Efeu - Die Kulturrundschau

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22.04.2024. Der Goldene Löwe der diesjährigen Venedig-Biennale geht an den australischen Künstler Archie Moore - damit gewinnt die "strengste und stillste" Installation des Wettbewerbs, findet die SZ. Wegen Solidaritätsbekundungen mit Israel werden die Kurzfilmtage Oberhausen nun boykottiert, erklärt der Festivalleiter Lars Henrik Gass in der SZ. Vollkommen irre findet es Dirigent Antonio Pappano in der FAZ, dass Klassik und Oper der Vorwurf gemacht wird, zu sehr in den Archiven der eigenen Geschichte zu stecken. Die FAZ-Kritiker bekommen außerdem große Augen bei einer Pracht-Ausstellung in Konstanz über das Kloster Reichenau.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Archie Moore, neuseeländischer Pavillon auf der Biennale von Venedig 2024. Courtesy of Archie Moore and TheCommercial | photography by Andrea Rossetti


Der Goldene Löwe der diesjährigen Biennale geht an den australischen Künstler Archie Moore, berichtet Jörg Häntzschel in der SZ. Moore, der von den Kamilaroi und Bigambul abstammt, hat "seinen Stammbaum mit Kreide an die Wände gezeichnet. Er umfasst 3.500 Personen und reicht Hunderte Jahre zurück. Immer wieder sind darin Lücken zu sehen, weil die Genealogie der First Nations oft undokumentiert blieb. Moore erklärte, er wolle mit seiner Arbeit an die Unterdrückung der Aborigines durch die europäischen Siedler erinnern. 'Wir sind alle eins und tragen gemeinsam die Verantwortung für alle Lebewesen, jetzt und in der Zukunft', sagte er." Damit gewinnt "die strengste, stillste und konzeptuell stringenteste unter den Länderbeiträgen der Biennale. Sie kommt ohne Bilder und ohne Farbe aus und stellt damit nicht nur ein radikales Gegenprogramm zu den meisten Pavillons dar, sondern hebt sich auch von der Ästhetik vieler anderer indigener Künstler auf der Biennale ab." Der Preis für die besten Künstler ging an das neuseeländische Mataaho Collective, so Häntzschel.

Fingerring mit byzantinischer Goldmünze als Platte. Foto: Peter Gaul.

Viele wertvolle und seltene Exponate bekommt FAZ-Kritiker Tilmann Spreckelsen in einer Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zu sehen: "Welterbe des Mittelalters: 1.300 Jahre Klosterinsel Reichenau" hat nicht weniger als "fünf der zum UNESCO-Welterbe zählenden Reichenauer Prachthandschriften" zu bieten, staunt Spreckelsen, und das ist nicht alles: "Gezeigt werden etwa ein kostbarer Schrein mit Reliquien des Klostergründers Pirmin und ein Armreliquiar der heiligen Verena, ebenfalls im Bodenseeraum tätig und berühmt dafür, Schlangen und anderes Gewürm vertrieben zu haben. Pirmin leistete dasselbe auf der Reichenau, und angeblich soll die umliegende Seeoberfläche drei Tage lang von davonziehenden Reptilien gewimmelt haben." Auch Johann Schloemann jubelt in der SZ über diese "prächtige" Ausstellung.

Besprochen werden die Ausstellung "War Requiem" mit Werken des israelischen Filmemachers Amos Gitai in der Salzburger Villa Kast (Welt) und die Ausstellung "Nova" von Li Zhi in der Galerie Bernet Bertram in Berlin (tsp).
Archiv: Kunst

