Efeu - Die Kulturrundschau

Nachtfahrten durchs Leben

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24.04.2024. Knapp die Hälfte der nominierten Autoren und Übersetzer wirft dem PEN America eine zu israelfreundliche Haltung vor, in Folge ist die Verleihungsfeier des Literaturpreises abgesagt worden, meldet unter anderem die SZ. Die FAZ listet die Werke auf, die der russische Großverlag Eksmo-AST auf Druck einer "Experten"-Kommission canceln muss. Es gibt keine russische Nation, sondern nur eine "Ansammlung von zig Kulturen unter einem imperialen Dach", sagt die Schauspielerin Valery Tscheplanowa in der Berliner Zeitung. Die Filmkritiker bewundern, wie Matthias Glasner die schwachen Stellen des Schmerzes in seinem Film "Sterben" auslotet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2024 finden Sie hier

Literatur

PEN America lässt die Verleihungsfeier seines Literaturpreises ausfallen, nachdem annähernd die Hälfte der infrage kommenden Autoren und Übersetzer ihre Werke dafür abgezogen haben, berichtet Philipp Bovermann in der SZ. Sie werfen der Schriftstellervereinigung zu wenig Solidarität mit den Menschen in Gaza und eine zu israelfreundliche Haltung vor. Die damit frei werdenden Finanzmittel gehen nun an den Palestine Children's Relief Fund. "'Wir haben großen Respekt davor, dass die Autoren ihrem Gewissen gefolgt sind', sagte Rosaz Shariyf, die für den Wettbewerb verantwortlich ist." Doch "unter den derzeitigen Voraussetzungen sei es nicht möglich, eine Feier 'so durchzuführen, wie wir es uns erhofft hatten', ergänzte die PEN-America-Vorsitzende Suzanne Nossel. Ihr Name fällt in einem Brief, den einige der Nominierten sowie weitere Schriftstellerinnen und Schriftsteller veröffentlicht haben. Sie fordern den Rücktritt Nossels und den von Präsidentin Jennifer Finney Boylan. Andere PEN-Zentren, etwa der englische und der irische, so heißt es in dem Schreiben, kritisierten deutlicher die Unterstützung Israels und die Lieferung von Waffen an dessen Militär." In der Berliner Zeitung bringt Susanne Lenz weitere Einzelheiten.

Der russische Großverlag Eksmo-AST hat den aktuellen Roman "Das Erbe" des im Berliner Exil lebenden Schriftstellers Vladimir Sorokin aus dem Programm genommen (auch Bücher von Michael Cunningham und James Baldwin sind davon betroffen). Das Haus beugt sich damit dem Druck durch eine neue, in die russische Verlagsvereinigung "Russische Buchunion" integrierte, äußerst konservativ zusammengesetzte Kommission von "Experten", berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Diese "prüfen, ob Buchpublikationen mit der russischen Gesetzgebung konform sind. Im Fall der Romane von Baldwin und Cunningham dürfte die Thematik von Homosexualität Anstoß erregt haben. Bei Sorokin, der in eine dystopische Zukunft Russlands versetzt, werden zudem Gewaltexzesse geschildert, auch an scheinbaren (freilich zwanzig Jahre alten) Kindern." Der Verlag habe um das Buch zwar gekämpft, sagt der Autor. "Doch ultranationalistische Organisationen wie die militante Kirchenbewegung 'Sorok sorokow' und die Verfolger kritischer Popmusiker von 'Ruf des Volkes' (Sow naroda), aber auch die den Ukrainefeldzug befürwortende Autorin Olga Uskowa hatten AST wegen des Romans denunziert."

Außerdem: Marc Reichwein kommentiert in der Welt die Nominiertenliste für den Deutschen Sachbuchpreis 2024. Besprochen werden unter anderem Elizabeth Pichs Comic "Fungirl" (NZZ), Mareike Fallwickls "Und alle so still" (Standard), Kristin Höllers "Leute von früher" (Zeit Online), Tuvia Tenenboms "Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen" (taz) und Jan Koneffkes "Im Schatten zweier Sommer" (FAZ).

