Efeu - Die Kulturrundschau

Leise radikale Gesten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2016. Im Perlentaucher geißelt Wolfgang Ullrich den Missbrauch des Urheberrechts durch Künstler. Eine Retrospektive des Architekten Peter Cook erinnert die taz an den fröhlichen Zukunftsoptimismus der Sechziger. Die New Filmkritik verlässt das Kino mit Mervyn LeRoy. In der FR möchte sich Jagoda Marinic nicht als irgendwie migrantische sondern als deutsche Autorin verstanden wissen. Zeit online feiert das neue Album von Alicia Keys.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.11.2016 finden Sie hier

Architektur



Ronald Berg besucht für die taz eine dem britischen Architekten Peter Cook und seiner Gruppe Archigram gewidmete Retrospektive in Berlin und atmet dabei den Aufbruchsgeist der 60er: "Mit Instant City, Walking City, Sin-Centre und vielem anderen mehr lieferte Archigram das in der Architektur bis dato Undenkbare. Die einsetzende Raumfahrt schickte sich ja ihrerseits bereits an, das Unmögliche möglich zu machen. Warum also sollte die Architektur zurückbleiben?"

Von der umstrittenen Mauer im Münchner Stadtteil Perlach bis zur geplanten Mauer in Großbritannien gegen Flüchtlinge und Trumps Mauer an der mexikanischen Grenze: Mauern haben vielsagende Konjunktur, meint Gerhard Matzig in der SZ: Dieser "Boom" zeige an, "dass wir uns in einer retronationalen Ära sozialer und kultureller Segregation befinden." Im Tagesspiegel referiert Bernhard Schulz die Geschichte des Berliner Stadtschlosses.

Außerdem: Im Tages-Anzeiger stellt Andres Herzog das von Kengo Kuma gebaute ArtLab auf dem Campus der ETH Lausanne vor.
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Kunst

Künstler benutzen immer häufiger ihr Urheberrecht, um eine Auseinandersetzung mit ihrem Werk zu kontrollieren oder sogar zu zensieren, schreibt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Perlentaucher. Nur eins von vielen Beispielen: "Auf Architektur spezialisierte Fotografen machen mittlerweile immer wieder die Erfahrung, dass ihnen die Publikation von Gebäudeaufnahmen, die nicht im Auftrag der Architekten entstanden sind, untersagt wird. Im Inneren der Gebäude wird ihnen oft sogar das Fotografieren selbst untersagt. Veröffentlicht werden nur Abbildungen, die der Sichtweise der Architekten entsprechen; oft handelt es sich dabei zudem um retuschierte Fotografien."

Bei der Konferenz "Dunkle Materie" über verschleppte Menschen in Mexiko kamen Künstler und Forensiker miteinander ins Gespräch, berichtet Ole Schulz in der taz.

Besprochen werden die Ausstellung "Lucia Moholy - Die englischen Jahre" im Bauhaus-Archiv in Berlin (SZ) und die Ausstellung "Das Paradies auf Erden - Flämische Landschaften von Bruegel bis Rubens" im Lipsiusbau in Dresden (FAZ).
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Film


Die großartige Aline MacMahone in LeRoys "Heat Lightening", 1934


New Filmkritik bringt eine tolle neue text/Screenshot-Collage von Rainer Knepperges. Diesmal geht es um zwei Außenseiter der Filmgeschichte: Um Mervyn LeRoy, der "einige der allerbesten Enden inszeniert [hat], nach denen Menschen aus Kinosälen wieder auf die Straße treten mussten", und um Wolfgang Büld, der "schon als Filmstudent in München, mit den drei großen Lieben: Bahnhofskino, Musik und England, nicht die Hoffnung [hatte] unterzukommen im Neuen Deutschen Film."

In der taz berichtet Detlef Kuhlbrodt vom Festival DOK-Leipzig.
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Design

Jean-Paul Gaultier war in Berlin zu Besuch, berichtet Anke Sterneborg in der SZ.
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Stichwörter: Gaultier, Jean-Paul

Literatur

Wann registriert der Betrieb endlich, dass die migrantisch geprägte Literatur in Deutschland längst angekommen ist, fragt die Schriftstellerin Jagoda Marinic die Kritiker in einem Gastbeitag für die FR. Noch immer werden sie und ihresgleichen auf die Position des Exoten und Spracherneueres reduziert: "Es sind diese Projektionen der hiesigen Rezeption, die aus Eigensinn plötzlich eine ethnische Zugehörigkeit zaubern wollen. Dabei verwehrt sich gerade der Eigensinnige solchen Zuschreibungen. Stanišic könnte auch einfach ein besonders auf Sprache bedachter Autor sein. Woher überhaupt der Anspruch an uns, die Idee, dass gerade wir, die wir mehrere Kulturen familiär kennen, die deutsche Sprache verändern müssten? Oder gar könnten. Und wenn es uns gelänge, dass es mit unserer Herkunft zu tun haben müsste."

Drogen, Depressionen - nichts als Untergänger: Die deutsche Literatur war in diesem Jahr von Männern am Ende ihrer Kräfte und vor den Scherben ihrer Existenz bestimmt, beobachtet Eva Biringer von ZeitOnline: "So unterschiedlich diese Männerfiguren sein mögen, verbindet sie eine vormals als unmännlich verlachte Empfindlichkeit. Sie straucheln und zweifeln und sind schwach. Dass ihnen diese Schwäche nicht immer zugestanden wird, ist auch eine traurige Zeitdiagnose. Offenbar haben sie die Welt nicht nur im Rücken, sondern auch gegen sich."