Film

Eigentlich feiern die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen in diesem Jahr ihr 70. Jubiläum - doch es hagelt am laufenden Meter in ihrem Umfang mittlerweile programmgefährdende Absagen. Der Grund? Festivalleiter Lars Henrik Gass hatte es gewagt, den Jubel auf der Sonnenallee über das Hamas-Massaker vom 7. Oktober als das zu bezeichnen, was er war - Hamas-Propaganda und Judenhass -, und zur Solidarität mit Juden aufgerufen. Das wurde ihm prompt bösartig als Angriff auf alle palästinensischen Menschen umgedeutet, unter anderem in Form anonym lancierter Unterschriftenaktionen. Solche "Kampagnen hält Gass für eine 'neue Qualität der Repression'", schreibt Alexander Menden in der SZ. "'Die Sektion, die Filmlaboren gewidmet war, mussten wir ganz stornieren', sagt Gass. ... Es ist schwer zu sagen, ob die Oberhausener Absagen auf Überzeugungen beruhen oder ob sie das Ergebnis eines Gruppendrucks sind. Der Kulturbereich ist nun mal klein, man kennt sich und ist voneinander abhängig. Lars Henrik Gass sieht eine Art Dominoeffekt am Werk: 'Ein Filmemacher, der sich bewirbt, muss sich vor seinem Verleih, der Verleih vor anderen Verleihen rechtfertigen: Warum gehst du nach Oberhausen?' Etwa 20 Prozent des gesamten Programms hätte in der Folge nachgearbeitet werden müssen."

Weiteres: Die Regisseurin Kat Rohrer, die mit "What a Feeling" gerade die erste queere Komödie aus Österreich vorgelegt hat, spricht im Standard mit Valerie Dirk über den Stand der Dinge der queeren Repräsentation im österreichischen Film. Besprochen werden Ryūsuke Hamaguchis "Evil Does Not Exist" (Jungle World, FAZ, mehr dazu bereits hier), Martin Durkins auf Youtube gezeigter, klimawandel-skeptischer Film "Climate: The Movie" ("ein völlig irreführendes Zerrbild von der Klimaforschung und der Klimapolitik", findet Sven Titz in der NZZ), Mark Salisburys Bildband "Being Bond: Daniel Craig - Ein Rückblick" (FD) und die Amazon-Serie "Fallout" nach dem gleichnamigen Videospiel (FAZ).

Und beim Lichter-Filmfestival in Frankfurt unterhielt sich der Filmemacher Christoph Hochhäusler mit den Architekten Dietmar Feistel und Hugo Herrera Pianno über die Zukunft von Kino-Architektur:

Archiv: Film

Musik

In der FAZ spricht Gina Thomas mit Sir Antonio Pappano, der nach mehr als zwanzig Jahren an der Londoner Covent-Garden-Opera im Herbst die Nachfolge von Simon Rattle beim London Symphony Orchestra antritt. Auch darauf, dass sich die englische Kulturpolitik wohl darauf eingeschossen hat, in London künftig nur noch ein Opernhaus zu finanzieren, kommt er zu sprechen. In einem Gutachten wurde unter anderem kritisiert, dass die Londoner Opernwelt zu wenig gegenwärtig sei. Daraus sprächen "die engstirnigen Mittdreißiger mit selbstgerechtem Gewissen", kommentiert Pappano. "Nehmen wir Bach, der 1750 starb. Sollten wir ihn marginalisieren, bloß weil er alt und bekannt ist? Das ist Unfug. Die Menschheit besteht aus Generationen, die teilhaben müssen am Glanz vergangener Zeiten. Junge Menschen haben einen riesigen Vorteil, weil die Einkaufsliste für Kunst und Musik aller Arten von Klassik zu Pop gigantisch ist. 'Bohème' oder 'Rigoletto' zum ersten Mal zu sehen ist ein grandioses Erlebnis. Diese Werke sind nicht ohne Grund berühmt." Und mit Blick auf die englische Kulturpolitik: "In diesem kulturellen Mekka kommt es einem vor, dass vorzügliche Leistung bestraft wird."

