Efeu - Die Kulturrundschau

Der Schärfenzieher wird wahnsinnig

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25.05.2020. In der SZ verrät Dominik Graf, welche Tricks beim Filmemachen auch nicht über die Quarantäneregeln hinweghelfen. Der Freitag erkundet in Karl Lagerfelds Fotografien die symbolische Sinnlichkeit der Pose. Die taz lässt sich von Bernhard Martin mit Juwelen überhäufen. In der Abendzeitung fragt Barbara Mundel, in welche Polarisierung sich das Feuilleton immer wieder treiben lässt.  Die FAZ besucht die wiedergeöffneten Museen in Italien . Der Guardian fordert eine Revitalisierung der Kleinstädte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2020 finden Sie hier

Architektur

Unter Venture-Kapitalisten gilt momentan die Parole "Sell City, buy Country", doch im Guardian beschwört Rowan Moore die Politik, genau diese Konsequenz nicht aus der Coronakrise zu ziehen. Anstatt alle Welt mit dem Auto aufs Land pendeln zu lassen, sollten die mittleren und kleineren Städte revitalisiert werden: "Der Druck auf London und einige andere, meist südliche Hotspots muss verringert und die vielen Städte wiederbelebt werden, die oft über einen guten Wohnungsbestand und schöne, aber vernachlässigte Einkaufsstraßen verfügen, sowie ein Erbe vergangener Investionen in öffentliche Annehmlichkeiten wie Parks,  Bibliotheken und Zugang zur Natur."

In der SZ berichtet Viktoria Großmann, wie in Prag gerade an eine üble Praxis aus den achtziger Jahren erinnert wird: Bei der Sanierung des Wenzelsplatzes stießen Arbeiter auf zersägte Grabsteine von jüdischen Friedhöfen. "Überall in Prag wurden diese Grabsteine in den Achtzigerjahren zu Straßenbelag verarbeitet. Damals wurde die Stadt zu Ehren eines Staatsbesuchs des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow aufgehübscht. 'Die jüdischen Gemeinden haben diese Grabsteine verkauft', sagt Tomáš Kraus von der Föderation der jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Republik. Allerdings taten sie das nicht ganz freiwillig. Wie alle Glaubensgemeinschaften standen sie unter dem Druck und der Kontrolle des sozialistischen Regimes."
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Film

Die SZ hat die Filmemacher Caroline Link, Dominik Graf und Kilian Riedhof an einen Tisch zum Krisengespräch über die deutsche Filmbranche in Coronazeiten gebracht. Es sieht düster aus: Neue Filme lassen sich derzeit nicht angehen, weil die Versicherungen keinen Produktiosstopp abfedern wollen, erklärt Riedhof. Von der Problematik, beim Dreh stets anderthalb Meter Abstand zu halten - wie soll man so vernünftig Mensch beim Interagieren zeigen? -, spricht Link: "Der innere Kern des Teams und die Hauptdarsteller müssten sich bereits fünf Tage vor Drehbeginn testen lassen und ab diesem Moment in Quarantäne gehen. Zu Drehbeginn lägen die Testergebnisse vor. Diese Leute müssten dann aber auch für die gesamten Dreharbeiten in einer Quasiquarantäne bleiben und dürften kaum beziehungsweise gar keinen körperlichen Kontakt zum restlichen Team haben." Graf greift derweil zu Tricks, die aber doch nicht funktionieren: "Wenn ich hier am Rosenheimer Platz einen Kuss inszeniere, bei dem ich die Schauspieler zwei Meter voneinander weg positioniere, muss ich die Kamera am Weißenburger Platz aufstellen, damit es so aussieht, als würden die halbwegs eng voreinander stehen. Es dauert ein halbe Stunde, um das einzurichten, der Schärfenzieher wird wahnsinnig, und am Ende würden die Zuschauer doch merken, dass da was nicht stimmt."

Weitere Artikel: Jens Balkenborg porträtiert im Freitag die Kamerafrau Hélène Louvart. Manuel Brug schreibt in der Welt über den Schauspieler Max Riemelt. Hollywood kämpft derzeit sehr damit, dass sich derzeit kaum eine Filmproduktion vernünftig versichern lässt, schreibt Peter Körte in der FAS. Kinobetreiber Louis Anschütz fragt sich im Zeit-Magazin sorgenvoll, ob die Leute nach Corona überhaupt noch ins Kino gehen wollen. Heide Simon erinnert im Tagesspiegel an Rainer Werner Fassbinder, der am 31. Mai 75 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Takashi Miikes auf den gängigen Plattformen veröffentlichter und - SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier hat nachgezählt - bereits 103. Film "First Love", die südkoreanische Serie "Extracurricular" (Freitag) und ein von Nicole Delmes und Susanne Zander herausgegebenes Buch über den Straßenmusiker Bruno S., der mit zwei Filmen für Werner Herzog bekannt geworden ist (Berliner Zeitung, auf ein flankierendes Radiofeature verweist Thomas Groh in seinem Blog).
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Kunst

