Efeu - Die Kulturrundschau

Das ist dein Gepäck

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20.04.2021. Die NZZ begegnet Fluss-, Erd- und Sumpfgöttern in der von Olafur Eliasson gefluteten Fondation Beyerle. Die SZ lässt sich von 600 Highwaymen ins Telefontheater verschleppen. Standard und Welt können die Empörung über die Impfprivilegierung der ohnehin schon bevorzugten Wiener Philharmoniker gut verstehen. Der Tagesspiegel möchte gar nicht wissen, wie es um das Sommerfestival der Berlinale steht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2021 finden Sie hier

Kunst

Olafur Eliasson: Life, 2021. Installationsansicht, Fondation Beyeler, Riehen/Basel. Foto: Pati Grabowicz

Der Umweltkünstler Olafur Eliasson hat für seine neue Schau "Life" die Fondation Beyeler geflutet, giftgrün leuchtendes Wasser durchdringt die Ausstellungsräume, und NZZ-Kritiker Philipp Meier ahnt, was Eliassion hier feiern will: "So ist es jetzt in der Fondation Beyeler ein bisschen wie in dem Anime-Film 'Chihiros Reise ins Zauberland' aus Japan, dem Land der tausend Götter. Wir treten hier für einmal heraus aus unserer monotheistisch geprägten Weltsicht, in der es nur eine Gottheit gibt, nämlich uns, den Menschen, die vermeintliche Krönung der Schöpfung. So geht es uns wie dem Mädchen Chihiro, das durch einen Tunnel in einen verwunschenen Park gelangt: Plötzlich sind sie alle da, die shintoistischen Flussgötter, Berggötter und Baumgötter, Erdgötter und Sumpfgötter, ja Pilzgötter und Bakteriengötter. Und sie alle sind gekommen als Vertreter eines milliardenfachen Lebens, das sich in allem verbirgt, unter jedem Stein, auf jedem Blatt, in jedem Wassertropfen, in jeder Hautfalte.

Christopher Sims: The Pretend Villages. Kehrer Verlag

Der Fotograf Christopher Sims hat die Kulissendörfer fotografiert, in denen das amerikanische Militär seine Kriegseinsätze trainiert. Kulissenbauer aus Hollywood errichten dort ein Pseudo-Bagdad oder -Kabul, wie Sims im SZ-Interview zu seinem Bildband "The Pretend Villages" mit Julia Rothhaas erzählt, und Geflüchtete aus den Regionen geben die Komparsen: "Zwei Männer haben mir einmal erzählt, dass sie ihren Job gerne mögen, weil ihnen ihre Heimat so fehlt und sie auf dem Truppenübungsplatz das Gefühl haben, kurz zurückkehren zu können. Und dann habe ich eine junge Frau getroffen, deren Familie aus Afghanistan stammt. Sie selbst ist bislang allerdings noch nie dort gewesen, sie ist in den USA geboren. Für sie war es schön, endlich auch mal in 'Afghanistan' zu sein. Was ich aber interessant finde: Wenn nicht geprobt wird, spielen viele einfach weiter."

Weiteres: Für die taz besichtigt Carmela Thiele, wie selbstkritisch das Stuttgarter Lindenmuseum seine koloniale Geschichte in einer umfangreichen Online-Ausstellung aufarbeitet. Die "Verdunkelung der Welt" bei grellstem Licht erlebt Guardian-Kritiker Adrian Searle in John Akomfrahs Videos in der Schau "The Unintended Beauty of Disaster" in der Londoner Lisson Gallery. Besprochen wird die Schau "Rembrandts Orient" im Potsdamer Museum Barberini (SZ).
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Bühne

