Efeu - Die Kulturrundschau

Mit gut gestopfter Pfeife

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11.02.2019. Offenbar zahlt Düsseldorf dafür, dass die Kölner eine derart bizarre Kulturpolitik machen, glaubt Milo Rau im Kölner Stadtanzeiger mit Blick auf das Debakel um die Neubesetzung der Intendanz des Schauspiels Köln. Zahlen möchte das Innenministerium für den von ihm ausgelobten Architekturpreis für Geschosswohnungsbau lieber nicht, meldet die SZ. Für das britische Buchgeschäft könnte der Brexit nicht besser laufen, weiß die NZZ. Und die Zeitungen schreiben Nachrufe zum Tod des Anarchisten und Karikaturisten Tomi Ungerer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.02.2019 finden Sie hier

Bühne

Scham und Wut überkommt Milo Rau im Kölner Stadtanzeiger mit Blick auf das jüngste Debakel um die Neubesetzung der Intendanz des Schauspiels Köln (Unser Resümee): "Das Gewurstel um den neuen Intendanten ist der für das Image der Kulturstadt Köln zerstörerischste Schlag der letzten Jahre. Er zeugt von einer derart bizarren Unkenntnis des kulturellen Feldes, dass von 'Kulturpolitik' gar nicht mehr die Rede sein kann. Würde man nicht dank des 'Kulturentwicklungsplans' wissen, dass das Kölner Kulturdezernat einfach keine Ahnung hat, was es tut, so könnte man annehmen, sie würden von Düsseldorf oder gar New York bezahlt, um 'The Cologne Challenge' möglichst klein zu halten. Natürlich ist das Schauspiel Köln nur eines von vielen Beispielen: Die 'Akademie der Künste der Welt' etwa wurde, als sie sich gerade etablieren wollte, zu einer nomadischen Institution degradiert, die jährlich um die weitere Förderung betteln muss. Der Erweiterungsbau des Wallraf-Richartz-Museums wurde so lang durch das Verschleppungskarrussell der Kölner Politik geschickt, bis die für den Bau eigentlich vorgesehenen Bilder zurückgezogen wurden."

Szene aus "Bericht an eine Akademie. Bild: Ute Langkafel
Mäßig begeistert kehren die TheaterkritikerInnen aus Oliver Frljićs zweitem Stück am Berliner Gorki Theater zurück, für das der Regisseur Kafkas "Bericht für eine Akademie" mit J. M. Coetzees "Costello"-Monolog mixt, um Kafkas Kritik an der erzwungenen Assimilation der Juden an die nichtjüdische Gesellschaft mit den Themen "Konzentrationslager und Massentierhaltung" kurzzuschließen. Peinlich, meint Nachtkritiker Christian Rakow, hebt aber die Leistung der Schauspieler, allen voran Jonas Dassler (der gerade auch in Fatih Akins "Der Goldene Handschuh" zu sehen ist, als Rotpeter, hervor: " Mit gut gestopfter Pfeife im Ledersessel vor riesiger Bücherwand zaubert er Noblesse her. Dann wieder packen ihn die äffischen Instinkte, er zuckt, federnd überspringt er Hindernisse, zügelt sich, enthemmt sich, verschenkt sich, mäßigt sich."

In der FAZ hat Simon Strauss noch ein ganz anderes Problem mit der Inszenierung: "Während um den Blick auf den weiblichen Körper zu Recht viele vorsichtige Gedanken kreisen, wird der männliche Körper selbstverständlich und schutzlos ausgestellt. Hier muss er nackt an der Rampe stehen und mit der Wendung 'aus kleinen Verhältnissen' auf sein eingeschüchtertes Geschlechtsteil verweisen." Das Stück "verfängt nicht", meint Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Ivan Panteleevs Inszenierung von Wolfram Hölls "Disko" in Leipzig (nachtkritik, FAZ), das Stück "Schaffen" des Kollektivs Technocandy am Theater Oberhausen (nachtkritik), Elsa-Sophie Jachs Inszenierung von Sean Kellers "Sommer" am Wiener Schauspielhaus (nachtkritik), Laurent Pellys Inszenierung der "Lucia di Lammermoor" an der Wiener Staatsoper (Standard), Katrin Hammerls Inszenierung von Viktor Ullmanns Oper "Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung" in Basel (NZZ),  Simon Solbergs "Herakles" am Volkstheater München, eine von Simon Rattle dirigierte konzertante Aufführung der "Walküre" in München (SZ), Christophe Rousset und Jetske Mijnssens Inszenierung "La divisione del mondo" von Giovanni Legrenzi in Straßburg (FAZ).
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Architektur

