht warten, bis die Ruhr beim nächsten großen Hochwasser alles mit sich nimmt."

Weiteres: Im Standard spricht Dominik Kamalzadeh mit Regisseur Albert Serra über die Lage in Katalonien. Besprochen werden Kenneth Branaghs Neuauflage vom "Mord im Orient-Express" (ZeitOnline) sowie Delphine Coulins und Muriel Coulins "Die Welt sehen" über französische Kriegsheimkehrerinnen aus Afghanistan (FAZ).
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Literatur

Die Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste über das Verhältnis zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht "tastet sich an eine der spannendsten intellektuellen Doppelbiografien der Weimarer Republik heran", erklärt Paul Jandl in der NZZ. Sie tut dies, "indem sie die Widersprüche zwischen Benjamin und Brecht gerade dort erkennbar macht, wo sie um etwas Gemeinsames ringen. Wo sie der Frage nachgehen, wie das Denken politisch werden könnte."

Beim Spaziergang mit der Schriftstellerin Annett Gröschner durch Prenzlauer Berg kamen in der syrischen Schriftstellerin Widad Nabi traurige Erinnerung an Aleppo hoch, erzählt sie in der Berliner Zeitung: "Es schien, als bestünde das Leben in diesem ständigen Verlust der Orte, nachdem wir alles dafür getan haben, sie uns vertraut zu machen, und an die wir zurückkehren, wenn das Leben zu hart mit uns ist. Wenn wir dann nach draußen geworfen werden, treffen wir auf die Härte der Welt, ohne die Wärme und alte Vertrautheit des Ortes. Das Herz jedoch, vor und nach dem Krieg, verlässt keinen Ort, an dem es hängt."

Weiteres: Die taz bringt einen Auszug aus dem Romandebüt "1988" ihres Redakteurs Uwe Rada. Die SZ dokumentiert Heribert Prantls Laudatio auf Petra Morsbach, die mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung zum 150. Geburtstag der Reclam-Hefte in Leipzig (SZ), Joachim Meyerhoffs "Die Zweisamkeit der Einzelgänger" (FR), Jan Kjærstads "Das Norman-Areal" (NZZ), Oliver Bottinis "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" (Welt), und das Romandebüt "Alles über Heather" von "Mad Men"-Erfinder Matthew Weiner (ZeitOnline).
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Bühne

Bild: Szene aus Negrophobia. Spielart-Festival. Dajana Lothert

Beeindruckt ist Nachtkritiker Michael Stadler beim Münchner Spielart-Festival, das sich dieses Jahr mit Künstlern aus Südafrika und Südostasien vor allem postkolonialen Diskursen widmet, von Stück zu Stück geeilt: "In der Erinnerung haften bleibt vor allem die Wut im Bauch, die man bei vielen der südafrikanischen Performer*innen spürt, sowie die Körper, die oft stolz und herausfordernd präsentiert werden: als durchsexualisierte Ausstellungsobjekte wie bei Nora Chipaumire in 'Portrait of Myself as My Father' oder bei Jaamil Olawale Kosoko, der in '#Negrophobia' den brutalen Tod seines Bruders beklagt und die Polizeigewalt gegen Schwarze in Bild und Ton anprangert." Aber: "Was kritisiert werden soll, muss vorgeführt werden? Der schwarze Körper wird einem vehement gezeigt, bis das Hinschauen langweilt oder der eigene lustvolle Blick peinlichst bewusst wird. Dabei ist nicht immer ganz klar, ob die Künstler Klischeevorstellungen und den eingetrichterten Selbstoptimierungswahn vorführen wollen oder ihm ein Stück weit erliegen, indem sie selbstbewusst ihr Ego präsentieren: Mein fitter Körper gehört mir."

Szene aus Portrait of Myself as My Father. Foto: Spielart-Festival
Und in der taz fügt Sabine Leucht vor allem mit Blick auf Chuma Sopotelas und Ahmed Tobasis südafrikanisch-palästinensischen Dialog "Let's Talk About Sex: The Beginning of War", bei dem in Bananenröckchen an Dildos geleckt wird, hinzu: "Der Abend ist sympathisch durch seine Unbekümmertheit und den Spaß, den seine Akteure bei der Arbeit haben, tippt einige Probleme der interkulturellen Kommunikation im Vorbeigehen an und lässt zum wiederholten Male bei diesem Festival die Frage unbeantwortet im Raum stehen, ob es genügt, sexistische und rassistische Stereotype zu reproduzieren, die man doch eigentlich anprangern will. Auch wenn man es darf, weil man Frau und/oder schwarz ist."

Weiteres: Im Interview mit Patrick Wildermann vom Tagesspiegel spricht der Regisseur Walter Asmus, der mit drei Beckett-Stücken die Volksbühne eröffnet, über seine Zusammenarbeit mit und die lebenslange Prägung durch Samuel Beckett. In der Welt sinniert Eva Biringer über das vorzeitige Verlassen von Theaterstücken. Und die Kritiker trauern um den Schauspieler Hans Michael Rehberg: "Ein Theaterzauberer, der stillen eindrücklichen Art", schreibt Gunda Bartels im Tagesspiegel.