Karl Lagerfeld: Visions and a Decision, 2007, Foto © Karl Lagerfeld

Michael Suckow empfiehlt im Freitag unbedingt, sich die Retrospektive des Fotografen Karl Lagerfeld in der Moritzburg in Halle anzusehen, und zwar vor Ort. Dann kann man schnell an den Bildern aus verschiedenen Werbekampagnen vorbei gehen und zu den interessanten Arbeiten kommen, in denen sich Lagerfeld auf die Kunstgeschichte bezieht: "Der Inhaber einer Bibliothek von Hunderttausenden Bänden zieht seine Motive aber auch aus der Literatur. Jugend und Schönheit und die Angst um ihren Verlust repräsentierende Figuren der Literaturgeschichte in hochästhetisierte Bilder zu setzen, dabei zeigt sich der eigentliche Lagerfeld. Wir müssen ihm nicht mal die Sonnenbrille abnehmen. Bei Lagerfelds Dorian-Gray-Interpretation hören wir Oscar Wilde sagen: 'Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich.' Und Karl paraphrasiert: 'Es ist oberflächlich, es ist Mode.' Der Dandy als Ästhet und Verächter der hässlichen, vergänglichen Realität. Ironische Inszenierung, unernstes Posieren - im Dandytum wird die Sinnlichkeit des Körpers zur symbolischen Sinnlichkeit des Bildes, der Pose."    

Bernhard Martin: Vorteile haben keine Temperatur, 2019
Peter Funken freut sich über die Ausstellung "Image Ballett", mit der das Haus am Waldsee Bernhard Martins Bling-Bling-Malerei in Szene setzt, die Lust an billigem Glitzer und buntem Flitter: "Vorsicht, bei dieser Kunst geht es nicht um Verschwörungsvermutungen oder Esoterik, vielmehr um Beobachtungen über den Zustand einer Kultur, wo jeder mit Juwelen überhäuft wird, wenn er ein Spiel wie 'Jewels' liebt, selbst wenn es für ihn monatlich nur Hartz IV gibt. Bei Bernhard Martin geht es zu wie im Märchen - alle können wunderschöne Ringlein am Finger tragen, man muss nur in der Abteilung für Kinder-Kitsch fündig werden oder am Wochenende die richtigen Drogen nehmen."

Auch in Italien öffnen jetzt wieder die Museen, berichtet Karen Krüger in der FAZ, man muss vor einem Besuch allerdings seine Temperatur scannen lassen. Und natürlich werden die Besucherzahlen drastisch reduziert. Das lässt die Einnahmen sinken, aber "trotzdem sehen viele Kulturschaffende die Corona-bedingten Einschränkungen auch als Chance, aus einer Entwicklung auszusteigen, die als Abwärtsspirale begriffen wird. Seit Mitte der neunziger Jahre sind auch in Italien die Museumskassen zunehmend zum Maßstab geworden, ob eine Schau erfolgreich ist. Die Zutaten, um dies zu garantieren, waren immer die gleichen: große Namen wie Caravaggio, van Gogh, Picasso und Dalí und deren medienwirksame Vermarktung."

Weiteres: Christiane Meixner beklagt im Tagesspiegel noch einmal den Wegzug der Sammler aus Berlin, weil ihnen die Stadt nicht genug Wertschätzung entgegenbringt.
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Literatur

Auch die Coronaisolation ist zu bewältigen, sagt der in Cambridge und Istanbul lebende türkische Schriftsteller Burhan Sönmez im Standard: "Menschen sitzen jahrelang in dunklen Gefängniszellen und überleben. Jetzt sind wir alle in unseren eigenen Zellen, wie in einem Science-Fiction-Film. Nur dass es diesmal real ist. Aber auch wir werden überleben und uns dann über die Dinge austauschen, die uns geholfen und bewegt haben. Erinnern Sie sich an Robinson Crusoe? Er strandete auf einer einsamen Insel und erschuf sich eine komplett neue Welt. Und wir? Den einzigen Rat, den ich geben würde, ist: Wir sollten versuchen, uns die Lebensfreude zu bewahren und denen helfen, die uns brauchen."

Dagegen sehr melancholisch resümiert der Schriftsteller Jan Wilm in der FAZ-Reihe "Mein Fenster zur Welt" die momentane Lage: "Ich schäme mich für Menschen, die zu Hause bleiben können und dort alles Nötige haben, von sich aber als Eingesperrte faseln, während andere in die Verpflichtung eingesperrt sind, die Gesellschaft am Laufen zu halten, und dieser Verpflichtung nachkommen, ohne von Freiheitsverlust zu reden. Der Luxus, aus dem Fenster zu schauen und dort irgendeine Form von Ruhe zu finden, die so widerwärtig nach Gleichgültigkeit schmeckt, wirkt wie eine transponierte Sehnsucht nach einer unbändigen Luxuswelt, die unsere Gesellschaften in ähnliche und noch viel schrecklichere Katastrophen stürzen wird."

