Efeu - Die Kulturrundschau

Praller Klangkamm

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2016. Dennis Coopers Blog wurde von Google so nebenbei mal in die Mülltonne gesteckt. In der taz prangert Clemens Setz die "absolute Gleichgültigkeit" Googles gegenüber seinen Kunden an. Die NZZ blickt ins rätselhafte Auge der Renaissance. In Lens Culture erklärt der Fotograf Julián Barón García Fotografie und Zensur zu Alliierten. Die SZ erklärt, warum das Büro Zaha Hadid auch ohne Zaha Hadid bestens funktioniert. Von "respektabel" bis "katastrophal" lauten die vernichtenden Urteile zu Thomas Adès' Salzburger Veroperung von Luis Buñuels "Würgeengel".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.07.2016 finden Sie hier

Kunst


Tobias Stimmer (1539-1584), Selbstbildnis, um 1563. Peyersche Tobias Stimmer-Stiftung, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Spektakulär, mit einem "Zug ins Erhabene" findet NZZ-Kritiker Urs Hafner die Ausstellung "Europa in der Renaissance", mit der das Landesmuseum Zürich am Montag seinen Erweiterungsbau eröffnen wird. Jakob Burckhardt verwandt bleibe die Schau insofern als sie "die Renaissance als eine Angelegenheit ausschließlich der Eliten fasst. Von dem neuen Menschenbild, das die Subjektivität und Individualität hervorhob - kaum entziehen kann man sich dem rätselhaften, auf den Betrachter gerichteten Blick des Schaffhauser Malers Tobias Stimmer, der sich bei der Arbeit porträtiert -, bekam der weitaus größte Teil der damaligen Bevölkerung nichts mit. ... Nur die 'Medienrevolution' drang zu ihnen vor, die um 1450 mit der Gutenbergschen Druckerpresse ihren Anfang nahm."


C.E.N.S.U.R.A. © Julián Barón García. Open Series Winner, Magnum Photography Awards 2016.

Julián Barón García hat den Magnum Fotopreis 2016 in der "open category" gewonnen. Lens Culture zeigt seine eindrucksvollen Fotos, die sich mit der Zensur auseinandersetzen. Dazu schreibt Baron Garcia: "In the big circus that is politics today, photography and censorship have become allied to each other. They are used in concert in order to manipulate people, putting forward the image as a document, and relying on mass media to subtly but constantly mask those aspects that do not correspond to the claims of the parties. The final effect is a blurring and distorting of reality."

Auch politische Künstler wie Ai Weiwei, Philipp Ruch oder Santiago Sierra sind heute Marken, meint Kia Vahland in der SZ zur aktuellen Politisierung der Kunst: "Auch auf kultureller Bühne verdrängen die Kunden die Bürger. Mit ihrem Katastrophismus degradieren die Aktionskünstler ihre Rezipienten zu Politkonsumenten, die mit der Währung Aufmerksamkeit zahlen. Dafür bekommen diese gute Gefühle, ein bisschen Theater, nicht aber reale politische Anteilnahme. Die nämlich setzt Anstrengung und Wissbegierde voraus."

Weiteres: Erstaunliche Assoziationen etwa an Jean Cocteaus junge Männer "mit den abbreviierten klassischen Profilen und einer narzisstischen Sexualität" hat in der Welt Martin Mosebach bei Betrachtung von Georg Baselitz' "Helden" im Städel. Unbedingt sehenswert auf Lens Culture ist auch die Fotoserie von Ako Salemi aus Afghanistan "The Color Awakens". Susanne Altmann besucht für das Art Magazin das weißrussische Städtchen Witebsk, an deren Kunsthochschule einst Mark Chagall, Kasimir Malevitsch und El Lissitzky lehrten. In der taz schreibt Waltraud Schwab darüber, wie die Tochter der surrealistischen Künstlerin Bele Bachem, die dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre, das künstlerische Erbe ihrer Mutter pflegt. Die Zeit hat Stefan Koldehoffs Gespräch mit dem Maler Peter Doig, der derzeit vor einem Gericht unter Beweis stellen muss, dass ein Gemälde nicht von ihm stammt, online nachgereicht. In der FAZ-Serie über schlechte Bilder guter Künstler befasst sich Hans Ulrich Gumbrecht mit Jackson Pollocks 1953 entstandenem Gemälde "Portrait and a Dream", mit dem der Künstler "tatsächlich einen Schritt in die Vergangenheit vollzogen [hat], nicht hin zu den entfernten Ruhmesepochen des mimetischen Malens wie Renaissance oder Barock, sondern hin zu einem Arrangement, das an den Surrealismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erinnert."

