Efeu - Die Kulturrundschau

Trügerisch dauergoldener Herbst

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2018. Die Presse freut sich über Edmund de Waals Netsuke-Sammlung, die nach Wien kommt. In Lens Culture stellt der Fotograf Marwan Bassiouni sein neues Projekt "New Dutch Views" vor. Spon betrachtet in Ulrich Köhlers Film "In my Room" die Muskeln des letzten Menschen in Ostwestfalen-Lippe. Die Zeit schickt anlässlich des Prozesses gegen den russischen Regisseur Kirill Serebrennikow eine Reportage über die ungemütliche Lage der Künstler in Russland. Der Tagesspiegel hört Grönemeyer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.11.2018 finden Sie hier

Film

Wir freuen uns einmal mehr: Mit Sebastian Markt und seinem Text über Sergei Loznitsas "Die Sanfte" ist in diesem Jahr erneut ein Perlentaucher-Filmkritiker für den Siegfried Kracauer Preis für die beste Filmkritik nominiert worden (alle beim Perlentaucher erschienenen Kritiken von Sebastian Markt finden Sie hier). In den vorangegangenen Jahren waren bereits Lukas Foerster (über "Salt & Fire") und Thomas Groh (über "Spectre") in die engere Auswahl für diese Auszeichnung gekommen. Außerdem sind in diesem Jahr nominiert: Daniel Eschkötter (Cargo, leider nicht online), Cosima Lutz (Welt), Rupert Koppold (Kontext) und Lukas Stern (Filmexplorer). Das Jahresstipendium geht an Matthias Dell für eine Essayreihe zum Thema "Sicherung des Filmerbes". Der Preis für die beste Kritik und das Stipendium werden am 24. November beim Kinofest Lünen verliehen.

Neue Muskeln: Hans Löw in "In my Room"

Der letzte Mensch auf Erden wird in Ostwestfalen-Lippe ansässig und baut sich dort eine Existenz in der Welt-Einsamkeit auf. Zumindest wenn es nach Ulrich Köhlers neuem Film "In my Room" geht. SpiegelOnline-Kritiker Jan Künemund hat das sehr gefallen: "Hans Löw spielt den Robinson nicht als Spezialeffekt, sondern als tatsächliche Verkörperung: Neue Bewegungen ergeben neue Muskeln. Die Kamera beobachtet diesen Körper genau, interessiert sich für seinen neuen Bezug zur Welt, für das, was er mit seinen Freiheiten anfängt. 'In My Room' ist ein Glücksfall des deutschen Kinos. Die wilde Aneignung von Genreformeln wirkt wie ein frischer Wind in den aktuellen filmischen Bestandsaufnahmen zur Lage der Nation." Bei taz-Kritiker Dennis Vetter löst der Film Ambivalenzen aus: "Neben einigen eleganten Allegorien auf das Dasein und deutschen Politprovinzialismus entpuppt sich Köhlers hervorragend komponierte Zeitreise eines tristen Typs aus der Mitte der Gesellschaft in seine wohlige Abgeschiedenheit doch als unangenehm sture Abarbeitung an einem verwundeten Männerherz. Der Chauvinist bleibt ein Antiheld, doch möchte Köhler ihm nachdrücklich vergeben und ihm den Kopf streicheln." Für die Berliner Zeitung hat Frédéric Jaeger mit dem Filmemacher gesprochen.