Elmar Krekeler sorgt sich im Welt-Kommentar nach dem Herrenberg-Urteil (das Musikhochschulen dazu verpflichtet, "bisherige Honorarkräfte (die bis zu 70 Prozent aller Unterrichtsstunden bestreiten) sozialversichert anzustellen") um die Zukunft des Musikstandorts Deutschland. Da sich die Kommunen eher schwer damit tun, ihre zur Verfügung gestellten Mittel dem Urteil gemäß adäquat aufzustocken, werde wohl eher eine ausgedünnte Personaldecke die Folge sein. "Damit würden - wenn von den Kulturverantwortlichen auf allen Ebenen nicht ganz schnell über neue Strukturen nachgedacht wird - alle verlieren: Das Lehrpersonal, das seinen Lebensunterhalt verliert, die Schüler, die mit einem ausgedünnten Angebot auskommen müssen. Und das in einer Zeit, in der Musikunterricht auch an allgemeinbildenden Schulen zunehmend bedroht ist. Die vom Ausland bewunderte (Schein-)Idylle wird die deutsche Musiklandschaft so nicht lange bleiben."

Weitere Artikel: In der Presse sinniert Wilhelm Sinkovicz über Bruckners Verhältnis zu Gott. Jan Brachmann schreibt in der FAZ zum Tod des Dirigenten Sir Andrew Davis. Christoph Dieckmann schreibt auf Zeit Online einen Nachruf auf Dickey Betts von den Allman Brothers. Tye Maurice Thomas erinnert im Tagesspiegel an den indischen Musiker Kamalesh Maitra, der deißig Jahre lang in Berlin lebte und vor hundert  Jahren geboren wurde. Und im FAZ-Bücherpodcast plaudert Dietmar Dath über sein Buch über Miley Cyrus.

Besprochen werden die postum veröffentlichten Vorlesungen des Poptheoretikers Mark Fisher (Jungle World) und das neue Album von Taylor Swift (Welt, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Musik

Literatur

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Die Welt bringt heute den zweiten Teil des Gesprächs, das Martin Scholz mit Salman Rushdie zur Veröffentlichung von "Knife" (heute auch in der NZZ besprochen) geführt hat. Auf eine Aussprache mit seinem Attentäter werde er sich nicht einlassen, erklärt der Schriftsteller: "Da würde ich nur ein Klischee antreffen." Wichtiger war es ihm, sich nach seiner ersten Genesung zum Gefängnis zu begeben, in dem der Attentäter einsitzt, und dort Fotos zu schießen, wobei Rushdies Frau ihn wohl vom Herumalbern zurückhalten musste. "Das Chautauqua County Jail ist ein schlichtes Gefängnis, ein Block mit einer Mauer drumherum samt Stacheldraht - nicht sonderlich beeindruckend. Ich dachte: 'Er ist da drinnen eingesperrt, während ich hier draußen bin und einen schönen Tag verbringe." Er empfand Genugtuung, "aber wohl auch Freude, am Leben zu sein. Jedenfalls fingen meine Füße an zu tanzen, ohne dass ich sie dazu aufgefordert hatte." Künftig wolle er einfach sein "Leben leben. Im Juni werde ich 77. Ich weiß ohnehin nicht, wie viel mehr Jahre da noch kommen werden. Freunden gegenüber mache ich immer Witze, dass wir so langsam mal darüber nachzudenken sollten, wie ich meinen hundertsten Geburtstag feiern sollte. ...  Es sollte schon eine Tanz-Party werden."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Michal Hvorecký erzählt im Standard von seiner Reise auf Kafkas Spuren in die Hohe Tatra. Außerdem verneigt sich der Autor Hans Platzgumer im Standard vor Kafka. Die Comiczeichnerin Josephine Mark gibt im Tagesspiegel-Fragebogen Einblick in ihre Arbeit. Der Schriftsteller Christoph W. Bauer gratuliert im Standard seinem Kollegen Robert Schindel zum 80. Geburtstag. Im Literaturfeature für Dlf Kultur wirft Miriam Zeh einen Blick auf "die neue Solidarität am Buchmarkt".

