Efeu - Die Kulturrundschau

Der Diskant ist sehr brillant

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2022. Uneins sind sich FR und FAZ, wie ernst man heute noch Sartres "Schmutzigen Hände" nehmen muss. Der Tagesspiegel sorgt sich um das Kiewer Dowschenko-Zentrum, das bedeutendste Filmarchiv der Ukraine. Die taz lernt im Karlsruher ZKM die Kunst der tätigen Muße mit Soun-Gui Kim. Die SZ erzählt, dass alte japanische Handschriften mittlerweile nur noch von KI-Programmen entziffert werden können. In der FAZ entdeckt Robert Levin auf alten Instrumenten Mozarts Humor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.10.2022 finden Sie hier

Bühne

Politdrama oder Vaudeville? Sartres "Schmutzige Hände" Foto: Birgit Hupfeld / Frakfurter Schauspielhaus

Am Schauspiel Frankfurt hat Lilja Rupprecht Jean-Paul Sartres Politdrama "Die schmutzigen Hände" inszeniert, in dem mit großem Ernst Fragen zu politischem Mord, Gehorsam und Verrat verhandelt werden. In der FAZ ist Sanrda Kegel begeistert: "Dem herausragenden Frankfurter Ensemble gelingt es, dem Sartre'schen Thesen-Gewitter seine burlesken Qualitäten zu entlocken, bis sich aus dem Mantel des Brecht'schen Lehrstücks eine Tragikomödie herausschält und manchmal sogar Vaudeville. In der FR versteht Judith von Sternburg dagegen gar nicht, was ihr Rupprecht sagen will: "Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die siebziger Jahre hinein waren das mit Leidenschaft geführte Diskussionen, heute sind sie gruselig aus der Zeit gefallen oder bedürfen einer neuen, beinhart politischen Justierung - ist doch zum Beispiel das Thema der Selbstzerfleischung unter Linken keineswegs erledigt, ebenso wenig die politische Balance zwischen Kompromiss und Geradlinigkeit. Oder die soziale Aneignung: Hugo, der Westentaschensozialist, dem die 'echten' Proletarier misstrauen. Nun dokumentiert die Inszenierung von Lilja Rupprecht im Frankfurter Schauspielhaus allerdings im Übermaß, dass sie mit alledem gar nichts anfangen will. Dies aber mit Aufwand."

Die Berner Bühnen haben jetzt auch ihren Skandal von Übergiffigkeit und kläglichem Managment. In der SZ wundern sich Dorion Weickmann und Isabel Pfaff eigentlich nicht, dass die Sparte Tanz mit ihrem frühkindlichen Drill und ihren Körperidealen anfällig für sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch ist. Aber dann irgendwie doch: "Schließlich ist eine Kunst, die Essstörungen aller Art triggert und Karrieren um den Preis des Wegduckens und der Demütigung begünstigt, heute weder arbeitsrechtlich noch gesellschaftlich akzeptabel."

Weiteres: Im Standard blickt Margarete Affenzeller auf die einst erfolgsverwöhnten Wiener Festwochen, die mit ihren ständig wechselnden Intendanten und Schauspielchefinnen nicht aus der Dauerkrise herauskommen. Für Affenzeller sind aber nicht nur die hausinternen Intrigen schuld an am Ungemach, sondern auch Unübersichtlichkeit und Kleinteiligkeit des demokratisierten Theaters. Zum Siebszigsten gratuliert in der FAZ Gerhard Stadelmaier himself der Regisseurin Andrea Breth, die Großes liebt und wagt, wie er schreibt: "Sie ragt - Zadek, Grüber, Bondy, Brook und Chéreau sind leider nicht mehr am Leben - neben Peter Stein als glanzvolles Restmitglied der einstigen europäisch humanen Welttheater-Genie-Phalanx weit hinaus über die G'schaftlhuber-Szene des deutschen Theaters als dramenloser, dafür schrei- und moralinsatter aktivistischer Aktual-Modenanstalt."

