Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Erschütterung, noch nicht das Ende

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26.10.2022. Die taz erlebt mit Mona Hatoum, wie ein Gigant in die Knie geht. Die Zeit porträtiert den Leipziger Künstler Lutz R.Ketscher, der für seine Wandbilder 1.200 Ostmark pro Quadratmeter verdiente.  Die SZ entdeckt mit der Regisseurin Saralisa Volms eine neue Märchenerzählerin im Land. Der Standard beobachtet Jarvis Cocker fasziniert beim Ausmisten seiner Dachkammer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.10.2022 finden Sie hier

Kunst

Mona Haotum: All of a quiver. Foto: KINDL

Einen "Minimalismus der Beklemmung" erlebt taz-Kritiker Tom Mustroph in den drei Ausstellungen, die in Berlin gerade das Werk der britisch-palästinensischen Künstlerin Mona Haotum zeigen. Zum Beispiel die neunstöckige Gitterkonstruktion "All of a quiver" im Kunstzentrum Kindl: "Mal steht das Metallgestänge aus einer Vielzahl schwarzer Quadrate aufrecht, als sei es eine Reminiszenz an die weißen Würfelkompositionen des Konzept- und Minimalkünstlers Sol LeWitt. Dann beginnen plötzlich die unteren Stangen nachzugeben. Sie knicken ein, rasselnd und quietschend, ein Gigant fällt in die Knie. Doch noch bevor der gesamte Koloss zusammenbricht wie ein mittelalterlichen Ritter unter der zu schweren Rüstung, richten Motoren das Gebilde wieder auf. Es war nur eine Erschütterung, noch nicht das Ende." Weiteres Werke sind im Neuen Berliner Kunstverein und im Georg-Kolbe-Museum zu sehen.

Lutz R. Ketscher: Seilfahrt, 1985. Die Kunstsammlung der Wismut. Bild: Neue Sächsische Galerie

In der Zeit porträtiert Carolin Würfel den ostdeutschen Künstler Lutz R. Ketscher, der zur zweiten Generation der Leipziger Schule gehörte, die nicht mehr für den Sozialismus brannte, aber auch nicht in Freiheit loslegen konnte. Sonder im Verband Bildender Künstler aufgenommen werden musste, um arbeiten zu können: "Eine Honorarverordnung lautete beispielsweise, dass man 1.200 Ostmark pro Quadratmeter Wandbild bekam. Ökonomisch gesehen seien das utopische Bedingungen gewesen. Fragt man Ketscher, wie es ihm in der DDR finanziell ging, bestätigt er das Bild, das Kaiser entwirft. Es habe Monate gegeben, in denen Ketscher mehr verdient habe als das Staatsoberhaupt Erich Honecker. Das ging natürlich nur mit Aufträgen. Eine private Kunstgalerie zu betreiben war verboten. Ketscher sagt: 'Die feudale Auftragskunst, die die DDR betrieben hat, davon haben wir natürlich gut gelebt, aber damit haben sie uns auch unter Kontrolle gehalten.' Er verdiente sein Geld vor allem mit Porträts und Wandbildern. Die freie Kunst blieb in der Schublade, auch wenn er versuchte, seinen eigenen Blick in die Aufträge einzuschreiben.

Weiteres: In der NZZ resümiert Marion Löhndorf britische Reaktionen auf die Attacken der Klimaaktivisten gegen van Gogh und Monet. In der FR stöhnt selbst Ingeborg Ruthe über die Aktionen, die stichflammenartige Erregung provozieren und dabei "den falschen Baum anpinkeln": "Mittlerweile wird der infantile ideologische Aktionismus immer aggressiver." Peter Richter schreibt in der SZ zum Tod des kanadischen Konzeptkünstlers Rodney Graham. Mehrere Medien, darunter der Tagesspiegel, bringen eine dpa-Meldungen, in der sich Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der künftige Intendant des Hauses der Kulturen der Welt, gegen Vorwürfe wehrt, die ihn in BDS-Nähe rücken. Nicht klar wird, wer die Vorwürfe erhebt.
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Film

Henriette Confurius im schweigenden Wald

In Saralisa Volms Regiedebüt "Schweigend steht der Wald", einer Adaption von Wolfram Fleischhauers Thriller gleichen Namens, geht es um "die Mechanismen kollektiven Verdrängens", schreibt Sofia Glasl in der SZ. Im Oberpfälzer Wald deckt eine junge Frau mit dem sprechenden Namen Anja Grimm dunkle Geheimnisse auf. Der Film "baut geduldig ein Unbehagen beim Zusehen auf", mit Volms "beeindruckend selbstsicherem Regiedebüt" lässt sich gar "eine neue Märchenerzählerin im Land" ausrufen: Der Film "ist immer dann besonders effektiv, wenn die Symbolebenen ineinander verschwimmen. Die assoziative Bildsprache zwischen mikroskopischen Naturaufnahmen und Erinnerungsfetzen aus Anjas Kindheit beschwört unaussprechliche Dämonen, die nicht nur mit Anjas eigener Geschichte zu tun haben. So deutet sie Zusammenhänge an, die unterhalb der Ebene des Erzählbaren liegen."

