Efeu - Die Kulturrundschau

Bis zum Zerbersten angefülltes Wortwiesel

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02.11.2015. Die NZZ lässt sich von Wollfäden umgarnen. Die Berliner Zeitung schaudert es bei dem Gedanken an Ai Weiwei und deutsche Professoren. Die Welt feiert den Götzenkult in der Kunst. The Quietus stellt das perfekte Hörspiel für Halloween vor. Und: Alle lieben Büchnerpreisträger Rainald Goetz. DRadio Kultur berichtet aber auch von einem kleinen Eklat in Darmstadt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2015 finden Sie hier

Literatur

Reines Entzücken in den Feuilletons über Rainald Goetz, der ein paar Monate untergetaucht war, am Wochenende seinen Büchnerpreis aber doch selbst entgegennahm und die Anwesenden mit einer Dankesrede (hier beim Deutschlandfunk zum Nachhören) beglückte. Sie dauerte 23 Minuten und an ihrem Ende hob Goetz gar zum Gesang an und gab ein paar Zeilen aus dem Lied "Bologna" der österreichischen, im Diskurs der Poplinken derzeit wenig gut gelittenen Band Wanda zum Besten. Richtig toll fand taz-Literaturkritiker Dirk Knipphals dieses Ende: "Dass ein Schriftsteller wie Rainald Goetz, dem Pathos durchaus nicht fremd ist, so eine weltwichtige Büchnerpreisrede, auf die man als Schriftsteller sein ganzes weiteres Leben identitär festgenagelt wird, mit so einem zarten Moment ausklingen ließ, das war schon ganz, ganz großartig."

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube sang dem Preisträger dann auch eine schöne Laudatio. Goetz wolle den Leser nie in seiner Welt versinken lassen. Sein "Wirklichkeitsbegriff hält sich an die Wirklichkeit des wahrnehmenden, nervösen Bewusstseins, für das ständig etwas dazwischenkommt, ständig alles gleichzeitig passiert, ständig jemand reinquatscht, immerfort alles mehrdeutig ist und vieles, kaum hat man es gedacht oder gesagt, sofort wieder zurückgenommen werden muss, weil es so ja auch nicht stimmt."

Und: Keine Goetz-Ansprache ohne Goetz-Performance. Laut Hubert Spiegel (FAZ) war der Preisträger "furios, fiebrig, fahrig und hochkonzentriert zugleich, ein mit Gedanken, Gerede, Beobachtungen, Erkenntnissen, Lektüren, Ekel, Frohsinn, Zweifel, Liebe, Wut und Widersprüchen bis zum Zerbersten angefülltes Wortwiesel." Weitere Berichte in der Welt, der FR und in der SZ. Beim DeutschlandradioKultur steht außerdem Ulrich Rüdenauers hörenswertes Feature über Goetz online.

Von einem kleinen Eklat bei der Preisverleihung berichtet Ludger Fittkau im Dradio Kultur. Auch taz-Reporterin Gabriele Goettle bekam an dem Morgen einen Preis für politische Essayistik. Aber sie erschien nicht zur Preisverleihung und erklärte, dass sie das vom Pharmakonzern Merck gestiftete Preisgeld für gute Zwecke spendet. Otto Köhler hielt die Laudatio auf Goettle, kritisierte die Pharmaindustrie ebenfalls, wovon sich Akademie-Präsident Heinrich Detering öffentlich distanzierte: "Es keimte also der Verdacht, dass Detering womöglich durch seine Vorab-Distanzierung vom Gesagten den Darmstädter Merck-Konzern beschwichtigen wollte, einen Geldgeber der Büchnerpreis-Zeremonie. Eigentlich kaum zu glauben."

Weiteres: Lange Zeit galt Thomas Ligotti als der große, zurückgezogen lebende Einsiedler unter den US-amerikanischen Horrorliteraten, jetzt rückt ihn eine Penguin-Ausgabe seiner Kurzgeschichten in die Nähe des literarischen Kanons und sorgt damit für seine Wiederentdeckbarkeit, was Peter Bebergal ein Feature im New Yorker wert ist (auf Weird Fiction Review gibt es dazu ein Interview mit dem Autor und hier und dort zwei seiner Kurzgeschichten). Auf ZeitOnline porträtiert Carmen Eller die Autorin Alina Bronsky. Im Tagesspiegel schreibt Inga Kilian über 150 Jahre "Max und Moritz". Und das Logbuch Suhrkamp gruselt sich in einem wunderbar bebilderten Beitrag durchs verlagseigene Sortiment.