Besprochen werden das Musikdrama "Negar" von Marie-Éve Signeyrole und Keyvan Chemirani, das die iranische Protestbewegung behandelt, an der Deutschen Staatsoper (Tsp), Suna Gürlers "My Heart Is Full of Na-Na-Na" am Zürcher Schauspielhaus (Nachtkritik), Simon Stones Instagram-Fassung von Verdis "La Traviata" an der Wiener Staatsoper (Standard), Claudia Bossards Goethe-Abend "Feeling Faust" am Münchner Volkstheater ("Ein offenes Assoziationskaleidoskop, in dem die brillanten Momente in der Flut der Uneigentlichkeit schwierig aufzuspüren sind", seufzt Egberth Tholl in der SZ), der Auftakt des Rhein-Main-Tanzfestivals (FR), Albert Lortzings "Undine" an der Oper Leipzig (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Das Dowschenko-Zentrum in Kiew ist das bedeutendste Filmarchiv der Ukraine - und nun nicht nur der Gefahr durch russische Bomben ausgesetzt, sondern auch durch Angriffe seitens der Politik, berichtet Valeriia Semeniuk im Tagesspiegel: Das in den letzten Jahren international erfolgreiche Zentrum solle umstrukturiert werden, im Zuge aber auch seine Sammlung verlieren. "Bei dem Konflikt geht es um tiefgreifende Umstrukturierungen und Eigentumsrechte am Gebäude", so "wurde kürzlich bekannt, dass der Staatliche Eigentumsfonds zwei der vier Gebäude des Zentrums privatisieren will. Das Grundstück, auf dem sich die Gebäude befinden, ist für Bauherren attraktiv, in unmittelbarer Zentrumsnähe entsteht derzeit ein luxuriöses Hochhaus. ... Offiziell geht es 'nur' um die Reorganisation, nicht um die Auflösung des Zentrums. Die Beamten glauben, dass es viel mehr Geld ausgibt, als es einnimmt. Aber die finanziellen Gründe leuchten nicht ein, denn statt des Zentrums soll es künftig drei Organisationen für das Filmerbe geben, das dürfte den Staat kaum weniger kosten."

Weiteres: In der FAS legt uns die Schriftstellerin Ronya Othmann Mano Khalils kurdisches Drama "Nachbarn" ans Herz, in dem sie auch ihre eigenen Lebenserfahrungen wiedererkennt. Fatih Akins von deutschen Kritikern fast einhellig verrissenes Xatar-Biopic "Rheingold" ist "deutscher, als ihnen lieb ist", findet Andreas Scheiner in der NZZ. In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser das Berliner Festival "Litauisches Kino Goes Berlin". David Steinitz portätiert in der SZ die Schauspielerin Léa Seydoux, die ab 10. November in David Cronenbergs "Crimes of the Future" zu sehen ist. Die Berliner Zeitung dokumentiert Peter-Michael Diestels Grabrede für Wolfgang Kohlhaase. In der SZ gratuliert Philipp Stadelmaier Edgar Reitz zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Sara Dosas Vulkanologenporträt "Fire of Love" (Tsp, unsere Kritik), die neue Staffel von Mike Whites Serie "The White Lotus" (FAZ), die HBO-Fantasyserie "House of the Dragon" (NZZ), die Netflix-Horrorserie "Midnight Mass" (ZeitOnline) und George A. Romeros Horrorklassiker "Die Nacht der lebenden Toten" aus dem Jahr 1968, der nun restauriert wieder in die Kinos kommt (taz).
Archiv: Film

Kunst

Situation plastique: Soun-Gui Kims Spiel mit Luft und Wasser. Bild: ZKM  

"Ästhetische Grundlagenforschung" erlebt taz-Kritikerin Carmela Thiele im ZKM in Karlsruhe, das der französisch-koreanischen Künstlerin Soun-Gui Kim eine Retrospektive widmet. "Lazy Clouds" führt Thiele dabei auch in Soun-Gui Kims Konzept der tätigen Muße ein: "Jede ihrer künstlerischen Entscheidungen könnte als Akt des Bogenschießens verstanden werden, der eine entspannte Form der Konzentration erfordert. Wie etwa ihre Experimente mit einer einfachen Lochkamera, mit der sie ihre Küche oder den Waldboden aufnahm. Die Voraussetzungen waren denkbar einfach. Ihre Leistung lag im Verzicht auf die moderne Technik, um ein nicht kalkulierbares Ergebnis zu erreichen. Das Ergebnis sind unscharfe Aufnahmen, die ungemein malerisch wirken. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy sagte über die Künstlerin: 'Soun-Gui Kim experimentiert mit der Materie der Zeit und der Zeit der Materie.'" 

Besprochen wird eine Schau der kroatischen Künstlerin Sanja Iveković in der Kunsthalle Wien (Standard).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Soun-Gui Kim, Zkm Karlsruhe

Literatur

Rund 3,5 Millionen in japanischen Archiven einlagernde Bücher aus der Zeit vor 1900 sind heute selbst für Historiker kaum mehr lesbar, weil sie in der bis dahin verwendeten Kuzushiji-Schrift verfasst wurden, deren Entschlüsselung zahlreiche Probleme mit sich bringt, über die uns Christoph Neidhardt in der SZ aufklärt: Rund 100 Jahre würde es demnach dauern, wenn die wenigen Experten sich ans Werk machen würden, um den Fundus zu übersetzen. Eine K.I. soll hier nun beistehen und kommt auf bereits sehr vorweisbare 90 Prozent Trefferquote: "Ein solider Wert, denn einem Computer Kuzushiji beizubringen, galt bis vor Kurzem noch als unmöglich. Künstliche Intelligenzen suchen nach Mustern und Regelmäßigkeiten. Die Kuzushiji-Schreibenden reduzierten ihre Zeichen aber individuell, jeder anders." Konstantin Lopuhin, einer der Programmierer, erklärt, ob "es ein Unterschied ist, wenn der Computer Schriftzeichen statt Seelöwen erkennen muss? 'Schon', sagt Lopuhin, 'bei den Seelöwen gab es fünf Klassen, bei den Satellitenbildern etwa zwanzig. Bei den Kuzushiji dagegen mehr als 4000. Außerdem kann ich kein Japanisch, ich konnte selbst offensichtliche Fehler nicht erkennen.'"

