Efeu - Die Kulturrundschau

Den Reizpunkt getroffen

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26.07.2022. Die israelische Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai wagt sich für die FAZ nach Oberammergau. Die NZZ hält der Documenta immerhin zugute, alle gegen sich aufgebracht zu haben. Der DlfKultur feiert mit Mode aus Afrika ein fest der Farben, Stoffe und Schnitte. The Critic bricht eine Lanze für den traurigen weißen Mann als Helden der Literaturgeschichte. Der Tagesspiegel blickt mit Ergun Çagatays zärtlich auf die 36 Boys. In der taz überlegt der Ska-Musiker Vadim Krasnookiy, wie er den Ukrainern Unterhaltung und ein gutes Gewissen geben kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.07.2022 finden Sie hier

Film

Peter Greenaway wird 80, das Filmpodium Zürich ehrt ihn mit einer Retrospektive - und Urs Bühler von der NZZ konnte den exzentrischen Briten für ein Gespräch gewinnen, in dem dieser einmal mehr gewohnt vom Leder zieht, was das visuelle Analphetentum des Kinos und dessen ewigen Flirt mit dem literarischen Erzählen betrifft. Umso reger sprang er schon frühzeitig auf digitale Technologie an: "Sie ermöglicht mir, mehr Maler zu sein als je zuvor. Ich manipuliere allzu gerne. Und ich will nur schöne Bilder in meinen Filmen." So fordert er auch: "'Wir müssen einen Gegenentwurf liefern zu all der Hässlichkeit in dieser Welt.'" Seine Vorstellung von Schönheit bezieht Absurditäten wie eine gebackene Leiche ein, die in 'The Cook, the Thief, his Wife and her Lover' splitternackt auf dem Tablett zum Verzehr angerichtet ist, samt Zipfel zwischen den Beinen. 'Ich liebe den Schock des Neuen.'"

In Hamburg ist heute Abend im Museum am Rothenbaum MARKK Lancelot Oduwa Imasuens Film "Invasion 1897" aus dem Jahr 2014 zu sehen. Der nigerianische Regisseur schildert darin die Konflike, in deren Zuge auch einige der Benin-Bronzen nach Europa kamen. Er wollte damit "die Handlung kompromisslos aus der Sicht eines Mannes aus Benin darstellen", erzählt er im Gespräch mit Welt+. "Die Briten hatten zuvor die Geschichte aus ihrer Sicht dargestellt" und dabei auf die Tötung einer britischen Delegation fokussiert. "Sie nannten es 'das Benin-Massaker', obwohl es im eigentlichen Sinne eine Invasion gewesen ist. Denn der Krieg geschah in Benin, nicht in Großbritannien. Indem ich tief zu den Ereignissen vordringe, die zu dem Massaker geführt haben, wollte ich in den Vordergrund stellen, dass wir zu Unrecht angegriffen und unserer kostbaren Artefakte beraubt worden sind. Und ich wollte der ganzen Welt mitteilen, dass dies keine bloßen Kunstwerke, sondern Aufzeichnungen unserer Geschichte waren. Sie waren spirituell - und ein Kommunikationsmittel." In der Nordausgabe der taz empfiehlt Wilfried Hippen den Film. Hier der Trailer mit einigen Eindrücken:



Außerdem: Claudius Seidl erinnert in der FAZ an Blake Edwards, der vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen wird die Wirecard-Satire "King of Stonks" (NZZ).
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Design

Ziemlich umgehauen bespricht Susanne Billig im Dlf Kultur den Bildband "Atemberaubende Mode aus Afrika" der Journalistin Emmanuelle Courrèges, die darin "die pulsierende Vielfalt der zahllosen Modeszenen" auf dem afrikanischen Kontinent beschreibt. Zu erleben ist "ein Fest der Farben, Stoffe und Schnitte, der Locations und selbstbewussten Inszenierungen. In städtischen Settings, aber auch auf Feldern und in Dörfern präsentieren Models aller Altersstufen die kühnen Entwürfe. 'Hybridität' lautet der interpretative Schlüsselbegriff, der im Buch auf die eine oder andere Weise immer wieder fällt. Die Mehrheit der Modedesignerinnen und -designer des Kontinents zeichne aus, betont die Autorin, auf je individuelle Weise unterschiedlichste Einflüsse zusammenzuführen - traditionelle Stoffe, Texturen und handwerkliche Techniken treffen auf Social Media, urban Vintage-Look und Haute Couture."
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Literatur

