Efeu - Die Kulturrundschau

Irgendwie ein Stück Weltgeist

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05.12.2015. Nachtkritik und Berliner Zeitung begeistern sich ungebremst für René Polleschs "postapokalyptisches Berapplungstheater". Nur der Tagesspiegel zeigt kein Theaterherz. Im Freitag spricht der südafrikanische Künstler Sam Nhlengethwa über schwarze Kunst zu Zeiten der Apartheid. Im Standard will Jacques Audiard Realität wie Kino aussehen lassen. Wo ist der Rausch im Dichterleben geblieben, fragt die Welt bei einer Weißweinschorle. Und in der FAZ liest Petra Mosbach Comics.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.12.2015 finden Sie hier

Bühne



Szene aus René Polleschs "Service/No Service". Foto: Lenore Blievernicht.

Mit seinem neuen an der Volksbühne uraufgeführtem Stück "Service/No Service" reflektiere René Pollesch voller Wehmut den gegenwärtigen Moment am Haus zwischen großer Vergangenheit und festgesetztem Ende der Castorf-Ära, wie von den weitgehend begeisterten Kritikern zu erfahren ist. So dankt Esther Slevogt auf der Nachtkritik für den "wirklich tollsten René-Pollesch-Abend seit langem", an dem die ganz großen Fragen gewälzt wurden: "Was ist das Theater überhaupt noch, was kann es sein? Und der Künstler erst recht, der doch einst der Meinung war, irgendwie ein Stück Weltgeist in sich zu tragen? Etwas Inkompatibles, Nicht-Nützliches. Eben darin war doch das utopische und widerständige Potenzial der Kunst begründet. ... So schaut man anderthalb Stunden einem Abend zu, der reine ästhetische und philosophische Weltbetrachtung ist, und dabei so unprätentiös und melancholisch mit seinen großen Fragen jongliert, dass es eine Lust ist."

Auch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung ist angetan von diesem "postapokalyptischen Berapplungstheater. Und natürlich transportiere dieses Stück auch die Trauer um Bert Neumann, den verstorbenen langjährigen Bühnenbildner des Hauses, dessen letzte Arbeit diese Inszenierung darstellt, erklärt Irene Bazinger in der FAZ. Für die taz hat Jenni Zylka die Vorstellung besucht.

Früher tobte in der Volksbühne das Leben, heute stößt man bei soviel Nabelschau erst darauf, wenn man das Haus wieder verlässt, resigniert unterdessen Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Das Problem der Volksbühne von Frank Castorf ist, dass sie sich über eine so lange Strecke verabschieden muss, zwei Spielzeiten, und sich auch gar nicht verabschieden will. Wer da nicht hin und her gerissen ist als Zuschauer, hat kein Theaterherz und kennt die Geschichte nicht. Bloß sagen sie ja selbst: Sie sind von der Geschichte abgekoppelt."

Szenenwechsel nach Hamburg: Dort hat Alvanis Hermanis das Thalia Theater gebeten, ihn aus seinem Vertrag als Regisseur zu entlassen, meldet unter anderem die Nachtkritik: Als Grund gibt das Theater an, dass Hermanis mit der Flüchtlingsarbeit des Hauses nicht einverstanden sei, da "die deutsche Begeisterung" für offene Grenzen die Mobilität von Terroristen begünstige. Das "spottet jedem Erklärungsversuch", kommentiert dazu Ulrich Seidler in der FR.




Svetlana Sozdateleva als Renata in Sergei Prokofjews "Der feurige Engel" an der Bayerischen Staatsoper. Foto: Wilfried Hösl.

Marco Frei macht in der NZZ sehr schön nachvollziehbar, warum ihm Barrie Koskys rein auf Bebilderung setztende Münchner Inszenierung von Prokofjews Oper "Der feurige Engel" nach Valeri Brjussows Roman zu wenig ist: "Wie später Huxley entwirft auch Brjussow ein mittelalterlich anmutendes Szenario, das um Religion und Besessenheit, Teufelsaustreibung und Hexensabbat, Hysterie und Aufklärung kreist. Doch während Huxley im totalitären Glaubensfanatismus die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erblickte, geht es Brjussow um das aufgeklärte Ich an der Schwelle zur Neuzeit. Das Kühne an Brjussows Roman ist die Mehrdeutigkeit."