Sowjet-Hipster? Kirill Serebrennikows "Leto" in der Kritik

Ein kleines bisschen unbehaglich findet es Sonja Zekri in der SZ, dass Kirill Serebrennikow in "Leto" die Geschichte der sowjetrussischen Band Kino rund um Wiktor Zoy und Mike Naumenko in den frühen 80ern als grenz-private Geschichte über das Verhältnis zwischen Liebe und Kunst erzählt. Ein Hipster-Bohème-Film also? Von Protagonisten aus der sowjetischen Musikerszene der 80er wird der Film dafür durchaus angegangen. "Es wäre leicht, Serebrennikow Sentimentalität vorzuwerfen oder zumindest Nostalgie. In Wahrheit hat er sich ein Land erschaffen, das es niemals gab, ein Märchenreich, in dem niemand arbeiten muss, Freundschaften mehr zählen als Geld und irgendjemand immer ein kaltes Bier hat. Oder ein warmes. Um etwas über die späte Sowjetunion zu erfahren, sollte man 'Assa' anschauen oder 'Igla', die 'Nadel', ebenfalls mit Zoi oder ein paar 'Kino'-Songs hören. Aber 'Leto' hinterlässt ein heiteres Gefühl, ein angenehmes Prickeln wie nach einem trägen, verspielten und selbstverständlich etwas besoffenen Tag am Strand." Mehr zum Film hier, sowie in der taz, der Berliner Zeitung und in der Nachtkritik.

Weitere Artikel: In Yad Vashem wurde der 1981 gestorbene Schauspieler Hans Söhnker und der DDR-Staatsanwalt Heinz Gützlaff als "Gerechte unter den Völkern" für ihr Engagement gegen den Judenhass im "Dritten Reich" geehrt, meldet Klaus Hillenbrand in der taz. Philipp Stadelmaier resümiert in der SZ die erste Viennale unter der neuen Leiterin Eva Sangiorgi, "eine großartige Wahl", denn sie "will ihr Publikum in jedem Fall ästhetisch fordern". Fabian Tietke empfiehlt in der taz eine Lutz Dammbeck gewidmete Werkschau im Berliner Zeughaus. Außerdem wirft Fabian Tietke für die taz einen Blick ins Programm des Italian Film Festivals in Berlin. Im Freitag denkt Jenni Zylka über das politische Potenzial von Superheldenserien nach.

Besprochen werden Paul Feigs "Nur ein kleiner Gefallen" und Ted Fendts "Classical Period" (Perlentaucher), Damien Chazelles Neil-Armstrong-Film "Aufbruch zum Mond" (NZZ, Tagesspiegel), Milko Lazarovs Inuit-Drama "Ága" (NZZ) und die Serie "Hackerville" (Welt, FAZ).
Archiv: Film

Literatur

In Russland feiern Gegenwartsautoren den Schriftsteller Iwan Turgenjew, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Roman Bucheli gratuliert in der NZZ der Dichterin Silvana Lattmann zum 100. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Volker Kutschers Krimi "Marlow" (taz), Alfred Sohn-Rethels "Das Ideal des Kaputten" (Jungle World), Guram Dotschanaschwilis "Das erste Gewand" (online nachgereicht von der FAZ) und Ömür Ikllim Demirs Erzählband "Buch der entbehrlichen Gedanken" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

Marwan Bassiouni, New Dutch Views #12, The Netherlands 2018 © Marwan Bassiouni
Der Fotograf Marwan Bassiouni hat für sein neues Projekt "New Dutch Views" Moscheen in den Niederlanden fotografiert, durch die man einen Blick auf die Landschaft wirft, in der sie stehen. Im Interview mit Lens Culture erklärt er, worum es ihm dabei geht und warum Moschee und Landschaft gleich scharf sind: "In meiner Arbeit geht es mir darum, die Ähnlichkeiten zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Menschen aufzuzeigen. Als ich diese Fenster sah und anfing, die Landschaften durch jeden Fensterrahmen zu betrachten, überlegte ich, was es bedeutet, aus einer Moschee heraus auf eine Landschaft zu sehen, die wir alle teilen." ... Ich würde es so beschreiben, dass ich zwei Fotos gleichzeitig mache. Es gibt keine zusätzliche Beleuchtung - es ist alles Ambiente. Ich möchte die Erfahrung wiederholen, in der Moschee zu sein und nach draußen zu schauen. Ich mache zwei Bilder mit mehreren Belichtungen und Schärfe, so dass alles im Fokus ist. So kann der Betrachter in die Landschaft gehen, aber er kann auch um jeden Teil des Bildes herum navigieren."