Torrey Peters spricht im Standard über ihren Roman "Detransition, Baby", der in den USA gerade als großer Roman über trans Erfahrungen besprochen wird. Sie wehrt sich dagegen, als Erklärerin herzuhalten - schließlich lassen sich Wissenslücken problemlos via Handy schließen. "Literatur, die sich mit Erklärungen aufhält, ist keine gute Literatur. ... Ich schreibe sehr bewusst nur über einen winzigen Ausschnitt der Transexistenz. So wie Philip Roth den Mikrokosmos der Juden in Newark, New Jersey, schilderte, konzentriere ich mich auf die Transfrauen von Brooklyn, New York. Roth verwandelte das Spezifische in etwas Universelles. Ich hoffe, dass mir dasselbe gelingt. Und wie Roths Humor anderen Juden oft missfiel, passt mein Humor bestimmt nicht allen Transmenschen. Das begrüße ich sogar. Mein Ziel besteht nicht darin, Literatur für alle, sondern darin, so gute Literatur wie möglich zu schreiben."

Der traurige weiße Mann ist als Romanfigur gerade nicht besonders angesagt, doch John Self erinnert dessen Verächter in The Critic an dessen Verdienste in den Romanen von Sinclair Lewis und Richard Yates: "Martin Amis hat sie in seinem Roman 'The Information' erkannt. Sein Protagonist Richard Tull schlägt darin vor, ein Buch mit dem Titel 'Die Geschichte zunehmender Erniedrigung" zu schreiben. 'Es wäre ein Buch, das den Niedergang von Status und Tugend literarischer Protagonisten aufzeigt. Erst Götter, dann Halbgötter, dann Könige, dann große Krieger, große Liebhaber, dann Bürger, Pfarrer, Ärzte und Anwälte. Dann der soziale Realismus: du. Dann Ironie: ich.'"

Besprochen werden unter anderem Max Cabanes Comicadapton von Jean-Patrick Manchettes Krimi "Volle Leichenhalle" (taz), Durs Grünbeins Gedichtband "Äquidistanz" (SZ), Keiichiro Hiranos "Das Leben eines Anderen" (NZZ), Theodor Lessings "'Kultur und Nerven'. Kleine Schriften 1908-1909" (Zeit), Jacob Ross' Krimi "Die Knochenleser" (FR), Mariana Lekys "Kummer aller Art" (Zeit), Jens Liljestrands "Der Anfang von morgen" (Dlf Kultur), der Science-Fiction-Comic "Paper Girls", der demnächst als Amazon-Verfilmung läuft (Tsp) und (FAZ).
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Bühne

Die Jerusalemer Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai hat sich für die FAZ nach Oberammergau zu den Passionsspielen gewagt und zeigt sich trotz einigem Befremden angesicht einer solch "goyishen sache" überwältigt von der Landschaft, Christian Stückls Inszenierung, dem Engagement des Dorfes und der jahrhundertealten Tradition: "Ich begriff etwas von der Wucht und Strahlkraft des Passionsnarrativs und von der Macht, die das Theatralische in früheren Zeiten gehabt hat und immer noch haben kann. Nicht zuletzt begriff ich, wie dicht das Passionsspiel trotz aller zeitgenössischen Änderungen an der Klippe antisemitischer Affekte balanciert. Sie könne sich gut vorstellen, bemerkte meine Freundin Sara auf dem Weg zum Ausgang, dass man nach dem Gesehenen in früheren Zeiten das spontane Bedürfnis verspürt hätte, den erstbesten Juden umzubringen, der einem auf der Straße begegnete."

Im Nachtkritik-Interview mit Christine Wahl beschwichtigt der neue Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, Befürchtungen, aus den Theatertreffen ein kuratiertes Festival machen zu wollen: "Mein Gedanke bei der Berufung des neuen Leitungsteams war nicht, die kuratorische Kompetenz zu stärken, sondern die Vernetzung." In der taz stellt Michael Bartsch den Regisseur Georg Genoux vor, der künftig das Thespis Zentrum in Bautzen leiten wird, um dort sein authentisches Theater zu verwirklichen, das er als Selbstheilung durch Selbstentäußerung verstehe.