Besprochen werden eine Ausstellung von Mohamad Al Roumis Fotografien aus Syrien im Museum für Islamische Kunst in Berlin (Tagesspiegel) und die Manet-Ausstellung in Hamburg (Tagesspiegel).
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Literatur

Vor etwa einem Monat und ohne nähere Angabe von Gründen hat Google das Blog des Schriftstellers Dennis Cooper gelöscht und dazu trotz zahlreicher Kontaktaufnahmen (mehr dazu in diesem Interview) bislang nur in Form nebulöser Standardformulierungen geäußert (unsere Resümees). Für den Schriftsteller Clemens Setz nicht nur deshalb ein gewaltiges Unglück, weil er Cooper für einen in Europa völlig zu Unrecht unbekannten Autor hält, sondern auch, weil dieses Blog einer lebhaften Community Möglichkeit zum Austausch bot und inhaltlich ein blühender Garten gewesen ist. Setz schreibt in der taz: "Viele Künstler lieben die Cloud, und das zu Recht. Aber all das bedeutet nicht, dass sich das gigantische Datenwesen, das sich von unseren Erzeugnissen ernährt, auch in irgendeiner Weise für uns interessiert oder auf das Wohlergehen unserer Erzeugnisse achtet. Es kann sich ohne nachvollziehbare Motivation dazu entscheiden, unsere Kunst, unsere Welten und Museen, die wir mit seiner Hilfe errichtet haben, in einer Sekunde zu verschlucken und danach auf keine Anfragen mehr zu reagieren. Es besitzt das Recht der absoluten Gleichgültigkeit." Mittlerweile kommunizieren immerhin die Rechtsanwälte miteinander, wie dem auf Facebook eingerichtetem Newsticker zur Sache zu entnehmen ist.

Im Interview mit der NZZ erklärt die indische Autorin Shumona Sinha, die mit ihrem Roman "Erschlagt die Armen" bekannt wurde, über ihr Leben in Frankreich, über ihre Familie in Westbengalen und darüber, warum sie auf Französisch schreibt: "All die Dinge, die das Französische auszeichnen, es vom Englischen und vom Bengali unterscheiden, haben mich bezaubert: Die Unterscheidung zwischen maskulin und feminin, die Komplexität der Grammatik, die Schwierigkeit der Sprache - das war eine Herausforderung, der ich mich restlos hingab."

Weitere Artikel: Die Buchmesse in Turin steht vor dem Aus, berichtet Henning Klüver in der NZZ: Der Grund sind Veruntreuungs- und Manipulationsvorwürfe. Für die taz sprechen Manuela Heim und Claudius Prösser mit der Schriftstellerin Nell Zink. Im Tagesspiegel geben diverse Comicautoren Lesetipps für den Sommer. In der NZZ feiert Alain Claude Sulzer sein liebstes Ritual: Das Öffnen einer kühlen Flasche Weißwein Punkt sechs.

Besprochen werden Christian Frieß' Comic "Away from there" (Tagesspiegel), David Prudhommes und Pascal Rabatés Comic "Rein in die Fluten!" (taz), Bov Bjergs Geschichtenband "Die Modernisierung meiner Mutter" (SZ, mehr hier),Ramita Navais "Stadt der Lüge" (FAZ) und neue Hörbücher, darunter Bill Brysons "It's Teatime, My Dear! Wieder reif für die Insel" (taz).
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Architektur

Das Büro der im März verstorbenen Architektin Zaha Hadid setzt seine Arbeit in deren Namen fort, erfährt Laura Weissmüller. "Doch wie viel steckt dann von dieser Person in dem, was ihren Namen trägt", fragt sie sich in der SZ. "'Zaha und ich haben uns immer auf die neuen Projekte konzentriert', sagt Patrik Schumacher. Vom Projektteam kamen die Rahmendaten, dann wurde 'herumprobiert'. Zusätzlich gebe es ein 'riesiges Projektregister' mit ungebauten Ideen, aus denen man schöpfen kann. 'Ich skizziere, Zaha skizziert, kurz vor der Abgabe entscheiden wir uns.' Und schiebt hinterher: 'Jetzt meistens ich.' ... Die Maschine funktioniert. Seit Zaha Hadids Tod hat ihr Büro neun Wettbewerbe gewonnen."

Die NZZ hat in ihrer Beilage Literatur und Kunst heute ein großes Architektur-Spezial über sozial relevantes Bauen. Andres Lepik, Direktor des Architekturmuseums München, fordert einen "social turn" in der Architektur, wie ihn die Kunst schon seit 2006 propagiert: "Wie so oft scheint die Kunsttheorie der Architektur voranzugehen: Hier wurde der Begriff Social Turn schon 2006 durch einen Artikel von Claire Bishop im Artforum eingeführt. Die Architekten, die an sozial engagierten Projekten arbeiten, haben es noch nicht vermocht, eine gemeinsame Theorie zu formulieren. Darin liegt vermutlich das zentrale Problem für den Social Turn in der Architektur: Wenn es nicht gelingt, eine verbindliche Formulierung seiner Ziele und Methoden vorzulegen, wird seine Wirkungskraft wohl begrenzt bleiben."