Heute wäre Peter Weiss hundert Jahre alt geworden. In der NZZ würdigt Michael Braun den Autor, zu dessen Geburtstag zwei Biografien erschienen sind. In der FAZ rühmt Dietmar Dath: "Die Texte, das Erbe, leisten sich ihre Seltsamkeiten, Besonderheiten, um die Anstrengung beim Verstehen für die zu erhöhen, die verstehen wollen." In der SZ wirft Thomas Steinfeld einen Blick auf die Feierlichkeiten in Schweden zum Weiss-Jubiläum. Außerdem besprechen FAZ und SZ diverse Neu- und Wiederveröffentlichungen von Büchern von und über Weiss.

Weiteres: Ijoma Mangold von der Zeit begleitet den niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg beim Besuch Brandenburgischer Schlachthöfe. Uta Großmann porträtiert in der FR die Lyrikerin Safiye Can. In der FAZ plädiert Olga Martynova dafür, dass Schulen wieder Gedichte auswendig lernen lassen.

Besprochen werden unter anderem Christoph Ransmayrs "Cox oder Der Lauf der Zeit" (Tagesspiegel), Alan Moores Lovecraft-Hommage "Providence" (Tagesspiegel) und Peter Temples Thriller "Die Schuld vergangener Tage" (FR).
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Bühne

Der Standard versucht vergeblich, Frank Castorf im Interview einen zusammenhängenden Gedanken zu entlocken.

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung von Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" in Frankfurt (FR, mehr dazu hier), ein "Peter Pan" an der Komischen Oper in Berlin (Tagesspiegel), Péter Eötvös' "Senza Sangue" an der Hamburger Oper (FAZ) und der Auftakt von Florian Lutz' Intendanz an der Oper Halle mit einem "Fliegenden Holländer" zum Eintauchen im Rahmen eines zweiwöchigen Eröffungsfestivals (SZ).
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Musik

Für die schwarze Musik ist 2016 ein Glanzjahr, ähnlich wie zuvor 1971 und 1996, meint Fabian Wolff auf ZeitOnline nach dem Durchhören von Alicia Keys' "Here", das er ohne weiteres in die Folge großartiger Veröffentlichungen des sich neigenden Jahres einsortiert. An politischen Themen mangelt es "Here" weißgott nicht: "Musik, Menschheit, Gott, Hip-Hop, schwarze Geschichte, New York und diese ganze, nur vielleicht verdammte Erde: Alicia Keys will über alles singen, 'wie Nina Simone, wie das Plattenknistern", kündigt sie gleich zu Beginn an. ... Ein explizites politisches Statement - 'our lives matter' - findet sich auf der Platte nicht, dafür leise radikale Gesten."

In der Welt porträtiert Harald Peters die britische Folksängerin Shirley Collins, die nach Jahrzehnten des Verstummens mit 81 Jahren ein neues Album veröffentlicht hat: "Damit ja keiner auf die Idee kommt, 'Lodestar' sei das gefällige Spätwerk einer alten Dame, dauert das erste Stück gleich geschlagene elf Minuten."

Hier erklärt Comicautor Alan Moore, warum Collins eine "truly amazing figur" ist, und hier eine Kostprobe aus dem neuen Album:



Teodor Currentzis auftrumpfendes Auftreten sind Jan Brachmann von der FAZ ein sichtlicher Dorn im Auge: Sehr ungnädig rammt er den "Dirigenten des Jahres" anlässlich der Veröffentlichung einer Mozart-Einspielung mit dem Ensemble Musicaeterna in den Boden. Dass Currentzis sich im Beiheft mit großmännischer Geste über die Rezeptionsgeschichte Mozarts hinweghebt, liefert dazu die Steilvorlage: "Ein explosiver, schartiger Orchesterklang bei Mozart ist seit gut dreißig Jahren keine Neuigkeit mehr. Hier bei Currentzis, in der Ouvertüre, wird er zu einer Gossendreck-Plattitüde, denn die Artikulation der Streicher im Molto allegro verwischt klanglich alle Unterschiede zwischen Keilen und Bögen in Mozarts Notation."

Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker sind zu einer Tour durch die USA aufgebrochen, in Berlin gab es zum Abschied an zwei Abenden das dort gegebene Programm. Da es sich um Rattles letzte Saison in Berlin handelt, wird Julia Spinola von der SZ ein wenig melancholisch: Anders als der späte Abbado scheint "Rattle schon losgelassen zu haben. Seltsam antriebslos wirken seine Interpretationen. Ein bisschen scheint es, als habe er sich in den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten dieses Orchesters verloren, als wäre ihm vor lauter Staunen über das 'Wie' der Musik das 'Warum' abhandengekommen."

Weiteres: In der SZ freut sich Joachim Hentschel über das Vorhaben des Plattenlabels Secretly Canadian, elf mitunter äußerst rare LPs von Yoko Ono wieder aufzulegen. Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) und Christian Broecking (SZ) bringen ihre Eindrücke vom Jazzfest Berlin. In der taz plauscht Dagmar Leischow mit dem britischen Popmusiker Phil Collins.

Besprochen werden das neue Album "Flotus" von Lambchop (FAZ.net), Kate Tempests "Let Them Eat Chaos" (Spex), Carrie Brownsteins Buch "Modern Girl" über ihre Band Sleater-Kinney (Tagesspiegel) und das von Kent Nagano dirigierte Jubiläumskonzert zum 40-jährigen Bestehen des Deutschen Symphonie-Orchesters (Tagesspiegel).

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