Efeu - Die Kulturrundschau

Üppig wie Korallenbänke

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08.01.2018. Die FAZ ist ganz und gar hingerissen von der Grazie und Schönheit, mit der Ewelina Marciniak am Freiburger Theater die Herrschaft der Väter zerlegt. Das Zeitmagazin ist etwas irrtiert über die exquisite Erotik, mit der Hollywoods Frauen bei der Golden-Globe-Verleihung gegen den Sexismus protestierten. Die taz erlebt im Migros Museum, was für eine unglückliche Figur marginalisierte Körper tatsächlich abgeben. Und France Gall ruft ein letztes Mal: Résiste!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.01.2018 finden Sie hier

Bühne


Eine Gemälde von einer Männerordnung. Ewelina Marciniaks "Sommernachtstraum" am Theater Freiburg. Foto: Birgit Hupfeld.

Seit die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak Elfriede Jelinek am Breslauer Teatr Polski inszeniert hat, darf sie häufiger im Ausland inszenieren, schreibt Martin Halter in der FAZ. Vielleicht muss sie auch. Ihre Freiburger Inszenierung Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum", in der die Herrschaft der Väter schön verstörend mit einem Hippie-Traum von Fantasie und Harmonie kontrastiert, hat den Kritiker jedenfalls umgehauen: "Es gibt viel nackte Haut und dunkle Lust zu sehen, Shakespeares Zauberwald glitzert, wie einst bei Max Reinhardt, in vielen Farben und Facetten. Aber es ist kein böses, animalisch wildes oder gar pornographisches Treiben, sondern ein Renaissancegemälde voller Grazie, Schönheit und gebändigter Leidenschaft, angereichert mit viel Musik, Pantomime, Tanztheater und gereimten Textergänzungen. Die Kostüme und das Bühnenbild von Katarzyna Borkowska sind ein Traum... Marciniak und ihr weibliches Regieteam führen nicht nur polnische Kulturkreuzzügler, sondern auch das Patriarchat schlechthin am Nasenring durch die schlüpfrige Arena." In der Nachtkritik nimmt auch Jürgen Reuß große Theatermomente aus Freiburg mit: "So unerbittlich wurde der Wille der Herrscherväter zur absoluten Verfügungsgewalt selten offengelegt.

Außerdem: Etwas kalkuliert findet Stefan Weiss im Standard, wie der Ibrahim Amir, Autor des umstritten abgesagten "Homohalal", in seinem neuen Stück "Heimwärts" die Abrechnung mit Erdogan sucht.
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Film

Vergangene Nacht sind die Golden Globes verliehen worden. Martin McDonaghs (in Deutschland am 25. Januar startendes) Drama "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" entpuppte sich dabei als großer Gewinner des Abends - bereits beim Filmfest Venedig konnte der Film mit Frances McDormand in der Hauptrolle die Kritik im Sturm für sich einnehmen (hier unser Resümee). Als bester fremdsprachiger Film wurde Fatih Akins lose an den NSU-Komplex angelehnter Rachethriller "Aus dem Nichts" ausgezeichnet (hier unsere Kritik) - Variety listet die großen Überraschungen des Abends, die Liste mit allen Gewinnern gibt es beim Hollywood Reporter.

Für Aufsehen bei der Preisverleihung sorgten aber auch die Frauen: Als Protest gegen sexuelle Übergriffe und den Branchen-Seximus erschienen sie geschlossen in Schwarz und folgten damit einem Aufruf der "Time's Up"-Initiative, meldet der Hollywood Reporter. Auch "auffallend viele Männer trugen das Logo der von der "Time's Up" Mitinitiatorin Reese Witherspoon in Auftrag gegebenen Anstecker", ist Tobias Sedlmaier von der NZZ aufgefallen. Nicht ganz zufrieden ist Carmen Böker im ZeitMagazin mit diesem Auftritt: Eine "leere Geste" meinte sie, da gefiel ihr Cate Blanchetts bissiger Kommentar vor einiger Zeit an einen Kameramann, der sie von oben bis unten abfilmte, ob er das denn auch bei Männern mache, schon deutlich besser: "Viele der Schauspielerinnen hatten sich, wohl in der Angst vor undifferenzierter Monochromie, in eine Art nassglänzendes Schillern gerettet, das den Körper prächtig akzentuierte und das grundlegende Schwarz mit Pailletten so üppig wie Korallenbänke überkrustete, meistens übrigens exakt bis zum Busenansatz, denn wenn es eine Devise gab, dann war es: schulterfrei bis zum Maximum. Es hätte nun niemand im Nonnengewand erscheinen müssen, aber es wäre doch interessant gewesen, tatsächlich von der Norm des angemessen Eleganten abzuweichen."