Außerdem gibt es ein Interview mit dem chilenischen Pritzkerpreisträger Alejandro Aravena über die "Front" des sozial engagierten Bauens. Vittorio Magnago Lampugnani denkt über Moral und Architektur nach. Und Robert Kaltenbrunner stellt die urbanen Zukunftskonzepte von Jan Gehl vor.
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Musik

In der Jungle World stellt Sven Sakowitz Popmusik aus Tel Aviv vor. Im Logbuch Suhrkamp ist Thomas Meinecke lost in music von u.a. Mutter, Shalamar und Al Green.

Besprochen werden die Memoiren "Fotzenfenderschweine" der 2013 gestorbenen Musikerin Almut Klotz (taz), Vivien Goldmans "Resolutio­nary" (taz), Jens Balzers Buch "Pop - Ein Panorama der Gegenwart" (online nachgereicht von der Zeit), Elza Soares' "A Mulher do Fim do Mundo " (Pitchfork), Mary Lattimores und Jeff Zeiglers "Music Inspired by Philippe Garrel's Le Révélateur" (The Quietus), eine Vinyl-Neuauflage von Charles Mingus' Jazzklassiker "The Black Saint and The Sinner Lady" (The Vinyl District), der Auftakt des "A L'Arme"-Festivals in Berlin (Tagesspiegel) und ein Konzert von De La Soul (Tagesspiegel).

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Bühne


Thomas Adès, "The Exterminating Angel". Foto © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus

Thomas Adès' zur Eröffnung der Salzburger Festspiele uraufgeführte Oper "The Exterminating Angel" nach Luis Buñuels Film "Der Würgeengel" (1962) rasselt bei der Kritik gründlich durch. Bunuel verzichtete bewusst auf Musik, schreibt Ulrich Amling im Tagesspiegel, bei Adès hingegen "schwillt alles zu prallem Klangkamm, der mit großer Lust auch geklaut sein kann: Walzerschwadronen, die Strauß und Ravel verschlungen haben, sind gleich zur Stelle, wenn es einmal auf die Sinnlichkeit kommt im Salon. Man kann sich gar nicht daran erinnern, dass je ein Komponist ähnlich berauscht auf den tiefen Tönen seines Orchesters herumgeorgelt hat. ... Sauwohl fühlt sich Adès in seiner Musikwelt, die sich vom Salongeplänkel ungehindert schrill und hysterisch hochkatapultiert."

Scharfer Verriss auch von FAZ-Kritiker Jan Brachmann: Der Komponist verzettele "sich in einem unübersichtlichen Konversationsstück, in dem keine Themen verhandelt und keine Konflikte ausgetragen werden. Die Regie seines Librettisten Tom Cairns trägt wenig dazu bei, das Ensemble zu gliedern, die Figuren schärfer zu profilieren. Ein zweieinhalbstündiges Geplänkel von Marotten und Capricen tritt da thematisch auf der Stelle."

"Solide gemacht" findet FR-Kritiker Hans-Klaus Jungheinrich die Musik von Adès, wenngleich die surrealistische Endzeitparabel heute nicht mehr so recht verfange: In den Sechzigern bot sich Buñuels antibourgeoisem Furor noch Reibeflächen, doch "2016 hängt der Parabelcharakter weitgehend in der Luft, und vom Plot bleibt nicht viel mehr als ein merkwürdiger Fantasy-Faktor". Das macht auch Manuel Brug in der Welt zu schaffen: "Man schaut sich selbst zu - und ist begeistert. Buñuel-Film wie Adès-Oper halten einer Gesellschaft zwar den Spiegel vor. Die Salzach-Society aber freut sich nur unbeeindruckt und klatscht am Ende mit viel Enthusiasmus. Irgendwie scheint die Botschaft nicht angekommen, ist unter glattglänzender Oberfläche und handwerklicher Konvention erstickt."

In der NZZ versichert ein mäßig begeisterter Christian Wildhagen, dass die Oper doch "mehr bietet als ein leicht ins Kunstgewerbliche abrutschendes 'Remake' unter den Gesetzen einer anderen Gattung". "Immerhin eine Neuheit von respektabler Machart", meint Ljubiša Tošić im Standard. Außerdem: der Guardian hat sich mit Ades über dessen Oper unterhalten.

Weiteres: Manuel Brug hat für die Welt in Franken die Internationalen Gluck-Opernfestspiele besucht, wo er Glucks "Orfeo ed Euridice" hörte.
Archiv: Bühne