Efeu - Die Kulturrundschau

Kein Auge feucht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2014. Die Berliner Zeitung wirft beim "Art Hack Day" einen mitleidlosen Blick auf die Produktionsweisen der kreativen Klasse. Im Freitag erzählt Karl Ove Knausgård, wie ihn die Windeln seiner Kinder inspirierten. Die Zeit weint um unser Filmerbe. In der Presse geht Regisseurin Katie Mitchell mit Peter Handke bis zum dunkelsten Ende. FAZ und Welt sorgen in ihren Berichten über Charles Wuorinens neue Oper "Brokeback Mountain" für eine kognitive Dissonanz. Wir werfen zudem einen neuen Blick auf das großartigste Tor der letzten hundert Jahre.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2014 finden Sie hier

Literatur

Im Freitag führt Mikael Krogerus ein ausführliches Gespräch mit dem norwegischen Autor Karl Ove Knausgård, dessen in Romanform verfasste Alltagsprotokolle derzeit weltweit für einiges Aufsehen sorgen. Als Motivation für sein Projekt gibt er die Enttäuschung über sein Leben als Familienvater mit den damit einhergehenden Verpflichtungen an: "Ich wollte etwas Großes schreiben, wie Ulysses oder Moby Dick. Aber ich war gefangen im Kleinen, weil ich eine Familie hatte (...) irgendwann begann ich, darüber zu schreiben. ... Ich wollte so tief im Kleinen verschwinden, dass sich die großen Linien auflösen. Ich schrieb über Windeln wie Joyce über Dublin."

Deutsche Autoren - alles verwöhnte Bürgerkinder? Dirk Knipphals gibt in der taz Florian Kesslers Diagnose nur halb Recht: "Ich glaube jedenfalls, der klassische bildungsbürgerliche Weg für Professorentöchter und Richtersöhne besteht eher darin, mal ein paar Jahre in den Literaturbetrieb hineinzuschnuppern und dann doch was 'Richtiges' zu machen. Bei Stiftungen. In einer Redaktion. Oder auf einem Kulturamt." Da hängt nämlich der eigentliche "Hammer", so Knipphals.

Weiteres: In der NZZ informiert uns eine Meldung über einen tödlichen Literaturstreit im Ural: "Ein Streit zweier betrunkener Russen über die jeweiligen Vorzüge von Poesie und Prosa hat ein tödliches Ende genommen: Die Diskussion der beiden Männer eskalierte so sehr, dass der Poetik-Verfechter den Prosa-Fan erstach." Im Freitag schreibt Magnus Klaue über Luc Boltanskis Soziologie des Kriminalromans "Rätsel und Komplott", nicht ohne dem Autor einige Versäumnisse vorzuhalten. Im Perlentaucher hat Thekla Dannenberg das Buch für ihre Krimikolumne Mord und Ratschlag mit Gewinn gelesen.

Besprochen werden weiter Sasha Greys Roman "Die Juliette Society" (taz), Rafael Chirbes' Roman "Am Ufer" (Welt) und Arnold Zweigs Roman "Erziehung vor Verdun" (Freitag). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Kunst

Im Tagesspiegel wirft Jens Hinrichsen einen Blick auf das Programm der kommenden Transmediale, dem Festival für Medienkunst und digitale Kultur in Berlin. Für die Berliner Zeitung beobachtete Tilman Baumgärtel ein Projekt, das im Vorfeld der Transmediale gestartet wurde und dessen Ergebnisse während des Festivals zu sehen sein werden: Der "Art Hack Day", ein "Hacker-Marathon", bei dem knapp 80 internationale Künstler in 48 Stunden Kunstprojekte schufen: "So sitzen am Tag vor der Festival-Eröffnung in einer temporären Konstruktion aus Baugerüsten junge Menschen, deren Gesichter vom fahlen Schein ihrer Monitore erleuchtet werden, an mit Club-Mate-Flaschen und Hardware vollgemüllten Tischen. Das wirkt selbst fast wie eine künstlerische Installation, die einen mitleidlosen Blick auf die Produktionsweisen der kreativen Klasse unter den Bedingungen der speziellen Berliner Ökonomie werfen will: Hier wird in improvisierten Zusammenhängen und in kürzester Zeit produziert."