Weitere Artikel: Ausgehend von Karl May spürt Paul Jandl in der NZZ der insbesondere auch in der DDR ausgeprägten deutschen Lust am Indianischen (oder was Indianophile dafür halten) nach.

Besprochen werden unter anderem Jean Staffords "Die Berglöwin" (NZZ), Christoph Heins "Ein Wort allein für Amalia" (Freitag), Attica Lockes "Heaven, My Home" (Freitag), Abbas Khiders "Palast der Miserablen" (Presse), Anna Burns' "Milchmann" (Tagesspiegel), Joshua Groß' "Flexen in Miami" (online nachgetragen von der FAZ), Wallace Shawns Essayband "Nachtgedanken" (Tagesspiegel), Peter Zantinghs "Nach Mattias" (Berliner Zeitung), die Wiederauflage von Erich Kubys Wirtschaftswunder-Roman "Rosemarie" (Tagesspiegel), Bergsveinn Birgissons "Quell des Lebens" (NZZ), Hans Joachim Schädlichs "Die Villa" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Suzanne Collins' Prequel zu ihrer "Tribute von Panem"-Reihe (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Maier über Hölderlins "An Zimmern":

"Die Linien des Lebens sind verschieden,
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
..."
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Bühne

Die Nachtkritik verlinkt auf ein Interview der Abendzeitung mit der neuen Intendantin der Münchner Kammerspiele, Barbara Mundel, über flache Hierarchien, kollektives Arbeiten und die Diskussionen um Matthias Lilienthal: "Als ich damals diese Diskussion aus der Ferne mitbekommen habe, dachte ich mir immer: In was für seltsame Polarisierungen lässt sich denn die Öffentlichkeit, das Feuilleton, das Theater hier treiben? Da ging es plötzlich um 'Schauspiel' versus 'Performance'. Wenn mir jemand erklären kann, wo genau die Grenze zwischen performativem und schauspielerischem Spiel verläuft, dann wäre ich ganz bestimmt glücklich. Ich glaube auch nicht, dass die Polarisierung zwischen Schauspielkunst und politischen Themen aufgemacht werden muss. Ich halte unseren Spielplan für ausgesprochen politisch und finde, dass die Kammerspiele ein hervorragendes Ensemble haben."
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Musik

Für ZeitOnline porträtiert Kristoffer Cornils den Musiker und Komponisten Phillip Sollmann alias Efdemin, der im Brotjob im Berghain auflegt, um sich dann teure Experimente als Konzeptmusiker leisten zu können. Gerade ist das neue Album "Monophonie" erschienen, dessen Herstellung eine ziemlich komplexe Angelegenheit war: "Die Komposition entsteht ähnlich wie eine Technoproduktion: Sollmann sampelt das Partch-Instrumentarium, erstellt eine digitale Kopie davon und komponiert am Computer. Die Musik wird dann aufwendig in eine Notation überführt, die auf die jeweiligen Instrumente zugeschnitten ist und nur von den Mitgliedern des Ensembles Musikfabrik gelesen werden kann. Der Prozess ist umständlich und teuer, trotz einer Förderung sprengt das Stück mit seinen Produktionskosten den Rahmen. 'Ich bereue das überhaupt nicht, habe aber noch nächtelang im Club gestanden, um dieses Projekt zu bezahlen', lacht er. Ein bisschen Business Techno, um die Kunst zu finanzieren." Auf Bandcamp hören wir rein:



Außerdem: Juliane Streich berichtet in der taz vom virtuellen "Balance Club/Culture Festival", bei dem es unter anderem darum ging, Bündnisse gegen das Clubsterben zu bilden. SZ-Kritiker Harald Eggebrecht greift in der Coronakrise gerne zu alten Mitschnitten von Klassiker-Proben und Meistervorträgen. Philipp Krause schreibt in der FR einen Nachruf auf Mory Kanté. In der FAZ gratuliert Achim Heidenreich dem Komponisten Enjott Schneider zum 70. Geburtstag. In der Jungle World schreibt Uli Krug einen engagierten Nachruf auf Kraftwerk-Musiker Florian Schneider, der vor allem klarstellen soll, dass Kraftwerk keineswegs die Techno-Väter gewesen sind, als die sie in den meisten Nachrufen auf Schneider hingestellt wurden.

Besprochen werden Charli XCXs in der Coronaisolation aufgenommenes Popalbum "How I'm Feeling Now" ("hinreißend", meint Andreas Busche im Tagesspiegel, "ein 37 Minuten langes Trotzdem", schreibt Florentin Schumacher in der FAS) und das Comeback-Album der Sparks (Berliner Zeitung).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Oliver Camenzind über Mazzy Stars "Fade Into You":

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