Efeu - Die Kulturrundschau

Zuckerrohr, Melone und Mispel

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12.01.2023. Der Standard würdigt das Dilemma des schwarzen Moderators Jerrod Carmichael als Diversity-Aushängeschild die nach wie vor sehr weißen Golden Globes zu präsentieren. Und Frauen wurden mal wieder nur als Darstellerinnen gewürdigt, ärgert sich der Tagesspiegel, der dafür mit großer Begeisterung die in Leipzig geborene mexikanische Malerin Olga Costa vorstellt. Die NZZ porträtiert die spanisch-schweizerische Choreografin La Ribot, die mit zeitgenössischem Tanz verschreckt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.01.2023 finden Sie hier

Film

Die Verleihung der Golden Globes strahlte in diesem Jahr die zuversichtliche Rückkehr zu Glam und Relevanz aus. Auch gab man sich geläutert: Die die Verleihung ausrichtende (und nicht eben als seriös geltende) Hollywood Foreign Press Association (HFPA) hatte in den letzten Jahren mit einigen Skandalen und Defiziten zu kämpfen, Vorwürfe von Korruption und mangelnder Diversität standen im Raum. Ein neuer Investor hat das Rad nun - zumindest an der Oberfläche - herumgerissen und etwa die Bestechlichkeit eingedämmt. Auch "waren nun die Stimmberechtigten offenbar diverser, was jedoch bei den Nominierungen kaum ins Gewicht fiel", schreibt Valerie Dirk im Standard. "Dass er das eigentliche Diversity-Aushängeschild war, war dem afroamerikanischen Moderator Jerrod Carmichael mehr als bewusst. Ich bin hier, weil ich schwarz bin, waren die ersten Worte seiner Eröffnungsrede. Darin nahm er sich Gastgeber HFPA vor: 'Ich würde nicht sagen, dass sie rassistisch sind, aber sie hatten kein einziges schwarzes Mitglied, seitdem George Floyd gestorben war. Tun sie mit dieser Information, was immer sie wollen. In einer Minute macht man sich Minztee zu Hause, in der nächsten wird man gefragt, ob man das schwarze Gesicht einer angeschlagenen weißen Organisation sein möchte.'"


In den letzten Jahren ging Hollywood auf Abstand zu den Globes, jetzt stand der Kurs erneut auf großes Kuscheln. Alles nur wegen der neuen Regeln gegen Korruption und für Diversität? "Die Wahrheit ist wohl eher, dass Hollywood nach einem Jahr der Abstinenz gemerkt hat, wie faustisch dieser uralte Pakt mit diesen ausländischen Wichtigtuern doch ist und wie wenig es daraus ein Entkommen gibt", kommentiert Tobias Kniebe in der SZ. "NBC zum Beispiel musste feststellen, dass langjährige Verträge leider auch inmitten von Shitstürmen gelten und dass man der HFPA Jahr für Jahr 62,5 Millionen Dollar rüberschieben muss, ob man nun etwas sendet oder nicht. Und die Stars der Stunde, besonders jene des Fernsehens, vermissten dann doch bitter das Rampenlicht, die öffentliche Wiedergutmachung, die atemlose Stinkefinger-Dankesrede an alle Zweifler und hochnäsigen Nachbarn und überhaupt."

Der zwischen Arthaus und Blockbuster changierende Abend hatte "viel von bewährter Manier", kommentiert Christiane Peitz im Tagesspiegel. Und das auch durchaus im Schlechten: Die Preise gingen in erster Linie an Männer. "Durften sie mal ran in den mit Blockbustern dünn gesäten Pandemiejahren, so wie die Frauen in den Kriegs- und Krisenzeiten des 20. Jahrhunderts den Laden am Laufen hielten? Und jetzt, wo wieder die unbarmherzige Profitorientierung dominiert, stehen wie gehabt die Männer vorne, außer natürlich bei den Darstellerinnenpreisen für Blanchett und Michelle Yeoh? Die Branche behauptet Diversität, löst sie hier und da auch ein, und geht gleichzeitig auf Nummer Sicher." Julia Lorenz von ZeitOnline fand den Abend immerhin ganz manierlich: "Für ein paar Momente ist alles, wie es sein sollte bei dieser Show in Beverly Hills: leicht und doof und glitzernd unterhaltsam."

