Efeu - Die Kulturrundschau

Der echte Alarm

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2022. Die SZ opponiert gegen den Kuschelfeminismus, mit dem Leonie Böhm in Hamburg Schillers Jungfrau von Orleans dezidiert nicht in die Schlacht ziehen lässt. Außerdem schwärmt sie von lässigen Licks und schlurfenden Grooves bei Little Simz. Die NZZ geht den Ursachen der Kinokrise nach und verirrt sich im Dickicht der Vertriebsförderung. Die FAZ berichtet vom Tauziehen um Joshua Reynolds Porträt eines jungen Polynesiers, für das die National Portrait Gallery bis März 50 Millionen Pfund aufbringen muss, um das Bild im Land zu halten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Joshua Reynolds: Porträt des Omai, 1776 / Wikimedia

Seit Wochen wird in Britannien um Joshua Reynolds lebensgroßes Porträt des Polynesiers Omai gerungen, eines der beliebtesten Werke der englischen Porträtmalerei, berichtet Gina Thomas in der FAZ. Lange gehörte es einem irischen Rennpferdzüchter, jetzt scheint er es verkauft und der unbekannte neue Eigentümer eine Exportlizenz beantragt zu haben: "Nach der Schätzung durch zwei von ihm beauftragte Sachverständige ist der Wert des Bildes auf fünfzig Millionen Pfund eskaliert, ein Betrag, der es für die meisten öffentlichen Institutionen unerschwinglich macht und im Handel einiges Stirnrunzeln verursacht hat. Das ist jedoch nun der Preis, der bis März 2023 aufgebracht werden muss, um 'Omai' für die britische Nation zu sichern. Die Londoner National Portrait Gallery behauptete vor einigen Monaten, knapp die Hälfte der Summe gesammelt und zudem mit 2,5 Millionen Pfund die bislang größte Zuwendung des Art Fund erhalten zu haben, einer gemeinnützigen Stiftung, die britische Museen beim Ankauf von Kunstwerken nationaler Bedeutung unterstützt."

Weiteres: Michael Lange gratuliert in der FAZ dem amerikanischen Fotografen Tony Vaccaro zum Hundertsten.
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Bühne

Schillers "Jungfrau von Orleans". Foto: Sinje Hasheider /  Hamburger Schauspielhaus

In der SZ nutzt Till Briegleb Leonie Böhms Inszenierung von Schillers "Jungfrau von Orleans" am Hamburger Schauspielhaus, um einige grundsätzliche Worte gegen den Sanftheitsfeminismus der Regisseurin zu verlieren. Denn bei Böhm verweigert sich Johanna dem Konflikt, entsetzt sich Briegleb, gefechtet wird höchstens "mit Blockflöten": "Betrachtet man Leonie Böhms kategorische Distanzierung von gewalttätigen Auseinandersetzungen aber vor dem Hintergrund aktueller Krisen, dann schafft diese Inszenierung mehr das Abbild eines naiven Egoismus. Der Rückzug ins Nette ist dann nichts anderes als die Ignoranz der Privilegierten, die nicht mitmachen wollen, weil sie es gar nicht müssen. Modernes Aussteigertum in der Luxusblase, wo drei Frauen spielen 'Was wäre wenn...', während außerhalb ihres Kuschelraums der echte Alarm längst die Dichtung abgelöst hat."

Besprochen werden August Strindbergs "Fräulein Julie" am Badischen Staatstheater Karlsruhe (Nachtkritik), Claudia Bauers "Valentiniade" am Münchner Residenztheater (taz, FAZ) und Martin Schläpfers neue, von Traditionalisten angefeindete "Dornröschen"-Choreografie am Wiener Staatsballett (NZZ).
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Film

Andreas Scheiner nimmt die Pleite eines Zürcher Kinos zum Anlass, in der NZZ über die Kinokrise allgemein nachzudenken und deren Ursachen zu erforschen. Dabei stößt er auch mit Blick auf Deutschland auf ein kaum entwirrbares Paradox: Immer mehr Filme haben zwar einen Kinostart, aber immer weniger Publikum kommt auch in die Säle - und die interessantesten Filme landen oft von vornherein via Streaming im Heimkino. Wer das zu entwirren sucht, "landet in einem Dickicht von Vertriebsförderreglementen, hört auch amüsante Geschichten über knausrige Studios, die nicht an die eigenen Titel glauben. Der Filmfan muss jedenfalls daheim bleiben. Wenn er etwa den neuen Noah Baumbach sehen will. ... Selbst wenn ihnen Netflix nicht ins Geschäft pfuscht, bringen die Verleihfirmen nicht unbedingt die publikumswirksamsten Filme in die Kinos. Sondern jene, für die sie Förderung beantragen können. Amerikanische Mittelklasseproduktionen fallen durchs Raster. Und stattdessen kommen Nischenfilme zum Zug, in denen bereits europäische Produktionsgelder stecken."

Außerdem: Susanne Lenz spricht in der Berliner Zeitung mit der Schauspielerin Nina Kunzendorf über die RTL-Serie "Haus der Träume" und das Altern in der Filmbranche. Im Standard empfiehlt Valerie Dirk die Wiener Filmschau "Cinema Royal" über Königshäuser in der Filmgeschichte. Das E.T.-Originalmodell ist für 2,4 Millionen Dollar versteigert worden, meldet Philipp Bovermann in der SZ. Besprochen wird Charlotte Wells "Aftersun" (ZeitOnline).

