Efeu - Die Kulturrundschau

Überreizt und schwebend

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23.11.2015. In der taz erzählt der russische Autor Sergej Lebedew, wie erfolgreich seine Oma als selbstzensierende Profi-Editorin war. Außerdem freut sich die taz über Marieluise Fleißers Modeleidenschaft. In der NZZ erinnert sich Mikhail Baryschnikow an Joseph Brodsky, "miau" sagend. Nachtkritiker Janis El-Bira raucht der Kopf nach einer Berliner Konferenz über die Nützlichkeit des Theaters. SZ und FAZ hören sich hingerissen durch Bob Dylans Bootleg-Serie "The Cutting Edge 1965-1966".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.11.2015 finden Sie hier

Literatur

Für die taz spricht Stefan Hochgesand mit dem russischen Autor Sergej Lebedew unter anderem über Homophobie und Zensur in Russland sowie über Lebedews Roman "Menschen im August", in dem das Tagebuch der Großmutter des Ich-Erzählers eine wichtige Rolle spielt, erzählt Lebedew, dessen eigener Großvater unter Umständen verschwand, die seine Großmutter kunstvoll verschleierte: "Meine Oma entpuppte sich übrigens obendrein als professionelle Editorin. 40 Jahre lang arbeitete sie in einem politischen Verlag, auch an einer Lenin-Edition. Ich merkte dann, dass meine Oma auch unsere Familiengeschichte quasi als selbstzensierende Profi-Editorin geschrieben hat - immer mit dem Hintergedanken, unangenehme Nachfragen an die Vergangenheit zu unterdrücken. ... Es ist paradox, aber: Der einzige Weg, die Vergangenheit zu verstehen, ist es, einen Roman zu schreiben. Indem man fiktionalisiert, sich vorstellt, wie es gewesen sein könnte. Das ist mein Weg, mit der Vergangenheit zu verfahren. Mit der Vergangenheit, die aus Abwesenheit besteht."

Jens Uthoff hat für die taz einen Abend mit Salman Rushdie in Berlin besucht und ist froh, dass der Autor immer noch so kämpferisch ist: "Salman Rushdie hat zwar die Erkältungswelle erwischt, aber er ist dennoch gut in Form. Nur die Pointen klingen etwas nasaler als sonst. 'Ich weigere mich, den IS einen Staat zu nennen, denn er ist kein Staat', sagt der 68-Jährige, auf dem Podium des Hauses der Berliner Festspiele sitzend. 'Nennen wir sie doch einfach Bastarde.'" (In der FR berichtet Melanie Reinsch.)

Weitere Artikel: Der Standard veröffentlicht die Eröffnungsrede Amir Hassan Cheheltans zum Wiener Festival "Literatur im Herbst", das aktuellen "Stimmen aus dem Iran" gewidmet ist. Kathleen Hildebrand resümiert in der SZ das in diesem Jahr von Albert Ostermaier kuratierte "Forum: autoren"-Programm des Münchner Literaturfests. Die FAZ bringt einen Auszug aus Andreas Maiers "Mein Jahr ohne Udo Jürgens" (hier daraus mehr). Besprochen werden Hörbücher, darunter "Die Höredition der Weltliteratur" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ruth Klüger über Elizabeth Barrett Brownings "Sonette aus dem Portugiesischen":

"Geh fort von mir. So werd ich fürderhin
in deinem Schatten stehn. Und niemals mehr
die Schwelle alles dessen, was ich bin
..."
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Bühne

Mit 16 hat er Brodsky das erste Mal gelesen, erzählt Mikhail Baryschnikow im Interview mit der NZZ, und nachdem er ihn 1974 in New York persönlich kennengelernt hatte, war er bis zu Brodskys Tod 1996 mit ihm befreundet. Jetzt spielt Baryschnikow die einzige Rolle in Alvis Hermanis' Inszenierung "Brodsky/Baryshnikov" im Jaunais Rīgas Teātris. Seine Erinnerung an den Dichter: "In einem kleinen Café im New Yorker Village sitzend. Lächelnd, sich eine Zigarette anzündend, den Hut, groß wie der eines Rabbiners, lüftend. Und 'miau' sagend. Er liebte Katzen und zeichnete sie ständig." (Foto: Brodsky und Baryschnikow, Jaunais Rigas Theatris)

Berlin diskutiert über das Theater. Sehr ausführlich resümiert Janis El-Bira für die nachtkritik eine Berliner Konferenz zur Nützlichkeit des Theaters, nach der ihm ordentlich der Schädel rauchte: "Anspruchsvoller, vielstimmiger, differenzierungsbemühter, aus- und erschöpfender [wäre sie kaum] zu denken gewesen. Wer sich das volle, dreitägige Programm gönnte, dürfte jedenfalls Schwierigkeiten zu unterscheiden haben, ob gewisse Redundanzerscheinungen gegen Ende dem eigenen Hirntaumel oder doch der Tatsache geschuldet waren, dass zwar schon alles, aber noch nicht von allen gesagt worden war. Die Qualität dieses enormen Kraftakts schmälert das indes keineswegs." Irene Bazinger von der FAZ war unterdessen im Deutschen Theater, wo die 1. Berliner Recherchetage der Frage nachgingen, wann es sich beim Recherchetheater "noch um eine gutgemeinte Materialsammlung und wann schon um gutgemachte Kunst handelt".