In der Presse berichtet eine bewegte Almuth Spiegler, dass Edmund de Waals Netsuke-Sammlung jetzt endgültig nach Wien gekommen ist: "In einem schlichten Koffer kam am Dienstag ein Schatz nach Wien zurück, der eine der starken, großen Geschichten unserer Zeit erzählt, fast wirkt sie wie ein Märchen: Der Autor und Künstler Edmund de Waal brachte das einzig Heile, Identitätsstiftende zurück, das seiner Wien um 1900 so prägenden Bankiersfamilie, den Ephrussis, nach ihrer Demütigung und Vertreibung durch die Nazis geblieben war. Eine Sammlung japanischer Netsuke, historischer Figürchen aus Elfenbein, Holz, Walrosszähnen, die einst an Kimonos getragen wurden. ... 'A strange moment', sagt er, und ein schmerzhafter. 'Aber genau das Richtige, was zu tun ist.'"

Weiteres: Chris Dercon wird neuer Leiter des Grand Palais in Paris, meldet der Standard. In der New York Review of Books erzählt Jenny Uglow anlässlich einer Ausstellung in der National Gallery of Scotland, wie die britischen Maler Rembrandt entdeckten. In Hyperallergic stellt Julia Friedman den japanischen Grafikdesigner Awazu Kiyoshi vor. Besprochen werden die Ausstellung "Antarktika" in der Kunsthalle Wien (Standard), die Bruce-Nauman-Retrospektive "Disappearing Acts" im Moma (hyperallergic), eine Skulpturenausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin mit Arbeiten von Joseph Beuys (Tagesspiegel) und eine Ausstellung mit politischen Arbeiten von Thomas Baumgärtel in der Cubus-Kunsthalle in Duisburg (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Gestern hat in Moskau der Prozess gegen den russischen Regisseur Kirill Serebrennikow begonnen. Die Anklage wirft ihm vor, bei einem Theaterprojekt 133 Millionen Rubel (ca. 1,7 Millionen Euro) staatlicher Zuschüsse unterschlagen zu haben, meldet der Tagesspiegel. "'Ich habe mich nicht schuldig bekannt und werde mich nicht schuldig bekennen. Ich habe nichts gestohlen', sagt der 49-Jährige in der Verhandlung. Die Anklage sei nicht nur absurd, sie sei ihm völlig unverständlich. Seit elf Monaten steht Serebrennikow unter Hausarrest. Auch russische Oppositionelle halten die Anschuldigungen für konstruiert und deuten sie als Symptom dafür, wie der Staat mit unbequemen Künstlern umgeht. Zahlreiche Intellektuelle sind deshalb vor und im Gericht erschienen, um ihre Solidarität mit Serebrennikow zu zeigen."

In der Zeit beschreibt Alice Bota das drückende Klima für Künstler in Russland: "Vor Gericht stehen Serebrennikow und drei Mitangeklagte, gemeint sind sie aber alle. Dem Regisseur Witali Manski strich der Kulturminister persönlich wegen seiner 'antistaatlichen Rhetorik' die Förderung für sein Dokumentarfilmfestival. Seine Produktionsfirma hat Manski nach Riga verlegt. Auch sein Kollege Andrej Swjaginzew, für den Oscar nominiert, verzichtete auf eine Staatsförderung, nachdem ihm der Kulturminister 'Nestbeschmutzung' vorwarf. Der Dramaturgin Marina Dawydowa wurde die Finanzierung für ihre Zeitung Teatr gestrichen, nachdem sie zu Beginn des ukrainisch-russischen Krieges einen Schwerpunkt über ukrainisches Theater veröffentlichte und das Titelblatt in die blau-gelben Nationalfarben der Ukraine tauchte. Früher, meint Dawydowa, hätten die Machthaber in Moskau auch veränderungswillige Künstler ausgezeichnet. Das sei vorbei. Wie also leben, wie atmen, wie arbeiten?"