Außerdem: Ebenfalls in der Berliner Zeitung porträtiert Jonas Rest den Medienkünstler und Transmediale-Gast Trevor Paglen, der sich in seiner Arbeit mit den Aktivitäten der Geheimdienste auseinandersetzt. Auf Youtube finden wir Paglens Vortrag beim letzten Chaos Communication Congress:



Hannes Stein stellt in der Welt die Pläne für das New Yorker Ground Zero Museum vor: "Dieses Museum wird monumental, aber nicht gigantomanisch ausfallen; es wird würdevoll sein, aber nicht bombastisch." Und Peter Hagmann besucht für die NZZ noch einmal die für ihre Akustik berühmte Salle de musique von La Chaux-de-Fonds, bevor sie zwecks Renovierung ab März 2014 für ein gutes Jahr geschlossen wird.

Besprochen werden die Ausstellung "mensch raum maschine" im Bauhaus Dessau (taz) und eine Ausstellung mit Werken des Malers Francisco de Zurbarán im Brüsseler Palais des Beaux-Arts (Zeit).
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Musik

In der taz stellt Tim Caspar Boehme die elektroakustische Musik der Band Cyclobe vor, die heute in Berlin spielt (hier ein Hörbeispiel). Nana Heymann spricht im Tagesspiegel mit dem Rapper Marteria. Und Zeit-Autor Thomas Groß und Sängerin Judith Holofernes plauschen bei Apfelsaftschorle und Sojamilchtee über das neue Album von Holofernes, "Fragen der richtigen Lebensführung" und "Positionen des Zenbuddhismus".

Besprochen werden das neue Album von Broken Bells, das laut Jan Küveler in der Welt "mit Siebenmeilenstiefeln durch die späten Siebziger und frühen Achtziger" stapft (hier im Stream) und das Berliner Konzert der Babyshambles (Tsp/Welt),
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Film

In der taz findet Bert Rebhandl nur lobende Worte für Ashgar Farhadis "Le Passé": Dieser "besetzt den Raum zwischen der Tragödie und dem banalen Alltag und entfaltet sich dabei als analytisches Drama im besten Sinn." Im Perlentaucher bewundert Friederike Horstmann die handwerkliche Präzision des Films, findet aber auch Kritikwürdiges: Das Problem des Films "liegt gerade in dieser total durchkonstruierten Genauigkeit (...) Zu häufig schlägt sich hinterrücks in den Bildern eine allegorische Überzeichnung nieder. Die wirkt konstruiert, die Bilder ergrübelt, ihnen haftet allerlei Symbolhaftes an, so dass man sich mehr vieldeutig vergrabenes Halbwissen gewünscht hätte." Im Tagesspiegel bespricht Christiane Peitz den Film.

Will Ferrell hält als vertrottelter Nachrichtensprecher Ron Burgundy in "Anchorman 2" alle Feuilletons auf Trab. Simon Rothöhler beobachtet im Freitag hinter der "brusthaarfreundlichen Retroästhetik ein fast schon ernst gemeintes medienarchäologisches Projekt: Wie hat das nur alles angefangen - die Nonsens-Talkrunden auf dem Schreianfallsender Fox News, die albernen technischen Gimmicks, die Wolf Blitzer regelmäßig die Orientierung im virtuellen CNN-Studio verlieren lassen?" Im Perlentaucher konstatiert Lukas Foerster: Der Film ist "freilich und zum Glück nicht nur ein fernsehhistorisches Traktat, sondern gleichzeitig eine wieder einmal besonders schön durchgeknallte Will-Ferrell-Komödie." Den an TV-Comedy geschulten Sketchwitz findet David Assmann im Tagesspiegel zwar gelegentlich etwas störend, doch "insgesamt wirkt der Fernsehhintergrund der Beteiligten durchaus erfrischend". Weitere Besprechung finden wir in der Welt, in der taz und im Standard.