Besprochen werden Susanne Lietzows Inszenierung von Johann Nestroys "Zu ebener Erde und erster Stock" (Nachtkritik), Yasmina Rezas in Potsdam aufgeführtes Stück "Kunst" (Tagesspiegel), Andrea Moses' Potsdamer Inszenierung von Scarlattis "Cain und Abel" (Tagesspiegel), die in Heidelberg und Karlsruhe aufgeführten Tanzstücke "Silver" von Nanine Linning und "Das kleine Schwarze" von Terence Kohler (SZ) sowie drei neue Inszenierung von Hector Berlioz' "Benvenuto Cellini" in Köln, Bonn und Barcelona (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Aus dem Museo Civico di Castelvecchio in Verona, einem der schönsten Museen Italiens, sind 17 Gemälde gestohlen worden, berichtet Harry Bellet in Le Monde - die Gemälde haben einen Millionenwert und sind dennoch unverkäuflich, deshalb könnte eine geplante Erpressung von Lösegeld das Motiv sein, vermutet Bellet.

Besprochen werden die Einzelausstellung des chinesischen Künstlers Xu Zhen im Kunsthaus Graz (NZZ), eine Ausstellung der 1938 in Riga geborenen amerikanischen Künstlerin Vija Celmins in der Wiener Secession (Standard), eine Ausstellung über "Glanz und Elend der Prostitution" zwischen 1850 und 1910 im Pariser Musée d'Orsay (Welt), die Germaine-Krull-Schau im Martin-Gropius-Bau in Berlin (SZ) und die Ausstellung "Balagan" im Berliner Kühlhaus (taz). (Bild: Spielzeug-Sphinx von Xu Zhen. Foto: Kunsthaus Graz)
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Design

Für die taz bespricht Brigitte Werneburg Marieluise Fleißers ursprünglich 1942 angefertigte, postum im Nachlass entdeckte Kinder-Bilderbuch "Im Wirtshaus ist heut Maskenball", in dem die Autorin ihrer Modeleidenschaft freien Lauf ließ: "Das mit sichtlicher Hingabe gefertigte Heft (...) besteht aus sorgfältig aus Modemagazinen ausgeschnittenen Figurinen, fotografierten wie gezeichneten, denen Fleißer kleine lustige Verse wie 'die beiden wollen gleich ins Wasser, sie ziehn sich aus, dann ist es nasser' zur Seite stellte. Literarisch im engeren Sinn ist dieser faszinierende Fund nicht. Und doch ist die Frage von Glamour und der 'herrlichen Kleider' ein bestimmendes Moment im literarischen Werk Fleißers."

Für den Tagesspiegel liest Meike Fessmann Bücher über Mode und weibliche Identität. Und beim MDR kann man sich Jörg Wunderlichs einstündiges Feature "Grau - Siegeszug einer Nichtfarbe" anhören.



Wir wissen nur selten, was die Zukunft bringen wird. Bei Fahrrädern gibt es immerhin einen kleinen Ausblick, wie uns das Blog 10 amazing verrät, das zehn neue Fahrraddesigns vorstellt. Zum Beispiel dieses T-bike von Jung Geun Tak & Shinhyun Kang / T.A.K studio: "This futuristic bicycle looks pretty amazing to us. Just the design of this bike makes it very appealing, it's sleek, minimalist and functional. The T-bike has some cool tech specs too. The handlebars of the bicycle are fordable which makes it easier to take it with you on public transport or park it small spaces, and they also work as a lock." Oh, und es hat GPS. Sehr praktisch, wenn man nicht mehr weiß, wo man es abgestellt hat.
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Film


William Dafoe in Abel Ferraras "Pasolini"

Im Standard stellt Dominik Kamalzadeh Abel Ferraras Film über Pasolini mit Willem Dafoe in der Hauptrolle vor: "Die letzten Tage aus dem Leben Pasolinis geben den Rahmen vor, das Unfertige, Nicht-zu-Ende-Gebrachte, Unheilvolle dieses Abschnitts verleiht auch dem Film eine fragmentarische Qualität. Alltagsmomente, Gedankenarbeit und fiktive Szenen überlagern sich. Am Ende liegt ein regloser Körper im Staub, und die Callas singt die Arie 'Una voce poco fa'." Im Interview mit der Presse erklärt Ferrara sein Konzept so: "Natürlich kann ich versuchen, mit einem Film die ganze beschissene Welt zu erklären. Aber im Grunde zeigt man 90 Minuten lang Bilder. Ob sie von neun Tagen oder 29 Jahren erzählen, ist Nebensache. 'Pasolini' spielt am letzten Tag in seinem Leben. Aber er war als Mensch so veränderlich, so fließend, so sprunghaft, dass man ihn eben auf einen Moment festnageln muss, um verstehen zu können, wo er sich gerade befunden hat."

taz-Filmkritikerin Cristina Nord wechselt zum Goethe-Institut. Frédéric Jaeger von critic.de ist das mehr als bloß eine Personalie im Betrieb, wie sein langes Abschiedsgespräch mit der Kritikerin zeigt. Nords Ausblick auf die Zukunft der Profession ist angesichts der fortschreitenden Erosion der finanziellen Basis nur halb-rosig: "So schön Cargo ist, die Reichweite ist natürlich begrenzt. Es wäre doch großartig, wenn man das spezialisierte Wissen immer auch wieder zurückbringen könnte in die Medien, die nicht so spezialisiert sind und da einen Vermittlungsprozess herstellen könnte - und wenn es dafür ökonomische Rahmenbedingungen geben könnte. Aber das wäre eine Idealvorstellung."