Dass zu den unzähligen - deutschen - Architekturpreisen nun auch eine Auszeichnung für Geschosswohnungsbau kommt, findet Gerhard Matzig in der SZ überfällig. Die Sache hat nur einen Haken: Die Preisträger müssen das vom Callwey Verlag zusammen mit der Bundesstiftung Baukultur als Stiftung des öffentlichen Rechts und dem Bundesinnenministerium sowie der Immobilienmesse Expo Real ausgelobten "Winner-Package" für 4900 Euro selbst zahlen, erklärt Matzig: Es "stellt sich die Frage, wie das Innenministerium, das sich ja besonders und ausweislich all der Sonntagsreden von Horst Seehofer dem Wohnungsbau verpflichtet fühlt, sowie die von öffentlichem Geld lebende Bundesstiftung Baukultur an einem verdienstvollen Projekt beteiligen können, ohne diesen Preis gemäß seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung auskömmlich auszustatten?"
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Kunst

Der französische Zeichner, Karikaturist und Kinderbuchautor Tomi Ungerer, bekannt geworden vor allem durch seinen subversiven Band "Fornicon" mit erotischen Karikaturen und Kinderbücher wie die "Die drei Räuber" ist im Alter von 87 Jahren gestorben. In der SZ erinnert sich Roswitha Budeus-Budde: "Es machte ihm höllischen Spaß, als Anarchist seine Umgebung zu schockieren, die Provokation war seine Lebensstrategie. Bei einer Tagung für Sozialpädagogen, die vor 20 Jahren in der Internationalen Jugendbibliothek in München stattfand, ging er einmal vor der Moderatorin auf die Knie und bat sie um ein Kind. Das halbe Auditorium flüchtete. Bei einer Begegnung mit ihm, in den 90er-Jahren, gab es nur zwei Möglichkeiten auf seine verbalerotische Begrüßungsattacke zu reagieren: Entrüstung oder Gegenangriff."

Auf Spon schreibt Arno Frank: "Das Glück seiner frühen Jahre war, dass es kein Internet gab. Freier Künstler, PR-Experte, Satiriker, Kinderfreund, Pornograf - es waren alle möglichen Leben nebeneinander möglich, ohne einander ins Gehege zu kommen. Einer rigorosen Prüfung durch die Gesinnungstechniker vom neopuritanischen TÜV unserer Zeit würde sein Werk nicht standhalten." Weitere Nachrufe in FAZ, taz und Berliner Zeitung.

Weitere Artikel: Bereits im letzen Jahr startete Nan Goldin eine Kampagne gegen die Mäzenatenfamilie Sackler, die mit dem Schmerzmittel OxyContin mitverantwortlich für die Opioid-Krise in den USA ist. (Unsere Resümees). Die von Goldin gegründete Aktionistengruppe Prescription Addiction Intervention Now (PAIN) fordert Museen und Kulturinstitutionen auf, den Namen Sackler aus den von der Familie unterstützten Projekte zu streichen. Jetzt forderte Goldin in dem im Guggenheim eröffneten Sackler Center for Arts Education, die Familie solle wegen Mordes angeklagt werden, wie Artnews meldet.

Besprochen werden die Ausstellungen "Ties, Tales and Traces. Dedicated to Frank Wagner, Independent Curator" in der Berliner Galerie Kunst-Werke (taz) und die Ausstellung "Fünfhundert Jahre Meisterzeichnungen" mit Werken aus dem Puschkin-Museum in der Pariser Fondation Custodia (FAZ).
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Musik

Guter Indie-Pop aus Deutschland findet in aller Regel beim Berliner Label Staatsakt ein Zuhause. Zum 15-Jährigen hat sich Jürgen Ziemer mit dem Labelbetreiber Maurice Summen zu einem Gespräch für den Freitag getroffen. Unter anderem geht es um das Thema "Geld verdienen mit Musik im Jahr 2019". Dazu hört man Erstaunliches im Hinblick auf Streaming: "Früher hat der durchschnittliche Konsument in Deutschland statistisch gesehen etwa 30 Euro im Jahr für Tonträger ausgegeben, das waren also letztlich nur zwei Alben. Und von den ultra-distinguierten Vielkäufern, die große Lust auf totale Vielfalt haben, gibt es in ganz Deutschland nur maximal 20.000. Wenn jetzt also viele bereit sind, 120 Euro im Jahr für ein Spotify-Abo auszugeben, dann wird heute eher mehr Geld für Musik ausgegeben als früher. Die Frage ist nur: Wie viel davon landet bei mir in der Nische? Indie-Bands haben ja auch früher im Schnitt nur 10.000 CDs verkauft, aber die Marge war damals immens hoch."