Und: Die Berlinale lässt sich künftig von Uber sponsoren, meldet unter anderem der Tagesspiegel. Die Taxifahrer Berlins bedanken sich.
Archiv: Film

Design

Pavillon de chasse de Marly


Falls Sie sich schon mal gefragt haben, warum französische Botschaften immer so elegant eingerichtet sind - das liegt an Ludwig XIV., der zusammen mit Colbert eine üppig alimentierte Abteilung im königlichen Haushalt schuf, die Garde-Meuble de la Couronne, aus der Botschaften und Elysee-Palast heute noch schöpfen, erzählt nach dem Besuch der Pariser Mobilier national Marcus Woeller in der Welt. In den Dreißigern begann man auch moderne Möbel zu sammeln: "Präsident Auriol startete nach seinem Amtsantritt 1947 ein umfangreiches Renovierungsprojekt im Élysée Palast. Während er in den offiziellen Bereichen vorsichtig modernistische Möbel (wie etwa ein reich intarsiertes Lack-Sideboard von Dominique und Paul Cressent) in die historischen Raumfluchten stellen ließ, war in seinen privaten Gemächern der plötzliche Einzug der Gegenwart deutlicher zu spüren. So entwarf Colette Guéden für die First Lady Michelle Auriol einen hypermodernen Schminktisch aus Chrom und Glas. Das präsidiale Badezimmer wurde - wie viele andere Räumlichkeiten in Botschaften und Regierungsbehörden - in der Ausstellung 'Le Chic!' nachgebaut. Die von dem angesagten Interiordesigner Vincent Darré kongenial inszenierte Schau stellt nicht nur die Entwürfe der bedeutenden Designer und Dekorateure vor, sondern auch die Arbeit der Handwerker des Mobilier national in den Fokus."
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Stichwörter: Französisches Design, Möbel

Literatur

Tomáš Kafka, tschechischer Botschafter in Berlin und Schriftsteller, erinnert sich in der Welt an Hans Magnus Enzensberger, von dem er einige Gedichte ins Tschechische übersetzt hat. "Kaum jemand tat fürs Image der offiziellen Bundesrepublik so viel wie" Enzensberger, meint er. Dank ihm "durfte sich auch Deutschland aufgeschlossener, verspielter und erfinderischer fühlen, zumindest in der eigenen Wahrnehmung. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick etwas zauberhaft wirken, aber das macht nichts. Einerseits war Enzensberger selbst etwas zauberhaft, andererseits war er nicht der einzige unruhige, verspielte und erfinderische Geist, dem so etwas gelungen ist. In meinem Land gelang es dem ehemaligen Präsidenten Vaclav Havel. Der war für Tschechien und uns Tschechen offensichtlich genauso typisch wie Enzensberger für Deutschland und Deutsche."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Gayl Jones im Original 1975 erschienener Roman "Corregi dora" (Intellectures), Julian Barnes' "Elizabeth Finch" (online nachgereicht von der FAZ), Yeva Skalietskas "Ihr wisst nicht, was Krieg ist" (FR), G.H.H.s Novelle "Achtzehnhundertachtundachtzig" (SZ) und Martin Gross' "Ein Winter in Jakuschevsk" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Mit ihrem neuen Album "No Thank You" ist Little Simz ganz bei sich angekommen, freut sich Jonas Wagner in der SZ. Ihr Produzent Inflo "verteilt Gospel- und Soul-Samples großzügig auf beinahe jeden Beat; mal als einzelne Stimme in abrupt abgeschnittenen Bits, mal als volltönende Chor-Untermalung. Dazu minimalistische Retro-Breakbeats, stolpernde Bassdrums, trockene Snares, nervös schwingende Hi-Hats. Alles gerade noch so im Takt, alles damit aber auch wunderbar organisch, atmendlebendig. Und als Klammer: Orchesterpomp. ... Man höre stellvertretend etwa 'Gorilla': Fanfaren-Intro, Flughöhe Blockbuster-Intro. Dann kippt das Ganze aber. Der Beat rumpelt und das anbetungswürdig lässige Kontrabass-Lick, das man schon aus 'Concrete Schoolyard' von Jurassic 5 kennt, schmiert seinen schlurfenden Groove in die Szenerie."



Wenn der Pianist András Schiff Bach spielt, lässt sich über den Komponisten noch einiges lernen, schreibt NZZ-Kritiker Christian Wildhagen nach einem Konzert in Zürich. So zeigt sich, "wie vielfältig die Strategien sind, mit denen Bach das Instrument aus seiner bis dahin überwiegend dienenden Rolle als Teil des barocken Basso continuum befreit. Mal dialogisiert es mit dem Orchester, mal spinnt es dessen Motive fort, mal fügt es sich ein, mal tritt es in offenen Wettstreit. Schiff differenziert diese bis heute gültigen Prinzipien ausgesprochen feinsinnig, indem er Solopassagen organisch aus dem Gesamtklang hervortreten lässt, und zwar nicht so sehr durch Lautstärke, eher durch Wechsel im Klang, in der Artikulation und in der Intensität. Danach geht der Klavierton wieder bruchlos im Orchesterklang auf." Schiff "spielt historisch informiert, aber in umgekehrter Richtung: mit Blick in die Zukunft. So macht er an mehreren Stellen deutlich, wie viel etwa Beethoven dem polyfonen Denken Bachs verdankt." Bernhard Uske resümiert in der FR Schiffs Konzert in Frankfurt.

Besprochen werden ein Strauss-Abend mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Robin Ticciati und ein Lieder-Zyklus der Berliner Philharmoniker mit Camilla Nylund unter Christian Thielemann (FAZ), ein von Alain Antinoglu dirigiertes Konzert der Wiener Symphoniker (Standard), das neue Album des Schweizer Rappers Pronto (Zeit) und Batidas Album "Neon Colonialismo" (taz). Außerdem geben die Kritikerinnen und Kritiker von ZeitOnline ihre Pop-Geheimtipps des Jahres preis, darunter "Felicita" von Anadol:

Archiv: Musik