Für die Zeit besuchte Katja Nicodemus die Kinemathek in Berlin um herauszufinden, wie es hierzulande um das Filmerbe bestellt ist und erfährt von Kinemathek-Leiter Rainer Rother: "Für eine regelmäßige Digitalisierung der deutschen Kinogeschichte gibt es bisher so gut wie keine finanziellen Mittel und erst recht keine längerfristige Perspektive". Sagen Sie schon mal Adieu zu Papsts "Tagebuch einer Verlorenen"!

Weitere Artikel: Ferial Kasmai porträtiert im Deutschlandradio Kultur die iranische Filmemacherin Mania Akbari, die im Exil in London lebt. Hanns-Georg Rodek unterhält sich in der Welt mit Volker Schlöndorff, dessen Film "Baal" - in der Hauptrolle: Rainer Werner Fassbinder - auf der kommenden Berlinale erstmals seit 44 Jahren gezeigt wird.

Besprochen werden Thomas Siebens "Staudamm" (Tsp), eine DVD von Alain Robbe-Grillets "Eden und danach" (taz), das Mandela-Biopic (Welt), "47 Ronin" mit Keanu Reeves (Welt), Alain Gsponers Film "Die Akte Grüninger" (NZZ) und Nicole Holofceners Romcom "Enough Said" mit Toni Colette (NZZ).

Dem Berliner Publikum legt Lukas Foerster in der taz außerdem eine Filmvorführung des raren "Cover Girls" von José Bénazéraf am kommendem Samstag wärmstens ans Herz: "Im Kern ist 'Cover Girls' kein Erzählkino, eher eine freiformatige, strukturell dem Jazz verwandte Reflexion über Macht, Kunst und Sinnlichkeit - die ein paar besonders schöne Minuten lang auch einen Abstecher in das Westberlin der 1960er unternimmt."
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Bühne

In einem Interview mit der Presse erzählt die britische Regisseurin Katie Mitchell, warum sie Peter Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück" für das Burgtheater-Casino in Wien inszeniert: "Handke schreibt so juristisch, so scharf über kleinste, auch intimste Details. Etwa wenn er beschreibt, wie die Mutter sich vor ihrem Selbstmord die Menstruationshose und noch ein paar Windeln anzieht und sich mit einem Kopftuch das Kinn zubindet. Hätte meine Mutter das gemacht, hätte ich diese Details wirklich niedergeschrieben?!"

Kalt gelassen hat Manuel Brug in der Welt die Uraufführung von Charles Wuorinens Oper "Brokeback Mountain" am Teatro Real: "Seine Cowboys jenseits der Norm lässt er allzu nüchtern und umständlich in zwei pausenlos zweistündigen Akten ihre Liebe erleben und kaum ausleben. ... Da wächst nichts, keine Liebe und keine Vertrautheit, aber auch kein Unbehagen an diesen verlogenen Verhältnissen." Das Publikum, meint er, empfand es genauso: "Der pflichtschuldige Applaus offenbarte: Im liberalen Madrid vermochte 'Brokeback Mountain' als Musiktheater kein Herz zu rühren, kein Auge feucht werden zu lassen."

Eleonore Büning hörte das in der FAZ etwas anders: Die Musik sei manchmal etwas statisch, am Ende aber "ganz großes Kino". Auch sie glaubt das Publikum auf ihrer Seite: "Gut zwei Stunden, keine Pause. Jubelstürme."

Im Video erklären Sänger, Regisseur, Komponist und Dirigent - auf Englisch - in knapp fünf Minuten ihr Konzept für die Oper:



Besprochen werden René Polleschs "Hinein! Hinein! Ich atme euch ein" in Zürich (Freitag),

Außerdem: Kurz nachdem er die "Hand Gottes" betätigte, schoss Diego Maradona im Jahr 1986 gegen die Engländer ein Tor, das als das großartigste Tor des Jahrhunderts in die Geschichte einging. Auf Youtube wurde nun neues Videomaterial präsentiert, das zeigt, warum dieser Ehrentitel gerechtfertigt ist - und das anmutet wie die (Wunsch-)traumsequenz eines A-Jugendlichen, der einmal mal groß rauskommen will. (Via slate.fr)

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