Besprochen werden ein Buch über die Ramones (online nachgereicht von der Welt), das neue Album von Ariana Grande (Pitchfork), Alexander Melnikovs Berliner Konzert (Tagesspiegel), eine von Simon Rattle und dem BR-Symphonieorchester dargebotene "Walküre" in München (SZ) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter Klaas Trapmans sechs CDs umfassende Einspielung von Sergei Bortkiewiczs postromantischenKlavierwerken (FAZ).

Und: Country-Sängerin Kacey Musgraves' "Golden Hour" ist bei den Grammys als "bestes Album des Jahres" ausgezeichnet worden. Childish Gambino Aufsehen erregendes Stück "This is America" ist zum "Song des Jahres" gekürt worden:

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Film

Maryam Zarees "Born in Evin"
Berlinale, vierter Tag. Das Highlight des Tages verbirgt sich heute in der Perspektive Deutsches Kino: Maryam Zarees "Born in Evin" arbeitet die Grausamkeiten des iranischen Regimes auf. Im Wettbewerb läuft derweil solides politisches Kino aus Osteuropa. Indessen sehr zu Recht außer Konkurrenz: Die Mossad-Räuberpistole "The Operative", über den sich die taz ziemlich die Haare rauft. Dies und mehr - im ausgelagerten aktuellen Festival-Pressespiegel in unserem mehrfach täglich mit Kritiken aktualisierten Berlinale-Blog.

Abseits der Berlinale:  Besprochen werden der offenbar in Klischees ersaufende Episodenfilm "Berlin, I Love You" (Zeit), Liu Jians chinesischer Animationsfilm "Have a Nice Day" (Freitag, unsere Kritik hier) und ein auf Heimmeiden veröffentlichter Dokumentarfilm über Whitney Houston (SZ).
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Literatur

Der Brexit beschert den britischen Buchhandlungen ein gutes Geschäft, schreibt Marion Löhndorf in der NZZ. Nicht nur Sachbücher zum Thema stapeln sich in den Auslagen, auch die Romanciers waren in den letzten zwei Jahren äußerst fleißig an den Schreibmaschinen. Unter anderem Ian McEwan, John Lanchester, Sam Byers und Douglas Board haben in ihren jüngsten Romanen den Brexit mehr oder weniger verklausuliert: "Während die Verkaufszahlen von George Orwells '1984' nach Trumps Wahl zum Präsidenten massiv anstiegen, schreiben die Briten ihre Horrorszenarien jetzt selber neu." Doch nicht nur Dystopien gibt es zu lesen, sondern auch Romane über die Gegenwart: Sie schlagen "sanftere, eher auf Ausgleich bedachte Töne an. ... In Anthony Cartwrights 'The Cut' (2017) etwa versuchen Repräsentanten des Leave- und des Remain-Lagers einander in alternierenden Kapiteln zu verstehen; dabei zeigt sich wieder einmal: Der Brexit dreht sich um Klassengrenzen und letztlich auch um Identität. Das Persönliche beherrscht das Politische."

Weiteres: Paul Jandl erinnert in der NZZ an den vor 30 Jahren gestorbenen Thomas Bernhard. Der Standard bringt dazu einen Abdruck aus Sepp Dreissingers Bernhard-Buch "Immer noch Frost". Besprochen wird im Standard außerdem der von André Heller herausgegebene Band "Thomas Bernhard, Hab & Gut. Das Refugium des Dichters". Noch immer zum Nachhören gibt es beim Dlf Kultur eine Lange Nacht über den österreichischen Schriftsteller.

Besprochen werden unter anderem ein morgen bei Arte online gehender Porträtfilm über Paul Auster (taz), Olja Savicevics "Sänger in der Nacht" (Tagesspiegel), Ute Krögers "Viele sind sehr sehr gut zu mir. Else Lasker-Schüler in Zürich 1917-1939" (NZZ), Horst Bredekamps "Aby Wartburg, der Indianer" (Tagesspiegel) und Philipp Schwenkes "Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jakob Hessing über Else Lasker-Schülers "Mein Volk":

"Der Fels wird morsch,
Dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe...
..."
Archiv: Literatur