Archiv: Bühne

Musik

Audiophile CD-Sammlungen zuhause und reich gefüllte Archive im Netz - alles schön und gut, doch klassische Musik muss man im Moment ihrer Aufführung sehen, plädiert Victor Ravizza in der NZZ: "Es geht um die (Wieder-)Erweckung der Musik aus ihrer schriftlichen Starre und dabei insbesondere um jene nicht fixierten oder nicht fixierbaren und kommensurablen Nuancen des Tempos, der Agogik, der Dynamik, der Artikulation, der Klangfarbe und vieler weiterer Faktoren, welche die Musik erst verlebendigen. ... Was aber - so die Frage - ist faszinierender als die aufmerksame Beobachtung dieses Vorgangs der Wiederbelebung mit all seinen erwähnten visuellen und materiellen Informationen und Ergänzungen unter ungeschönten akustischen Gegebenheiten."

In der taz porträtiert Stephanie Grimm den Post-Punk-Neo-Vintage-Rock'n'Roller Ian Svenonius, der nach vielen Jahren in diversen Retro-Bands jetzt mit Escape-Ism ein Soloprojekt verfolgt. Im Interview gibt sich der Sänger und durchgeknallte Pop-Philosoph so skurril wie eh und je: "Jeder Hollywood-Heini würde insgeheim lieber in einer Rockband spielen. Weil wir wirkliche Macht haben. Nur erkennen dies die VertreterInnen von Subkulturen nicht. Sie halten sich selbst lieber für verpeilte Bohemiens. Oder wollen ihre Möglichkeiten nicht nutzen, weil sie Angst haben, von der Party ausgeladen zu werden." Im aktuellen Video sehnt er sich nach dem Eisernen Vorhang zurück:



Weiteres: Mit ihrem neuen Album "Reputation" wehrt sich Taylor Swift gegen Vereinnahmungsversuchen der amerikanischen Rechten, erklärt Christian Schröder im Tagesspiegel. Julian Weber annonciert in der taz einen Berliner Vortrag des KLF-Musikers Bill Drummond. Christian Schröder gratuliert dem Rolling Stone im Tagesspiegel zum 50-jährigen Bestehen. Das mit der Band The Animal Spirits eingespielte, neue Album von Techno-Produzent James Holden bietet "eine bemerkenswerte Synthese aus Synthesizer-und Sample-Exzessen, der hypnotisch-repetitiven Kraft des Krautrock und der verspielten Lust am Moment des Jazz", verspricht Volker Bernhard in der SZ. Wir wagen ein Ohr:



Besprochen werden das neue Album von Circuit Des Yeux (Standard), ein Konzert des Ensembles Modern (FR), ein Konzert der Gorillaz (NZZ) und neue Popveröffentlichunten, darunter das neue Album von Fever Ray (ZeitOnline). Daraus ein Video:

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Kunst

Karin Szekessy, Model, Maske + Fisch. Galerie Photobastei
Die "Sittenwächter" von Facebook, die das Plakat für die Karin-Szekessy-Ausstellung in der Zürcher Photobastei mit roten Balken zensierten, hätten vorab vielleicht ein wenig Kunstgeschichte büffeln sollen, meint Daniele Muscionico in der NZZ: "Székessys Akt ist seit den siebziger Jahren ein Bestandteil des internationalen akademischen Kunstkanons und konnte in Zürich 1973 ohne Aufsehen in der damaligen Nikon-Galerie gezeigt werden: 'Model, Maske + Fisch' zeigt eine Frau im nonchalanten Kontrapost. Sie ist nackt und ist es nicht. Auf dem Kopf trägt sie eine Papiermaske von Paul Wunderlich, dem großen Maler und Zeichner, Székessys lebenslangem Ehepartner."

Weiteres: FAZ-Kritiker Stefan Trinks hat sich Thomas Bayrles zwanzig Quadratmeter großen aus Totenschädelfalten gestalteten Kriegsgräberteppich "Pieta for World War I" angesehen, der heute von Steinmeier und Macron der Öffentlichkeit in Hartmannswillerkopf übergeben wird: "Mit der­sel­ben Mo­nu­men­ta­li­tät wie bei Hob­bes schafft das Pietà-Mo­tiv ei­ne bei­nah me­di­ta­ti­ve Stil­le im Au­ge des mör­de­ri­schen Schä­del-Tai­funs; es wirkt be­ru­hi­gend und be­rüh­rend zu­gleich." Die aus Bussen bestehende Installation "Das Monument" des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni ist nun am Brandenburger Tor zu sehen, meldet Harry Nutt in der Berliner Zeitung: Eine erneute Debatte sei aber nicht zu erwarten (Unser Resümee).

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst in vier Nischen" mit DDR-Kunst im Kunsthaus Dahlem (Tagesspiegel), die Valie-Export-Schau im Linzer Lentos (Standard) und die Ausstellung "Gefeiert und verspottet. Französische Malerei 1820-1880" im Kunsthaus Zürich (NZZ).
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