Besprochen werden Franz-Xaver Mayrs Inszenierung von Schnitzlers "Reigen" in Gmunden (den Standard-Kritiker Stephan Hilpold vor allem der Generation Woke empfehlen kann) und Eva-Maria Schallers Choreografie "Femenine" beim Impulstanz in Wien (Nachtkritik).
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Kunst

Ergun Çağatay: Mitglieder der Jugendgang "36Boys" in Berlin-Kreuzberg. Bild: Museum Europäischer Kulturen


Im Tagesspiegel kann Anastasia Trenkler eine Ausstellung des türkisch-deutschen Fotografen Ergun Çagatay empfehlen, die das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem zeigt: Bilder aus der Hamburger Ausländerbehörde, von Arbeiterinnen bei Ford in Köln, Hochzeitsgesellschaften. Sein Herz aber gehörte den 36 Boys, die Ende der achtziger Jahre Kreuzberg unsicher machten, wie Trenkler den Fotografen zitiert: "'Sie taten mir einfach leid. Diesem Land war es nicht gelungen, ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen. Sie arbeiteten hart - und blieben Menschen zweiter Klasse. Unter den 36 Boys war nur ein einziger, der aufs Gymnasium ging. Aufgabe der Politik wäre es, den Menschen die Gelegenheit zu bieten, zu zeigen, was in ihnen steckt."

Thomas Ribi schäumt in der NZZ noch immer vor Wut beim Rekapitulieren des Documenta-Debakels. Gescheitert sieht er die Kuntschau auch in dem Versuch, in der historischen Erinnerung Kolonialverbrechen neben den Holocaust zu stellen. Das habe auch sein Gutes: "Man kann die 'Documenta fifteen' als eine Art Massentest für das Experiment verstehen, die deutsche Erinnerungskultur auf eine neue Grundlage zu stellen. Das ist nicht gelungen. Es gab einen Aufschrei in der Öffentlichkeit, und vielleicht müsste man der Documenta dafür sogar dankbar sein. Sie hat auf die schmerzende Stelle gedrückt und den Reizpunkt gefunden." Im Welt-Interview mit Boris Pofalla betont der neue Documenta-Geschäftsführer Alexander Farenholtz, dass er erst einmal wieder alle Beteiligten miteinander ins Gespräch bringen will.

Im Standard moniert Ivona Jelcic, dass sich die Tiroler Landesregierung bei Kunstprojekten oder Stellenbesetzung einfach über Jury-Entscheidungen hingwesetzt.

Besprochen werden die Schau "Cranach der Wilde" im Kunsthistorischen Museum in Wien (SZ), Bill Violas Videos in Museum der Moderne in Salzburg (Standard), eine Ausstellung zu Bernardo Bellotto in der Galerie Alte Meister in Dresden (FAZ) und die Sibylle-Bergemann-Schau in der Berlinischen Galerie (FAZ).
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Musik

In der taz plaudert Vadim Krasnookiy von der ukrainischen Ska-Band Mad Heads über die Lage in seinem Heimatland, wo die Sehnsucht nach Vergnügen im Kriegselend steigt: "Unterhaltung wurde als unangemessen empfunden. Inzwischen sind alle wirklich müde von allem. Die Menschen müssen neue Energie tanken. Es ist unmöglich, immer nur die schrecklichen Nachrichten zu verfolgen. Das Problem ist natürlich, dass die Menschen ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich unter den gegenwärtigen Bedingungen vergnügen. Die Kombination aus gutem Zweck und Konzerten ist daher ideal. Es ist auch eine Art von Therapie."

Außerdem: Kerstin Holm resümiert in der FAZ das Musikfest Stuttgart, das "diesmal im Zeichen von Russlands Krieg gegen die Ukraine und dessen Folgen für die Kultur" stand. Petra Schellen annonciert in der taz die Sommerlichen Musiktage Hitzacker. Frieder Reininghaus schreibt in der NMZ zum Tod des Dirigenten Stefan Soltesz.

Besprochen werden die "Ouverture spirituelle" bei den Salzburger Festspielen (SZ), das neue Lizzo-Album (Presse, mehr dazu hier), das neue Album von Belle & Sebastian (Jungle World), Auftritte der Toten Hosen (FR), von Okean Elzy (FR) und Sting (FAZ) sowie eine Aufführung von Mendelssohn Bartholdys Oratorien "Paulus" und "Elias" beim Rheingau Musik Festival (FR).
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