Trotz allem Protest bleibt Hollywood natürlich immer noch Hollywood und bewahrt sich seine Tradition süffisanter Comedy-Monologe bei Preisverleihungen. Hier der Eröffnungsmonolog von Seth Meyers, der im Haupt-Broterwerb die Late Night Show auf NBC moderiert: "Guten Abend, Ladies und übrig gebliebene Gentlemen... Für die männlichen Nominierten, die heute hier versammelt sind, ist es das erste Mal seit drei Monaten, dass sie nicht zu Tode erschrocken sind, wenn ihr Name in aller Öffentlichkeit fällt."



Zum deutschen #MeToo rund um die Vorwürfe, die gegen den Regisseur Dieter Wedel erhoben wurden, hat Deutschlandfunk Kultur mit der Schauspielerin Maren Kroymann gesprochen, die es für bezeichnend hält, dass es ehemalige Schauspielerinnen waren, die sich in der Sache öffentlich zu Wort gemeldet haben: In der Branche herrsche eine "So ist das eben"-Mentalität - Berufseinsteigerinnen meinen, nur über ihr Aussehen punkten zu können und Regisseure und Professoren hängen der Vorstellung nach, dass man Schauspieler brechen müsse. "Da mischt sich bei Regisseuren der Mythos des Genialischen mit dem Persönlich-Cholerischen und dem Autoritären, das heißt Frauen denken, 'das muss so sein, ich muss mich jetzt brechen lassen, sonst bin ich keine gute Schauspielerin'. Der Regisseur denkt wiederum, 'ach, hier ist so ein Wesen, das ich formen kann und das ich auch fertig machen kann.'"

Weitere Artikel: In Berlin-Mitte musste das erste Ostberliner Sexkino Erotica schließen, berichtet Jan Kedves in der SZ. Besprochen werden "Lux - Krieger des Lichts" mit Franz Rogowski (Tagesspiegel) und die Serie "Young Sheldon", bei der es sich um ein Spin-Off der Sitcom "Big Bang Theory" handelt (Welt).
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Literatur

In der NZZ gestattet Christina Rossi Einblicke in den in München archivierten Vorlass Richard Wagners: Die Materialien erhellen die Repressionsgeschichte des Schriftststellers in Rumänien, dokumentieren Konversationen mit Schriftsteller-Kollegen und bieten Aufschluss über Wagners eigenes Schaffen: "Im Jahr 2004 schrieb Wagner seinen Roman 'Habseligkeiten', in dem eine längere Passage die Zwangsdeportation des Vaters des Protagonisten ins sowjetische Arbeitslager thematisiert. Aus dem Vorlass lässt sich nun etwa rekonstruieren, dass Wagner diese Episode anhand der Erinnerungen seines eigenen Vaters nacherzählte. ... Die handschriftlichen Aufzeichnungen, die sein Vater auf Wunsch Wagners später in Heften niederschrieb, belegen eindrücklich die faktengetreue und dennoch sprachlich stark umgestaltete Adaption der Notizen im Roman."

Außerdem: Die Zeit bringt eine gekürzte Version von Jonas Grethleins ursprünglich im Merkur erschienenem Text über das Verhältnis der Gegenwart zur antiken Literatur. In der Jungle World rückt Roger Behrens dem Lustigen Taschenbuch ideologiekritisch mit Marx und Debord zu Leibe. Das ZeitMagazin lässt den Kinderbuchautor Eric Carle träumen.

Besprochen werden unter anderem Edouard Louis' "Im Herzen der Gewalt" (Jungle World), John Crowleys "Die Übersetzerin" (NZZ), der Abschluss von Tomppas im Berlin des Jahres 2029 spielender Comicreihe "Der Engel" (Tagesspiegel), Jean-Christophe Baillys Essayband "Fremd gewordenes Land - Streifzüge durch Frankreich" (SZ) und Volker Heises Romandebüt "Außer Kontrolle" (FAZ).
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Design

In der Zeit präsentiert ein ganzer Schwung Autoren "zehn Requisiten des Alltags, die mehr über die Kultur des Jahres 2018 verraten, als uns lieb sein kann".
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Stichwörter: Alltag

Kunst


"Extra Bodies - The Use of the 'Other Body' in Contemporary Art", Ausstellungsansicht Migros Museum für Gegenwartskunst, Foto: Lorenzo Pusterla.

Sehr sehenswert findet Donna Schons in der taz die Ausstellung "Extra Bodies" im Zürcher Migros Museum, die zeigt, wie Kunst die Statistenrolle marginalisierten Körper reproduziert: Als wohl berühmtester und umstrittenster Vertreter jener Praxis eröffnet Santiago Sierra, der seine Statisten gegen ein geringes Entgelt tätowierte, in Pappkartons steckte und öffentlich masturbieren ließ, die Ausstellung. Eine Schwarzweißfotoserie dokumentiert eine Performance aus dem Jahr 2000, in der zwei Asylsuchende einen langen Holzpfahl für mehrere Stunden waagerecht zur Galeriewand halten - nach dem Schweizer Arbeitsgesetz eine der wenigen minderwertigen Arbeiten, die Geflüchtete übernehmen dürfen."