Das Theater in Pandemie-Zeiten nimmt viele Formen an, SZ-Kritikerin Christine Dössel hat jetzt auch das Telefon-Theater erlebt, das sich die New Yorker Grupper 600 Highwaymen für das Wiener Volkstheater ausgedacht hat. Zwei Personen werden telefonisch zusammengebracht und ihr Gespräch von einer Computerstimme gelenkt: "'Tausend Wege' ist nicht bloß ein biografisches Abfrage- und Kennenlernspiel. Es hat auch etwas von einer psychotherapeutischen Sitzung und ist insofern Telefonseelsorge. Das muss man mögen und sich darauf einlassen. Sonst wird's ungemütlich. Da soll man etwa die Augen schließen und sich einen Geruch aus der Kindheit vergegenwärtigen. Oder sich mit dem Finger über den Nasenrücken streichen, während die andere bis fünf zählt. Erinnerungen an die Vorfahren werden abgefragt, an einstige Schulkameraden, an das eigene, jüngere Ich. 'Das ist dein Gepäck, das trägst du in dir', sagt die Stimme. 'Lasst eure Finger auf eurem Puls.'"

Weiteres: Manuel Brug schreibt in der Welt zum Tod des Tänzers und Choreografen Liam Scarlett. Besprochen werden Alban Bergs "Lulu" im Stream des Theaters Heidelberg (und mit einer phänomenalen Jenifer Lary in der Titelrolle, wie Judith von Sternburg in der FR versichert), ein Noverre-Nachwuchsabend des Stuttgarter Balletts (FR) und Andrey Kaydanovskiys Choreographie "Der Schneesturm" nach Alexander Puschkin im Stream des Bayerischen Staatsballetts (FAZ).
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Literatur

Wer etwas über die Lage asiatischstämmiger Menschen in den USA erfahren will, der greife zu John Steinbecks "Jenseits von Eden", rät Paul Ingendaay in der FAZ. Die (in der berühmten Verfilmung durch Elia Kazan unterschlagene) Figur des Lee, eines chinesisch-amerikanischen Dieners, der seine Bildung und Intellektualität hinter Pidgin camoufliert, biete viele aufschlussreiche Momente: Er ist ein "Mann mit vielen Gesichtern, der wie ein Geist in die verschiedensten Rollen schlüpft, ein lebendes Beispiel für jene äußerste Anpassungsfähigkeit, die Menschen, die dergleichen nie zu vollbringen hatten, immer unterschätzen.  ...  Im Porträt dieses philosophierenden Kochs und kochenden Philosophen sind zahlreiche Strategien der Selbstbehauptung verborgen, von denen die Mehrheitsgesellschaft sich immer noch keinen Begriff macht - und auf die Angehörige ethnischer Minderheiten niemals verzichten könnten. Wer Augen hat zu lesen, erkennt in 'Jenseits von Eden' einen Roman unserer Zeit."

Zu diesem Thema: Es gibt auch eine wunderbare Szene in dem Film "Something to Sing About" von 1937, James Cagnes wurde gerade beschieden, dass er als Schauspieler nichts taugt, sein japanischer Garderobenhelfer (gespielt von dem amerikanisch-koreanischen Schauspieler Philip Ahn) tröstet ihn und Cagney erlebt eine Überraschung:



Besprochen werden unter anderem Joachim Lottmanns "Sterben war gestern" (Tagesspiegel), Sarah Raichs Erzählungsband "Dieses makellose Blau" (FR), Mary Gaitskills Erzählung "Das ist Lust" (SZ) und Dulce Maria Cardosos "Die Rückkehr" (FAZ).
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Musik

Die Wiener Philharmoniker wurden im österreichischen Impfplan großzügig nach vorne geschoben, begründet wird dies mit Argumenten, die unschön an aristokratischen Dünkel erinnern oder drohende finanzielle Nachteile vorschützen - entsprechend groß ist der Aufschrei insbesondere in der freien Musikszene. "Jene, die als Festangestellte (in Kurzarbeit) keinerlei Finanzeinbrüche zu erfahren hatten, die zudem in der Oper auch noch diverse Vorstellungen für Streamings realisieren durften, zeigten sich in hohem Maße unsolidarisch", kommentiert Manuel Brug in der Welt auch unter Verweis auf die Lehrtätigkeiten vieler Musiker des Orchesters. Von solchen Absicherungen in der Krise "können freie Künstler, selbst Spitzensänger und Instrumentalisten, nur träumen. ... Da fragt man sich wieder einmal, in welchen olympischen Sphären sich diese Künstler aufhalten." Dass die Kritik sehr laut wird, findet auch Stefan Weiss in seiner Standard-Glosse sehr nachvollziehbar.