Weiteres: Für die FAZ hat Sarah Hegenbart Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso besucht. Besprochen werden Branko Šimićs und Armin Smailovics "Srebrenica - I counted my remaining life in seconds" am Thalia in Hamburg (Nachtkritik) und "Wenn nicht wir, wer dann?", das politische Manifest von Philipp Ruch, dem Begründer des Zentrums für politische Schönheit (Nachtkritik).
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Literatur

Besser spät als nie: Die Schriftstellerin Petra Morsbach hat den Comic für sich entdeckt, wie sie in der FAZ begeistert berichtet: Der Comic biete "einen ermutigenden Beweis für den elementaren Antrieb der Kunst. Dass nämlich in einer Zeit, da das Kino seinen 3D-Superillusionismus mit dröhnender innerer Leere bezahlt, das Fernsehen sich der Quotenangst hingibt und die 'gute' Literatur an ihrem Prestige fast erstickt - dass also angesichts dieser durchkapitalisierten Kunstbranche begabte Leute einfach wieder zu Stift und Papier greifen, um mit Handzeichnungen und gemalten Buchstaben elementare Geschichten zu erzählen, ist eine geradezu romantische Erfahrung." Interesse bekommen? Noch mehr Anregungen finden Sie hier.

In der Welt trauert Michael Wolf um das wilde Dichterleben, als Schriftsteller sich och nicht um die Fitness ihres Geistes scherten: "Im Land der Dichter, Denker und des Reinheitsgebots verkehrt sich klammheimlich Purismus in Puritanismus. 'Nein danke. Wenn ich trinke, neige ich immer zu schiefen Sprachbildern', schieben Lyriker der Weißweinschorle einen Riegel vor."

In der SZ porträtiert Jan Kedves Stefanie Sargnagel, die für ihn "die erste deutschsprachige Autorin ist, die im Netz die Form für sich gefunden hat, die passt, die nicht nervt, die als Literatur funktioniert." Im Interview mit Carmen Eller erklärt Javier Marias in der Welt, warum er lieber über Unglück als über Glück schreibt: "Im wahren Leben dauert das Glück manchmal Jahre. Das ist wunderbar, wenn es dir selbst passiert, aber dann hast du keine Geschichte."

Besprochen werden Atticus Lish' Debüt "Vorbereitung auf das nächste Leben" (FR), Leslie Jamisons Essayband Die Empathie-Tests" (SZ) und Samanta Schweblins "Das Gift" (FAZ).
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Architektur

Wenn Arnold Bartetzky nach Stralsund blickt, schießen dem FAZ-Architekturkritiker die "Freudentränen in die Augen": Die Stadt, die einst ziemlich in Trümmern lag, heute aber vorbildlich saniert erstrahlt, habe "fast alles richtig gemacht. ... Während viele Städte Ostdeutschlands, von hohem Wohnungsleerstand und apokalyptischen Bevölkerungsprognosen aufgeschreckt, Abrissbagger in die historischen Viertel geschickt haben, sicherte Stralsund unbeirrt seinen Denkmalbestand und erhielt auch ungenutzte Häuser in Hoffnung auf bessere Zeiten."

Dankwart Guratzsch stöhnt in der Welt, dass jetzt sogar brutalistische Bauten unter Denknmalschutz gestellt werden: "Betonkuben - graumausig, klobig, bedrückend massiv. Plattenbauregale für den regulierten, funktionsgerechten Menschen."
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Musik

Corinne Holtz bedauert in der NZZ, dass Jean Sibelius in Deutschland noch immer weltanschaulich rezipiert wird. Immerhin: "Inzwischen weichen Mystifizierung und Dämonisierung einem zunehmend sachlicheren Blick. Der Komponist erlebt auch als Forschungsgegenstand eine Renaissance, und selbst 'Deutsche wagen es jetzt, Sibelius zu lieben', so Erkki Korhonen."

Gut beraten sein geht anders: Kaum hat sich die Aufregung um Xavier Naidoo gelegt, meldet sich dieser mit einem von Jürgen Todenhöfer via Facebook verbreiteten Friedenslied in der Öffentlichkeit zurück, in dem er unter anderem die Ansicht vertritt, dass Muslime "den neuen Judenstern" trügen, was Michael Hanfeld in der FAZ alles in allem für ziemlich "wirr" hält. "Da haben sich zwei gefunden", stöhnt unterdessen Johannes Boie im Online-Kommentar für die SZ.