Besprochen werden die Literaturpreis-Ausstellung "Geistesgegenwärtig" im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt (FR), Jürgen Beckers "Jetzt die Gegend damals" (Tagesspiegel), Ulrich Raulffs "Das letzte Jahrhundert der Pferde" (Tagesspiegel), Umberto Ecos "Nullnummer" (Tagesspiegel), William Grills "Shackletons Reise" (FAZ) und Tomas Espedals "Wider die Kunst (Die Notizbücher)" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt der Lyriker Uwe Kolbe über Ulrich Zieglers "Gesöff":

"Der Lungenfisch spricht aus der Tiefe
Zuwendung und Anregung bilden das Leben
Wenn man die Kindlein wirklich kommen lassen könnte
..."
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Bühne

In der WamS kratzt sich Jan Küvel verwundert am Kopf: Bereits im September soll der große, wenn auch umstrittene FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier in Rente gegangen sein - und niemand hat es gemerkt, die eigene Zeitung offenbar am allerwenigsten: "Es soll in der Frankfurter Hellerhofstraße einen Abschied gegeben haben, kein Herausgeber hat ihn besucht. Auch in der Zeitung ist nichts erschienen, keine Notiz, nicht die Rede, mit der sich der Kritiker in seinem allerletzten Text für die Zeitung mutmaßlich selbst kritisiert hat, im Ernst, zum Spaß, wie immer."

Weitere Artikel: Für den Freitag porträtiert Lisa Rüffer den Schauspieler Frank Pätzold. Die FAZ hat ihr großes Gespräch mit Dieter Dorn vom Samstag online nachgereicht. Tim Neshitov berichtet in der SZ von einem Leipziger Treffen deutscher und ukrainischer Schauspieler, die offenbar ziemlich fremdelten.

Besprochen werden eine Darmstädter "Räuber"-Inszenierung (FR), der Auftakt von Matthias Lilienthals Intendanz an den Münchner Kammerspielen (online nachgereicht von der Zeit) und Roland Schwabs Inszenierung von Arrigo Boitos "Mefistofele" an der Bayerischen Staatsoper (FAZ).
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Kunst


Chiharu Shiota, Seven Dresses[Stadtgalerie Saarbrücken, Saarbrücken / Germany]photo by Sunhi Mang

Philipp Meier besucht für die NZZ eine Ausstellung über Textilkunst im Museum Bellerive, die zeigt, dass Künstlerinnen die Arbeit mit textilen Materialien schätzen, weil sie eine Kunst jenseits der von Männern besetzten Malerei und Bildhauerei ermöglicht, einen weiblich konnotierten Kunstdiskurs eben. Ganz anders dann wieder die Japanerin Chiharu Shiota, so Meier: Ihr "abstrakt-konzeptuell anmutendes Werk, in dem sie mit schwarzen Wollfäden Kleider, Betten, Schuhe, Scheren, Pianos und ganze Wohnzimmer umgarnt, erinnert daran, dass es eine Textilkunst jenseits feministischer Ansätze gibt".

Au weia, hoffentlich hält Ai Weiwei es in Berlin aus. Sein Antritt als Gastprofessor der Berliner Universität der Künste war nicht gerade vielversprechend, und das lag nicht an ihm, stellt Arno Widmann in der Berliner Zeitung klar: "Vier Professoren befragten knapp über eine Stunde lang Ai Weiwei. Hübsch einer nach dem anderen und wenn Ai einsilbig antwortete, röteten sich die Wangen der Professoren. Sie wurden hektisch und wussten nicht, was sie machen sollten. Die eine Dame und die drei Herren waren allesamt sichtlich überfordert. Eine nette, kleine Performance, mehr war ja nicht gefragt - das war offensichtlich schon zu viel für sie. Was, werden die etwas wacheren der anwesenden Studentinnen und Studenten sich gefragt haben, können die mir beibringen?" (Bild: Ai Weiwei, Instagramm)

Gibt es in der Kunst seit den Neuen Wilden in den Achtzigern einen neuen Hang zum Götzenkult? Warum beeindrucken uns archaisch geformte Gesichter und Körper immer noch so? Dieser Frage stellt sich in der Kunsthalle Düsseldorf Kurator Veit Loers in seiner Schau "Avatar und Atavismus - Outside der Avantgarde", erzählt eine beeindruckte Gesine Borcherdt in der Welt: "Um solchen Überlegungen nachzugehen, schlägt im Zentrum der Schau ein unruhiges Herz: In einem eigenen Stellwandbereich sind Arbeiten von Autodidakten aus psychiatrischen Einrichtungen zu sehen - unter anderem von Patienten einer Klinik nahe Feltre in Norditalien, wo Veit Loers seit ein paar Jahren lebt. Dicht zusammengestellt in einer Petersburger Hängung zeigen sich hier erstaunliche Parallelen zu den Künstlern in den anderen Bereichen der Schau, die trotz ihrer Tendenz zu atavistischen Bildwelten im Kunstbetrieb verwurzelt sind." (Bild: EvaKot'átková, aus der Serie Theatreof speaking objects, 2014. Courtesy Meyer Riegger)