Weitere Artikel: Pauline Voss stellt in der NZZ fest, dass Danger Dan in seinem Stück "Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt" offenbar anders als vermutet "mit provokanten Zeilen die Grenzen der Kunstfreiheit auslotet". Das Roskilde Festival bleibt weiter "vorsichtig optimistisch", dass es Ende Juni stattfinden kann, berichtet Nadine Lange im Tagesspiegel. In PopHistory-Blog schreibt Nikolai Okunew einen Nachruf auf den Ostberliner DJ Matthias Hopke. Jürgen Kesting plädiert in der FAZ für mehr Virtuosentum in der Musik.

Besprochen werden Vladislav Delays "Rakka II" (Pitchfork), Taylor Swifts Neuaufnahme ihres ersten Albums "Fearless" (Pitchfork), Greta van Fleets "The Battle at Garden's Gate" (FR, SZ) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter Angel Bat Dawids "Live", mit dem SZ-Jazzkolumnist Andrian Kreye einen Beleg dafür vorliegen sieht, "dass freier Jazz Emotionen nicht nur abstrahieren, sondern in aller Rohheit so verstärken kann, wie man es sonst aus dem Soul oder dem Punk kennt." Wir hören rein:

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Film

Wie sieht es eigentlich beim Sommerfestival der Berlinale aus? Nach dem Online-Branchenevent im März soll es ja im Juni eigentlich ein Publikumsfestival geben. Christiane Peitz hat im Tagesspiegel wenig Hoffnungen darauf, dass das Festival in den nächsten ein bis zwei Wochen gute Nachrichten verkünden kann:  "Eine Öffnungsperspektive für die Kinos existiert ebenso wenig wie für Theater und Konzerthäuser. Kulturveranstaltungen sind bis auf Weiteres nicht zulässig, auch nicht im Freien. Auf der politischen Agenda steht außerdem die bundesweite Ausgangssperre." Da müsste einiges "für die Sommer-Berlinale aufgehoben werden. Auch die Regelungen des neuen Infektionsschutzgesetzes, das ja noch nicht einmal verabschiedet ist. Offen ist außerdem, ob das modifizierte Gesetz Kultur-Modellprojekte erlaubt. ... Ach, man möchte den Kopf nur noch in den Sand stecken. Und Trauer tragen."

Weitere Artikel: In der NZZ berichtet Urs Bühler vom Filmfestival Visions du Réel in Nyon, das sogar vor Publikum stattfinden darf. Susan Vahabzadeh gratuliert in der SZ dem Schauspieler Ryan O'Neal zum 80. Geburtstag. Julia Hertäg erinnert im Freitag an "Nothing But a Man", einen Klassiker des Black Cinema aus dem Jahr 1964 - den allerdings der weiße Regisseur Michael Roemer gedreht hat, was seinerzeit nicht mal Malcolm X in seiner Begeisterung für den Film störte. Auf Youtube steht der Film in voller Länge (wenn auch in eher mittelmäßiger Qualität):



Besprochen werden Cristi Puius "Malmkrog" (FAZ, unsere Kritik hier), Lee Daniels' oscarnominiertes Biopic "The United States vs. Billie Holiday" (ZeitOnline), Ben Falcones "Thunder Force" (critic.de) und Michael Matthews' auf Netflix gezeigter Monsterfilm "Love and Monsters" (Standard, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Film