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die taz spricht mit Marian Offman, der viele Jahre als einziger Jude im Münchner Stadtrat saß und jetzt mit "Mandelbaum" seinen ersten Roman geschrieben hat. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Literaturkritiker Harald Hartung zum 90. Geburtstag. Angesichts des Chaos, das sich auf deutschen Bahnsteigen immer wieder beobachten lässt, blättert Richard Kämmerlings von der Welt ganz melancholisch in Jules Vernes "Reise um die Erde in 80 Tagen", in dem sich erreichter Anschlusszug an erreichten Anschlusszug reiht. Für die SZ porträtiert Martin Zips den französischen Comiczeichner Achdé, der seit 20 Jahren "Lucky Luke" gestaltet - ein neuer, heute schon im Tagesspiegel besprochener Band erscheint Ende dieser Woche.

Besprochen werden unter anderem Margaret Atwoods Gedichtband "Innigst" (SZ), Mircea Cărtărescus "Melancolia" (Standard), Cormac McCarthys "Der Passagier" (Standard), Édouard Louis' "Anleitung ein anderer zu werden" (Tsp, NZZ), Elena Medels "Die Wunder" (Standard), Isabel Fargo Coles "Die Goldküste. Eine Irrfahrt" (NZZ), Iwan Bunins "Nachts auf dem Meer. Erzählungen 1920-1924" (NZZ), die Wiederveröffentlichung von Christine Wolters "Die Alleinseglerin" (Dlf Kultur), Andreas Isenschmids "Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische" (Jungle World), Yves Raveys Kriminalroman "Die Abfindung" (online nachgereicht von der Zeit), Anja Wickis Comic "In Ordnung" (Tsp), Angela Steideles "Aufklärung" (FR),

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Nico Bleutge über Claudia Gablers "ohne Titel":

"Zukunft ist Mangelware, wenn wir die Wälder
verlassen. Zecken kesseln sich ein, verkleben..."
Archiv: Literatur

Musik

Der Pianist und Mozart-Forscher Robert Levin hat als Erster Mozarts sämtliche Klaviersonaten auf dem Originalinstrument des Komponisten eingespielt. Im FAZ-Gespräch erklärt er nicht nur, warum er es für historisch richtig hält, bei den Wiederholungen mehr interpretatorischen Spielraum walten zu lassen (siehe dazu auch das unten eingebundene Video), sondern auch wie sich die Haptik des alten Instruments von modernem Spielgerät unterscheidet und was das für die Ästhetik bedeutet: "Es ist eine ganz eigentümliche, wunderschöne Klangwelt. ... Der Diskant ist sehr brillant und hell, bestens geeignet zum schalkhaften Spiel. Erst da merkt man, wie sehr die Komponisten der Zeit mit Humor beschäftigt waren. Es ist unendlich schade, wenn man diese Musik nur mit Pietät spielt. Das Mittelregister klingt vielleicht am ähnlichsten zu heutigen Instrumenten, wenngleich durch die Anschlagstechnik viel heller. Es gibt viel mehr Möglichkeiten zur Artikulation. Das Instrument ist unglaublich sensibel für die Geschwindigkeit des Anschlages. Die Basssaiten sind länger und dafür dünner als bei einem modernen Instrument. Alles in allem muss man sehr fein musizieren", denn "der Widerstand der Tasten ist viel geringer, und man hört erbarmungslos jede Schwäche."



Außerdem: Stefan Michalzik resümiert in der FR das Deutsche Jazzfestival Frankfurt. Die Welt plaudert mit U2-Sänger Bono Vox, der morgen seine Autobiografie veröffentlicht. In der SZ wirft Philipp Bovermann einen Blick auf die Mythen, die der Gangsterrapper Xatar um sich rankt. Nachrufe auf Jerry Lee Lewis schreiben Jens Balzer (ZeitOnline), Edo Reents (FAZ), Harry Nutt (FR) und Jenni Zylka (Tsp) - weitere Nachrufe bereits hier.

Besprochen werden die Memoiren des Komponisten Georg Friedrich Haas (Standard), Paul Sextons Biografie über den Rolling-Stones-Drummer Charlie Watts (NZZ) und eine Box mit der neuen Abmischung des Beatles-Klassikers "Revolver" (FAZ, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Musik