Lesenswert ist auch noch einmal Nords 2006 entstandener Essay aus der taz-Reihe "Kritik der Kritik", den man gemeinsam mit ihrem für die Filmzeitschrift Revolver geschriebenen Text als ihre Programmatik begreifen kann.

Weiteres: Für die Berliner Zeitung plaudert Ulrich Lössl mit Steven Spielberg. Besprochen werden Paolo Sorrentinos "Ewige Jugend" mit Michael Caine und Harvey Keitel (Tagesspiegel) sowie eine Biografie über Charlotte Rampling (FAS).
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Musik

Mit 600 Dollar Importpreis plus Steuern ganz gewiss kein Schnäppchen ist die 18 CDs umfassende, "The Cutting Edge 1965-1966" betitelte neue Lieferung aus Bob Dylans Bootleg Series, aber nur sie bringt auch wirklich sämtliche Aufnahmeskizzen jener Sessions, aus denen die drei Alben "Bringing It All Back Home", "Highway 61 Revisited" und "Blonde on Blonde" wurden, versichern die Musikkritiker. In der SZ erfahren wir von Max Dax nicht nur, was diese Veröffentlichungspraxis mit dem Copyright zu tun hat, sondern unternehmen mit ihm auch eine "Reise (...) in die Anatomie eines sich in radikaler Veränderung befindlichen Sounds". Die CDs "dokumentieren das frustrierende Tasten und das Suchen und zunehmend auch das Erzwingen eines höhenlastigen, quecksilbrigen Soundgemenges aus Mundharmonika, Orgel, elektrischer Gitarre und Stimme." Mit Folgen für den Zuhörer: Denn "Blonde on Blonde" etwa erklinge nach diesem Marathon "in seiner schlaflosen, ätherischen Schwerelosigkeit so modern wie nie zuvor - ein Album, das wir meinten zu kennen, klingt mit einem Mal so überreizt und schwebend, als gäbe es kein Morgen mehr und keine Vergangenheit, sondern nur noch gleißende Gegenwart."

Ähnlich begeistert berichtet auch Heinrich Detering in der FAZ von seinem Hörerlebnis: "wirklich sensationell" sei es, wie es diese CDs gestattet, "den Arbeitsprozess zu verfolgen und etwas zu ahnen vom Geheimnis schöpferischer Intelligenz." Wozu im übrigen auch die eingestreuten, kleinen Reibereien zwischen Dylan und seinem Produzenten zählen.

Im Nollendorfblog ist Johannes Kram erleichtert, dass Xavier Naidoo nun doch nicht als Vertreter Deutschlands beim ESC singt, aber immer noch sauer auf den NDR, der diesen Vorschlag überhaupt gemacht hat: "Ob aus Dummheit, Berechnung oder beidem. Der ARD Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber ist ein gefährlicher Mann. Ganz unverhohlen versucht er, das Desaster um seine gescheiterte Nominierung von Xavier Naidoo den Kritikern in die Schuhe zu schieben. Er sagt nicht: Die Entscheidung war falsch. Er sagt: Die Kritik war überzogen. Gleichzeitig gibt er zu, mit einer Polarisierung gerechnet zu haben. Er tut also so, als ob ein Konflikt, den er vorprogrammiert hat, nur durch die Hefigkeit der Kritik eskaliert sei. Doch das stimmt nicht. Aus zwei Gründen..."

Außerdem: Für die Jungle World porträtiert Kristof Schreuf den experimentiertfreudigen Musiker Knarf Rellöm. Katja Schwemmers unterhält sich für die Berliner Zeitung mit der Popkünstlerin Björk, die gerade ihren 50. Geburtstag gefeiert hat. Mit der Revision seiner umstrittenen Entscheidung, Xavier Naidoo zum Eurovision Song Contest zu schicken, habe der NDR alles nur noch schlimmer gemacht, meint Heiko Werning im taz-Kommentar. Für den Tip Berlin spricht Andreas Busche mit John Lydon. Christian Wildhagen berichtet in der NZZ über die Eröffnung des Klavierfestivals in Luzern mit einem Bach-Konzert von Sir András Schiff. Martin Böttcher stellt im Tagesspiegel den Berliner Musiker T.Raumschmiere vor, der nach Punkerjahren und derben Elektroknallern nunmehr in Ambient macht. Hier dessen aktuelles Video:

Archiv: Musik