Weiteres: Wilhelm Sinkovicz trifft für die Presse die Sängerin Laura Aikin, die Fachfrau für heikle Partien in der musikalischen Moderne. In der FAZ porträtiert Eleonore Büning den Dirigenten Iván Fischer, "einer der wenigen Gottesnarren in Ungarn, die es sich leisten können, offen Stellung zu beziehen gegen die Regierung Orbán." Für die taz trifft sich Elise Graton mit dem Musiker und Labelbetreiber Bertrand Burgalat. Gerrit Bartels schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Grunge-Musikers Scott Weiland. Taz-Popkritiker Jens Uthoff interviewt die schwedische Musikerin Anna von Hausswolff, die problemlos Kirchenorgeln in ihre düster-eklektizistische Musik integriert und damit "einen Sound der Überwältigung, des Erhabenen" kreiert. Hier das aktuelle Video:



Besprochen werden Erykah Badus neues Album "But U Cain't Use My Phone" (Welt), das neue Album von Justin Bieber (Jungle World), das neue Album von Sunn O))) (The Quietus), ein Konzert von Die Nerven (taz) und das neue Coldplay-Album (Zeit, Tagesspiegel, Pitchfork).

Außerdem: Die Kritiker von The Quietus bringen ihre 100 liebsten Platten des Jahres und die von Popmatters hier ihre mit den 90 besten Songs.
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Kunst

Für den Freitag unterhält sich Alexander Jürgs mit dem südafrikanischen Künstler Sam Nhlengethwa über die unter den Bedingungen der Apartheid sich formierende schwarze Kunst der 80er Jahre, die derzeit im Weltkulturen-Museum in Frankfurt ausgestellt wird: "Die Künstler waren damals isoliert, vom weißen südafrikanischen Kunstbetrieb, von den Akademien und den Galerien, aber auch vom Rest der Welt. Inspirationen holte sich Nhlengethwa aus den wenigen Zeitschriften und Katalogen. ... Die jungen Künstler hätten sich als Gruppe gefühlt, sagt Nhlengethwa. Und sie sahen sich als Teil der Bewegung gegen das rassistische Regime."

Außerdem: In der taz spricht Carolin Pirich mit der Künstlerin Mia Florentine Weiss. Besprochen werden die Adolph-Menzel-Ausstellung im Märkischen Mueum in Berlin (Tagesspiegel), eine Ausstellung mit Anja Niedringshaus' Kriegsfotografien im Willy-Brandt-Haus in Berlin (FR) und eine Ausstellung über die Neue Sachlichkeit im Los Angeles County Museum of Art, die Boris Pofalla von der FAZ so gut gefällt, dass er sich über die Entscheidung hiesiger Museen, sie nicht nach Deutschland zu holen, sehr ärgern muss.
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Film


Szene aus Audiards "Dheepan".

Im Standard-Interview mit Dominik Kamalzadeh spricht Jacques Audiard über seinen in Cannes prämierten Film "Dheepan", der jetzt in die Kinos kommt, und den Trick, die Realität wie Kino aussehen zu lassen: "Die Idee des Films war, Menschen herzunehmen, die in der Gesellschaft kein Gesicht, keinen Körper haben, und ihnen eine vornehme Genreform in Cinemascope zu gewähren. Damit schafft man dann auch den Abstand zum Dokumentarischen, zur Tatsache."

Angelina Jolies Film "By the sea" über die Ehekrise eines Paars in den Siebzigern am Mittelmeer, war in den USA ein Flop. Das Stichwort, mit dem die Kritiker ihn am liebsten abbürsteten, war: "vanity project". Im Guardian nimmt Steve Rose Jolies Flop zum Anlass, über dieses - tja, soll man sagen "Genre"? - nachzudenken: "Vanity project", stellt er fest, wird ein Film nur genannt, wenn er erfolglos ist. Anders etwa George Clooneys "Good Night, and Good Luck", der mehrere Oscar-Nominierungen erhielt: "Clooney half auch vielen Schauspielerkollegen, die sich als Regisseure auf die eigenen Füße stellen wollten. Vor zehn Jahren war Ben Affleck in den Trümmern von 'Gigli' und 'Daredevil' versunken. Dann machte er 'Argo' (Produzent: George Clooney) und gewann den Oscar für den besten Film. Jetzt ist Affleck praktisch Clint Eastwood. Und Batman. Niemand nannte 'Argo' Ben Afflecks 'vanity project' oder 'Good Night, and Good Luck' George Clooneys 'vanity project' oder 'Rocky' Sylvester Stallones 'vanity project'."

Besprochen werden Kaan Müjdecis "Sivas" (Berliner Zeitung) und John Wells' "Im Rausch der Sterne" (Tagesspiegel) und die Heidi-Verfilmung (NZZ).
Archiv: Film