Sehnsucht nach janz weit draußen: "Berlin JWD"

Themenwechsel: Fährt der Berliner nach JWD, dann geht es nach "janz weit draußen", also fast schon bis nach Brandenburg - für die notorisch am eigenen Kiez klebenden Berliner also fast eine Weltreise. "Berlin JWD" heißt auch Bernhard Sallmanns Essayfilm über in ihrer Tristesse wieder sehr reizvolle Orte in den Berliner Außenbezirken. Zu sehen gibt es mitunter "allerlei Gebilde aus Stahl und Beton, oft malerisch am Berliner Gewässer gelegen", schreibt Olga Baruk im Perlentaucher, "ein Zeugnis Berliner Vielfalt, eine Bild gewordene Schichtung der Zeit. Die kommentarlosen Aufnahmen sind ein Angebot, eine Auswahl realer Zeiträume, die je nach Lust betreten werden können. Bilder, die weniger geformte Gedanken oder Statements sind, als Blicke eines Zeitgenossen, der das Naheliegende meidet und Erholung jenseits ausgetretener Pfade sucht. Das Glück unfreiwilliger Entdeckungen."

Weiteres: In der taz empfiehlt Fabian Tietke eine im Berliner Zeughauskino gezeigte Retrospektive mit den Filmen des Dokumentarfilmers Bernhard Sallmann. Jürgen Moises legt den Münchner SZ-Lesern eine "Carte Blanche" im Münchner Werkstattkino für den Schweizer Filmemacher Clemens Klopfenstein  ans Herz.

Besprochen werden Ali Abbasis "Holy Spider" (Perlentaucher, FR, critic.de, mehr dazu bereits hier), Bernhard Sallmanns Essayfilm "Berlin JWD" über Orte abseits des Hauptstadtglamours in den Berliner Außenbezirken (Perlentaucher), Felix Van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs "Acht Berge" (taz), Dominik Molls Thriller "In der Nacht des 12." (taz, Tsp), Emmanuel Gras' Dokumentarfilm "Revolution - Aufstand der Gelbwesten" (SZ), und Gerard Johnstones Horrorfilm "M3gan" (ZeitOnline). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
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Kunst

Olga Costa, "La vendedora de frutas", 1952. Museo de Arte Moderno, Mexiko


Susanne Altmann stellt im Tagesspiegel mit Begeisterung die modernistische Malerin Olga Costa vor, deren Werk derzeit in einer Ausstellung im MdbK Leipzig zu bewundern ist. Costa, geboren 1913 als Olga Kostakowsky in Leipzig, 1925 mit ihrer Familie ausgewandert nach Mexiko, konnte sich auch deshalb als mexikanische Malerin erfinden, weil die Mexikaner kein Problem hatten, die Frau aus Deutschland als eine der ihren zu akzeptieren und sie wiederum das künstlerische Manifest "der propagandasatten Wandmalerei" von David Alfaro Siqueiros, Diego Rivera und Jose Clemente Orozco verinnerlichte: Rückbesinnung auf Traditionen, statt Fortschritt. "Für Olga Costa waren diese Direktiven stilprägend. Sowohl ihre statuarischen Frauengestalten wie auch üppige, ornamentale Arrangements aus Früchten berufen sich auf Elemente und Farben der lokalen Folklore. In der Obsthändlerin, 'La vendedora de frutas' (1951) verschmelzen beide Themen zu einem sinnlichen Fest. Denn es galt, nicht nur die kulturelle Selbstbestimmung Mexikos ins Bild zu setzen, sondern auch den bisher errungenen Wohlstand. In dieser sonnigen, agrarischen Region wurden Feldfrüchte wie Zuckerrohr, wurden Melone und Mispel zu Nationalsymbolen. Als patriotische Ikone kam das zwei mal zweieinhalb Meter große Auftragswerk rascher zu Weltruhm als seine Urheberin." In monopol schildert Sarah Alberti den Werdegang der Künstlerin.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Lucia Moholy - Das Bild der Moderne" im Berliner Bröhan Museum (taz), die Ausstellung "ole scheeren : spaces of life" im ZKM Karlsruhe (Tsp) und die Ausstellung "Die Maler des Heiligen Herzens" mit Werken von Séraphine Louis, Louis Vivin, André Bauchant und Camille Bombois im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum (taz).
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Bühne