Weitere Artikel: Der Tagesspiegel spricht mit dem nigerianischen, sich derzeit in Berlin umschauenden Kurator Folakunie Oshun. Hermann Rudolph gratuliert dem Kunstsammler Dieter Rosenkranz im Tagesspiegel zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Ausstellung "Der Buddhismus der Madame Butterfly" im Ethnografischen Museum in Genf (online nachgereicht in der FAZ), die Ausstellung "Jugendstil - Die große Utopie" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (SZ), die Ausstellung "Greater New York" im PS1 des MoMA in New York (FAZ), die Ausstellung "Splendeurs et misères. Images de la prostitution, 1850-1910" im Pariser Musée d'Orsay (die Kuratoren haben einfach die Gelegenheit ergriffen "nackte Frauen zu zeigen", ärgert sich Lena Bopp in der FAZ) und die Ausstellung zur Wiederöffnung der Barock- und Rokoko-Säle des Bayerischen Nationalmuseums in München ("Noch nie ist die mikrokosmologische Feinarbeit der wittelsbachischen Wimmelbildwerke so plastisch zur Geltung gekommen", schreibt Patrick Bahners in der FAZ).
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Film

Detlef Kuhlbrodt berichtet in der taz vom Internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig. Das Kino ist in den letzten Jahren so versessen wie noch nie auf wahre Geschichten, beobachtet SZ-Filmkritikerin Susan Vahabzadeh: "Dramaturgische Freiheiten sind passé - man könnte meinen, die gesamte Fiktion sei in Verruf geraten."

Besprochen werden Jean-Jacques Annauds "Der letzte Wolf" (Tagesspiegel), Christian Ulmens "Macho Man" (FAZ), der neue "Macbeth"-Film mit Michael Fassbender (taz), die gestern auf Arte ausgestrahlte Doku "Cinema Perverso" über die Geschichte der deutschen Bahnhofskinos (FR, hier in der Mediathek) und Sam Mendes' neuem James-Bond-Film "Spectre" ("Es war wieder mal prima lebensgefährlich, Liebling - bis bald!", freut sich Dietmar Dath in der FAZ).
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Musik

Mit "The Stone Tape", einem Remake eines britischen Horror-Fernsehfilms aus den 70ern (hier ein Ausschnitt), hat der Filmregisseur Peter Strickland ("Berberian Sound Studio", "The Duke of Burgundy") pünktlich zu Halloween sein zweites Radio-Hörspiel für die BBC vorgelegt. Das Hörspiel um einige Wissenschaftler, die in einem verlassenen Haus allerlei Geräte für Klangaufnahmen aufbauen, ist klangästhetisch vor allem für Freunde alter Synthesizer interessant, versichert uns John Doran auf The Quietus: "For me, probably the unsung heroes of tonight are the Ampex tape operators and analog special effects people Steve Haywood and Raoul Brand, not to mention Eloise Whitmore who was responsible for the sound mix. ... There are clear nods, not only to the BBC Radiophonic Workshop but also to the kosmische synthesizer players of the 1970s and the tape loop/musique concrete pioneers Pierre Schaefer and Steve Reich and the way the idea of audio loops and loops in time are combined in the script is very smart." Bei der BBC steht das Hörspiel zum Nachhören online bereit.

Weitere Artikel: Jens Balzer von der Berliner Zeitung gerät bei einem Berghain-Festival des Labels Blackest Ever Black beim Düsterkrach-Techno von Prurient gehörig aus dem Takt, nachdem er zuvor noch den Postpunk der Berliner Band Diät genossen hat. Stefan Schickhaus von der FR spricht mit dem Musiker und Aktivisten Fazil Say. Zeit-Musikkritiker Volker Hagedorn hört neue Aufnahmen von Kompositionen aus der Familie Bach. Fann Kniestedt porträtiert in der taz den in Berlin lebenden, nigerianischen Klangkünstler Emeka Ogboh. In der FR berichtet Stefan Michalzik vom Jazzfestival in Frankfurt, von dem FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner sehr zufrieden nach Hause kam: Ihm bot sich "die Bandbreite einer in hundert Jahren ehrwürdig ergrauten, quicklebendigen Musik" (beim Hessischen Rundfunk gibt es Videoaufnahmen aller Konzerte). Dass keiner - und insbesondere Leute unter 30 - mehr gerne telefoniert, schlägt sich auch im Pop nieder, erklärt Jan Kedves in der SZ: Mit ihren neuen Videos begründen Adele und Drake seiner Ansicht nach das Genre des Mailbox-Pop.
Archiv: Musik