Das Freiburger Augustinermuseum wird gerade zu einem der aufregendsten Museen im Land, schwärmt Gottfried Knapp in der SZ. Besonders gut gefällt ihm die Avantgarde-Ausstellung "Hölzel und sein Kreis", zu dem auch Willi Baumeister, Johannes Itten und Oskar Schlemmer gehörten: "Adolf Hölzel hat als Professor der Stuttgarter Kunsthochschule schon im Jahr 1905 ein fast revolutionäres Lehr- oder Lernsystem eingeführt. Für ihn war das Atelier ein Laboratorium und die Kunst eine Form von bildnerischer Forschung. In seiner Klasse waren alle Hierarchien abgeschafft. Lehrer und Schüler experimentierten gemeinsam an Themen, die sie sich selber stellten."

Besprochen werden außerdem "From Life" in der Royal Academy in London (FAZ) und eine Schau des Künstlers Lois Renners im Salzburg Museum (Standard).
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Musik

France Gall und damit eine Ikone des französischen Yéyé-Pops der Sechziger ist ihrem Krebsleiden erlegen. "Yéyé - das war das Neue, das moderne Frankreich", schreibt Jan Feddersen im taz-Nachruf. Und France Gall war "ein bisschen Lolita, eine Spur belesene Ernsthaftigkeit." Nach ihrem Durchbruch machte sie in Deutschland (eine in Frankreich weitgehend verschwiegene) Karriere: Denn dort "waren Sängerinnen gefragt, die ein wenig exotisch wirkten, ein wenig mit erotischem Appeal spielen konnten - auf jeden Fall ästhetisch keine Fantasien an eher provinziell, gar naziangeschlackt wirkende Frauen aufkommen ließen."

Reichlich herablassend meint Manuel Brug in der Welt: "So also ließen sich die Nachkriegsdeutschen die kleinen Französinnen gefallen, gamine-haft, nicht raffiniert verführerisch, als eine Art Schulmädchen-Mireille-Mathieu mit gleichförmiger, ein wenig monotoner, einschläfernder Blechstimme und wenig Tonumfang, kumpelhaft, unkompliziert." Die "frivolen Zweideutigkeiten", mit denen Serge Gainsbourg Galls Texte würzte und von denen die junge Gall selbst mitunter gar nichts mitkriegte, waren in den deutschen Versionen getilgt, erklärt Thomas Steinfeld in der SZ. Für Gunda Bartels sind diese untergejubelten Zweideutigkeiten ein Fall für #metoo, schreibt sie im Tagesspiegel. Über Yéyé hatte Magnus Klaue 2014 einen großen Essay in der Jungle World verfasst. In den Achtzigern emanzipierte sich Gall von ihrem Image: Mit "Ella elle l'a" gelang ihr ein Comeback im zeitgenössischen Pop. Nicht ganz so bekannt wie dieser ist ihr 1981 entstandener Song "Résiste" (Bei Slate.fr erzählt Thomas Messias übrigens die Geschichte dieser "sanften und universellen Hymne"):




Und hier die unvergessliche Karaoke-Version des Lieds mit Sabine Azéma aus Alain Resnais' Film "On connait la chanson" von 1997:



Für FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner ist das Album "Tangents" des Gary Peacock Trios das Jazzalbum 2017, mit dem Peacock sich vom Ende des Keith Jarrett Trios künstlerisch nun endgültig erholt habe. "Mit Marc Copland hat der Bassist einen Pianisten an seiner Seite, der, anders als Jarrett, aber nicht minder inspirierend, wie ein Seismograph auf alle Schwingungen aus dem Resonanzkörper des tiefen Saiteninstruments reagiert. Vor allem meint man in vielen Momenten des Zusammenspiels, es könne sich eigentlich nur um ein einziges Musikerhirn handeln." Hier gibt es einige Hörproben.

Weitere Artikel: Für die taz spricht Marthe Ruddat mit Renke Ehmcke über dessen Underground-Label Zeitstrafe. Dierk Saathoff freut sich in der Jungle World auf das erste Album der Breeders seit zehn Jahren. Besprochen werden ein Konzert der Pianistin Anna Vinnitskaya (NZZ) und zwei Gedenkkonzerte in Berlin zu Ehren der ägyptischen Sängerin Oum Kalthoum, die im Vorfeld angefeindert wurden (Tagesspiegel).
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