Weitere Artikel: Die nachtkritik veröffentlicht einen Auszug aus einem Theaterstück für zehn SchauspielerInnen von Daniel Tharau. Das Stück basiert auf dem Kongress "Vorsicht Volksbühne!", der im Juni an der Berliner Akademie der Künste im Juni stattfand. In der SZ berichtet Egbert Tholl vom Festival "Politik im Freien Theater" in München.

Besprochen werden Peter Kastenmüllers "Das Anschwellen der Bocksgesänge" am Theater Neumarkt in Zürich (nachtkritik), die Uraufführung von Marco Tutinos Oper über den Kieler Matrosenaufstand "Falscher Verrat" in Kiel (nmz), Jacques Offenbachs opéra-bouffe-féerie "König Karotte" in Hannover ("eine unfassbare Fülle guter Musik", schwärmt Ute Schalz-Laurenze in der nmz) und Alexei Ratmanskys Rekonstruktion von Petipas Choreografie "La Bayadère" am Staatsballett Berlin (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Für den Tagesspiegel hat Christian Schröder Grönemeyers neues, sehr politisches Album "Tumult" gehört: Der Musiker "hängt Assoziationsketten aneinander, seine Metaphern wechseln zwischen poetischer Mehrdeutigkeit und beinahe tagesaktuellen Slogans. Manchmal wirkt er ratlos." Beim Presse-Stelldichein zur Veröffentlichung wurden "Thunfisch-Tataki, Hühnerhaut auf Caesar Salad und gegrillter Oktopus gereicht", berichtet Manuel Brug in der Welt. Das Album selbst klingt "sehr vertraut nach Eighties. Herbert Grönemeyer macht diesmal keine rhythmischen Experimente", was schon "ab dem zweiten Hören immer mehr Spaß macht" und schlussendlich doch "irgendwie das Album der Stunde ist, der Soundrack für diesen trügerisch dauergoldenen Herbst."

Weitere Artikel: Andreas Hartmann freut sich in der taz über die pop-archäologische Grabungsarbeiten, die das Fanzine Zonic seit 25 Jahren im Hinblick auf Musik aus den Ostblock-Ländern betreibt, woraus nun auch eine Compilation mit Fundstücken hervorgegangen ist. In der FAZ trägt Peter Kemper Ankedoten zur Entstehung des Weißen Albums der Beatles vor 50 Jahren zusammen, das zur Freude des Rezensenten gerade in einer luxuriösen Jubiläumsausgabe erschienen ist: "Gerade seine lässige Unvollkommenheit macht es so sympathisch und irgendwie cool. Es scheint von allen Beatles-Alben am wenigsten Patina angesetzt zu haben." Norbert Krampf resümiert in der FAZ das Jazzfest Berlin. Harry Nutt (Berliner Zeitung) und Judith Holofernes (Zeit) gratulieren Joni Mitchell, die gestern ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. Dlf Kultur hat dazu ein großes Feature.

Besprochen werden die Compilation "Kreaturen der Nacht" mit deutschem Post-Punk von 1979 bis 1985 (taz), der im Vorfeld heiß diskutierte Dessauer Auftritt von Feine Sahne Fischfilet (taz, Freitag, SZ, ZeitOnline), ein Bernstein- und Schostakowitsch.-Abend mit Gustavo Dudamel und den Berliner Philharmonikern (FR), ein Konzert von Blood Orange (Tagesspiegel), ein Auftritt von Kelly Lee Owens (Tagesspiegel) und das auf Pitchfork hymnisch besprochene neue Album "El Mal Querer" von Rosalía. Daraus ein Video:

Archiv: Musik