Außerdem: David Schmitz ärgert sich in der SZ darüber, dass die Netflix-Serie "The Crown" künftig wohl mit einem Warnhinweis versehen wird, dass die gezeigten Schilderungen von der jüngeren Geschichte des britischen Königshauses lediglich inspiriert sind, aber nicht in allen Details der Wahrheit entspricht. Andreas Mayer wirft für den Standard einen Blick auf das Leben und Werk von Werner Herzog, der in diesen Tagen die Viennale mit einem Besuch beehrt. Denise Jeitziner wirft für den Tagesanzeiger einen Blick auf die in den USA geführte Debatte, ob es legitim ist, wenn Dünne Dicke mittels eines Fatsuits spielen.

Besprochen werden die ZDF-Reihe "Himmel und Erde" mit Kurzfilmen ukrainischer Filmschaffender im deutschen Exil (FAZ), die zweite Staffel der Netflix-Serie "Barbaren" (SZ), die Serie "The Bear" (Zeit), die Arte-Doku "Das Rote Imperium" über die Geschichte der Sowjetunion (FAZ), die 3sat-Doku-Reihe "Futur Wir" (taz) und die "Star Wars"-Serie "Geschichte der Jedi" (Welt).
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Literatur

In einem ziemlich zeternden taz-Kommentar hält Franz Alt es für einen "Skandal", dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan an einen "Völkerhasser" gehe. In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem die Ezra-Pound-Ausstellung "Make It New" im Palais Mamming im italienischen Merano, die auch den Antisemitismus des Schriftstellers zum Thema macht (SZ), Robert Menasses "Die Erweiterung" (NZZ), eine Ausstellung in Weimar über Ottilie von Goethe (FR), Milena Busquets' Verlorene Freundin" (FR), Helga Schuberts neuaufgelegter Debüt-Erzählungsband "Lauter Leben" (SZ) und Linde Rottas Erzählungsband "Disteln und Ginster" (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden Leander Haußmanns Inszenierung von "Einer flog über das Kuckucksnest" am inklusiven Rambazamba-Theater in Berlin (SZ), Marco Goeckes Choreografie "A Wilde Story" in Hannover (deren Witzlosigkeit FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster furchtbar gelangweilt hat), Martin Schläpfers "Dornröschen"-Ballett an der Wiener Staatsoper (Standard) und Michael Thalheimers "Fliegender Holländer" an der Hamburger Staatsoper (NMZ).
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Musik

Viel Freude hat Standard-Kritiker Christian Schachinger mit "Good Pop, Bad Pop", der Autobiografie des Pulp-Sängers Jarvis Cocker, die sich anders als gängige "Musikerautobiografien eben nicht über diversen Drogen- und Sexualpartner-Missbrauch und Small Talk mit David Bowie unter besonderer Berücksichtigung von Sir Elton John hin zu heutiger Altersweisheit und etwaigem veganen Lebensstil" hangelt, sondern beim Ausmisten der Dachkammer des notorischen Messies quasi nebenbei entstanden ist und sich anhand mehr oder weniger banaler Objekte erzählt: "Bei Jarvis Cocker finden sich unter dem Dach alte Kaugummis, als es diese noch in Streifenform gab, Seifenreste, klappernde Aufzieh-Plastikgebisse oder eine alte E-Gitarre." Und "es werden in diesem mit zahlreichen Tatortfotos des Hobbyarchäologen und Autoren behübschten Buch auch diverse brüllbunte Polyesterhemden und Schlaghosen auftauchen. ... In einer offenbar durchdeklinierten Popwelt wird die Kunst des Zusammenfügens und der Neuordnung offensichtlich nebensächlicher Dinge, die die Welt schon vor 30 Jahren so dringend brauchte wie noch einen weiteren Pfarrgemeinde-Flohmarkt, zur eigentlichen Kunst."

In der NZZ kann Jean-Martin Büttner die einhellige Begeisterung, auf die Taylor Swifts neues Album "Midnights" (unser Resümee) vor allem in englischsprachigen Medien trifft, überhaupt nicht nachvollziehen: "Das Lob kommt einem vor wie eine Ansammlung von Behauptungen. Es stimmt, dass die stilistische Vielfalt beeindruckt, mit der die Sängerin wieder operiert. Und es klingt atmosphärisch stimmig", doch "man hört die Gefühle nicht, die sie besingt, weder die Zweifel noch die Ängste noch den Selbsthass. Denn die meisten ihrer neuen Stücke klingen steril bis zur Leblosigkeit, sie kommen einem vor wie vakuumverpackt, die Musik hat etwas Mechanisches. Taylor Swifts Elektropop in Technicolor, der so vielen Fans gefällt, er klingt seelenlos." Gestern ging ihr neues Video online, in dem sie sich selbst als Aschenputtel inszeniert:



Außerdem: Nach Kanye Wests jüngsten antisemitischen Ausfällen hat Adidas die Zusammenarbeit mit dem Rapper beendet, berichtet die Welt. Gut so, kommentiert dies Nadine Lange im Tagesspiegel. Wer auf der Suche nach der "Zukunft des schwedischen Pop" ist, sollte sich für Oskar Ekmans Stockholmer Label Year0001 interessieren, schreibt Louisa Zimmer in der taz. In der FR gratuliert Bernhard Uske Wolfgang Rihm zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert des Cäcilienchors Frankfurt (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Fehlfarben-Album "?0??" ("musikalisch wieder entschieden mehr Feuer unter dem Dach", findet Standard-Kritiker Christian Schachinger).

Archiv: Musik