Besprochen werden unter anderem Vigdis Hjorths "Ein falsches Wort" (FR), der Briefwechsel zwischen Virginia Woolf und Vita Sackville-West (NZZ), Percival Everetts "James" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Christina Röckls "Bus" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Urs Heftrich über Iwan Frankos "Es liegt ein Dorf im Tale drin":

"Es liegt ein Dorf im Tale drin,
Darüber schwebt der Nebel hin.
Und beim Dorfe hoch am Hang ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Die Ehe der Maria Braun" am Schauspiel Frankfurt. Foto: Birgit Hupfeld.

Einen Fassbinder-Film auf die Bühne bringen? Judith von Sternburg hat in der FR einige Bedenken. Und so ganz kann Lilja Rupprechts Adaption von "Die Ehe der Maria Braun" am Schauspiel Frankfurt diese auch nicht zerstreuen. Dazu hat Sternburg doch viel zu sehr die grandiose Vorlage im Kopf, die das Schicksal von Maria und gleichzeitig deutsche Geschichte vom Ende des Krieges bis Mitte der Fünfziger Jahre erzählt. Aber, es gibt dann noch ein "kleines Wunder" für die Kritikerin und das Theater kann sich mit seinen eigenen Mitteln behaupten: "So. Und dann kommt die Szene, in der Maria für ihren neuen Arbeitgeber mit einem Ami verhandelt. Rupprecht blendet nicht weg (aber Text gibt es auch nicht), sondern sie lässt Manja Kuhl tanzen und der Ami, Michael Schütz, tanzt gleich mit, und der Unternehmer und Geliebte in spe, Sebastian Reiß, tanzt dann auch mit, und schließlich tanzen alle nach Marias ziviler Pfeife. Und da ist auf einmal eine Leichtigkeit, die nicht läppisch ist, sondern bezaubernd."

Auch Sandra Kegel ist in der FAZ zufrieden mit diesem Theaterabend: "Die Inszenierung ist ideenreich, es wird gesungen und getanzt, mit in den Fünfzigerjahren aus Amerika importierten Hula-Hoop-Reifen hantiert und mit Sitzbällen, die zur Weltmetapher werden im beginnenden Kalten Krieg. Trotz aller Showeinlagen aber steht im Vordergrund der Text."

Weitere Artikel: Zum hundertsten Todestag von Giacomo Puccini zeigt Bertelsmann in Berlin die Multimedia-Ausstellung "Opera Meets New Media - Puccini, Ricordi und der Aufstieg der modernen Unterhaltungsindustrie"(gelungen", in "ihrer virtuellen Fülle allerdings überbordend" findet Manuel Brug in der Welt - Clemens Haustein bemängelt in der FAZ hingegen, dass hier der erfolgreiche Geschäftsmann zu sehr in den Vordergrund rückt und der Künstler ins Hintertreffen gerät.)

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von "Rom" nach Shakespeare in einer Fassung von Julia Jost am Volkstheater Wien (nachtkritik), Toshiki Okadas Inszenierung seines Stücks "Home Office" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik), Jan Friedrichs Inszenierung von "Romeo und Julia … oder Szenen der modernen Liebe" nach Shakespeare am Staatstheater Mainz (nachtkritik, FR), Christian Breys Inszenierung der musikalischen Komödie "Zusammenstoss" nach Kurt Schwitters und Ludger Vollmer am Theater Heidelberg (nachtkritik), das musikalische Stück "Signal To Noise" der Theatergruppe Forced Entertainment im Frankfurter Mousonturm (FR), Alexander Giesches Adaption von Tennessee Williams Roman "Moise und die Welt der Vernunft" am Zürcher Schauspielhaus (NZZ) und Stefan Puchers Inszenierung von Hermann Melvilles Roman "Moby Dick" am Münchner Residenztheater (SZ).
Archiv: Bühne