Lilo Weber porträtiert in der NZZ die spanisch-schweizerische Choreografin La Ribot, die in der Filmkomödie "Last Dance" einen alten Mann mit zeitgenössischem Tanz erschreckt: "La Ribot machte konzeptionelle Tanzkunst, bevor der Trend aus Frankreich die Schweiz erreichte. Sie fing auch früh an, mit Video zu experimentieren. Nun tritt sie mit ihrem Ensemble in 'Last Dance' auf und spielt sich selbst: als die radikale Künstlerin, die sie geblieben ist. ... Ihre erste Serie sind die '13 Piezas distinguidas' - was sich vieldeutig als 'erkennbare, herausragende, andersartige, berühmte Stücke' übersetzen lässt. Es sind Soli, zwischen dreißig Sekunden und sieben Minuten lang, in denen La Ribot nackt auftritt, mit Klamotten aus dem Secondhandshop, aber auch mit Alltagsgegenständen und mit Musik. Und vor allem mit ausgedehnten Momenten der Stille. Die Soli unterminieren Frauenbilder aus Kunst und Literatur und hinterfragen den konkreten Ort der Frau in der Gesellschaft."

Hier eins davon:



Merle Krafeld schreibt im Van Magazin über Jay Scheibs Inszenierung eines digital erweiterten "Parsifal" in Bayreuth, die sie ziemlich sinnlos findet, weil nur einem Bruchteil des Publikums die dafür nötigen VR-Brillen zur Verfügung gestellt werden.
Archiv: Bühne

Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Annie Ernaux' "Der junge Mann" (NZZ), Isabel Peterhans' und Simon Schönetts digitaler Comic "Kein Himmel, kein Traum, Tagesmusik" über die Geschichte des Jenischen (Standard), Jeremy Adlers Goethe-Biografie (Tsp), Eva Müllers Comic "Scheiblettenkind" (Tsp), Marcel Prousts "Die fünfundsiebzig Blätter und andere Manuskripte aus dem Nachlass" (Tsp), Julius Meier-Graefes "Der Kampf ums Schloss" (Tsp) und Tanya Pyankovas "Das Zeitalter der roten Ameisen" (FAZ).
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Musik

Zu Barenboims Rücktritt von seinem Posten als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper gab es vor allem Spekulationen zu dessen Nachfolge (unser Resümee). Auch Hartmut Welscher macht sich dazu viele Gedanken (wird es Thielemann?), wagt sich im VAN-Magazin aber auch an einen künstlerischen Nachruf auf die Epoche Barenboim, die mit ihren über dreißig Jahren auch die Entwicklung Berlins von der verwelkten Mauerstadt samt brach liegendem Osten zur internationalen Metropole umfasst. So wurde Barenboim an die Spree "geholt, um aus der Staatsoper Unter den Linden einen neuen Leuchtturm zu machen." Und unter ihm "wurde die Staatskapelle in den letzen dreißig Jahren wieder zu einem der renommiertesten Opern- und Konzertorchester der Welt, und einem der bestbezahlten Deutschlands. ... Zur Singularität Barenboims gehört, dass sich kein klassischer Musiker vor ihm - und wahrscheinlich auch keiner nach ihm - so sehr in der baulichen und institutionellen Infrastruktur einer Stadt verewigt hat." Mit der Folge allerdings, dass Barenboims Vertrag mehr und mehr unaufkündbar schien: Immer klarer wurde, "dass Barenboim sich eigentlich nur selbst aus dem Spiel nehmen konnte. Kein Politiker, so schien es, wollte als Denkmalstürmer in die Geschichte eingehen."

Außerdem: Olivia Giovetti hat sich für das VAN-Magazin durch 75 Aufnahmen von Schuberts Winterreise gearbeitet und ist sich danach kaum noch sicher, sich in dem Werk überhaupt noch auszukennen. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Modesta Sanginés Uriarte und dort über Florence Aylward. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Frankfurter Jazzkeller zum siebzigjährigen Bestehen. Stefan Krieger schreibt in der FR einen Nachruf auf den Gitarristen Jeff Beck.

Besprochen werden Cordula Kablitz-Posts Kino-Dokumentarfilm "FCK 2020" über die Kirmes-Technoband Scooter während der Pandemie (taz, Standard), die erste Komposition "Anklänge" des Violinisten Andreas Staier (VAN), ein Konzert der Berliner Staatskapelle unter Cristian Măcelaru, der für Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz schon mal als Barenboim-Nachfolger ausscheidet, und Camilla Nylunds neues Album mit Aufnahmen aus dem Great American Songbook (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Musik