Und Salman Rushdies vergnüglicher Auftritt in Jon Stewarts Daily Show:

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Bühne

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Die in Russland geborene Schauspielerin Valery Tscheplanowa hat im letzten Jahr einen von der Kritik gelobten biografischen Roman veröffentlicht, nun ist sie in Ulrich Rasches "Nathan"-Inszenierung zu sehen, die das Berliner Theatertreffen eröffnet. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erklärt sie, weshalb sie als Tartarin nicht mehr als "russisch" bezeichnet werden will und warum es ihrer Meinung nach keine russische Nation, sondern nur eine "Ansammlung von zig Kulturen unter einem imperialen Dach" gibt: "Es gab diesen Landstrich der Wolgabulgaren um Kasan herum zum Beispiel, da herrschte Religionsfreiheit, auch da ging die Goldene Horde auf Streifzug und eroberte Riesengebiete. So entstand dieses unendlich weite Land. Die ganzen Nationen wurden einfach überdeckt, es gibt da viele Volksgruppen, die asiatisch geprägt sind, die viel enger mit Türken oder Mongolen verwandt sind als mit Slawen. Das Russische, das man mit Dostojewski, Tschaikowski, Moskau und St. Petersburg verbindet, betrifft nur den kleinsten Teil dieses zusammengeraubten Reichs." Putin nutze die Naivität vieler Russen aus, ergänzt sie: "Diese Naivität speist sich aus der zaristischen und kommunistischen Geschichte und aus der Religiosität. Der Weg daraus könnte über die Emanzipation der Menschen führen, dabei könnte das Bewusstsein einer eigenen Nationalität und Sprache vielleicht helfen."

Szene aus "ROM". Bild: Marcel Urlaub

Shakespeares Römertragödien "Titus Andronicus", "Coriolanus", "Julius Caesar" und "Antonius und Kleopatra" hat die Autorin Julia Jost zu einem Stück mit dem Titel "ROM" modernisiert zusammengefügt, Luk Perceval hat es nun auf die (Dreh-)Bühne des Wiener Volkstheaters gebracht und nicht nur FAZ-Kritiker Martin Lhotzky ist enttäuscht: "Natürlich hat es durchaus etwas mit unserer Gegenwart zu tun, wenn man dabei zuschauen und zuhören darf, wie Macht zu Korruptheit führt, wie sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder grausam ausgelebt wird, welche furchtbaren Folgen Kriege haben. Allerdings wären solche Erkenntnisse auch schon beim Poeten aus Stratford-upon-Avon selbst zu erspähen. Dafür braucht es keine Überschreibung. Am Ende wirkt ROM eher wie eine szenische Lesung als ein Drama." Ähnlich urteilt Jakob Hayner in der Welt, der in diesem düsteren "Bilderreigen" immerhin ein paar Höhepunkte ausmacht, etwa den Wasserringkampf zwischen Kleopatra und Antonius: Wie sie "wortlos miteinander ringen, sich an die Wand und ins Wasser werfen, Arme und Beine umeinanderschlingen, drücken und ziehen, ist ein ergreifendes Bild von zärtlicher Brutalität. Ist das noch Kampf oder schon Sex?"

Weitere Artikel: Am Sonntag feiert der "Tannhäuser" unter dem Dirigat von Thomas Guggeis an der Oper Frankfurt Premiere. Im FR-Interview spricht Guggeis über die Tücken der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts, die Bedeutung des Musiktheaters und die "Wunderwelten" des Tannhäuser. In der NZZ rauft sich Paul Jandl die Haare über Dieter Hallervorden, der unter anderem Hamas-Propagandavideos postet. Im Standard wirft Margarete Affenzeller einen Blick auf das neue Programm des Wiener Burgtheaters unter dem designierten Direktor Stefan Bachmann. Nachtkritiker Martin Thomas Pesl kommentiert dazu: "Alle atmen erleichtert auf, weil Kušej weg ist und sie noch da sind, also empfangen sie die Neuen mit offenen Armen. Wie interessant oder gar innovativ das Theater wird, das aus diesem Burgfrieden hervorgeht, scheint dabei zunächst zweitrangig."

Besprochen werden Ricard Soler Mallols Oper "Ali" am Brüsseler Opernhaus La Monnaie/De Munt (SZ), Ewald Palmetshofers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" am Theater Bremen (taz), eine Aufführung der Oper Poznan von Stanislaw Moniuszkos Oper "Das Gespensterschloss" an der Berliner Philharmonie (Tsp) und die Ausstellung "Opera Meets New Media - Puccini, Ricordi und der Aufstieg der modernen Unterhaltungsindustrie" im Bertelsmann-Sitz Unter den Linden (Welt).
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Kunst

Werbeplakat für Fahrräder der Marke Plasson Cycles, Lithographie von Manuel Robbe, Paris ca. 1897. Quelle: SDTB, Historisches Archiv, V.4. X 0008

Das Deutsche Technikmuseum in Berlin zeigt ab heute die Ausstellung "Freiheit auf zwei Rädern" mit vierzig französischen Werbeplakaten aus dem eigenen Bestand. Es ist aber nicht nur eine Schau über das Fahrrad, sondern vor allem über das Frauenbild der Belle Époque, stellen Sophie-Marie Schulz und Linnéa Grajetzki in der Berliner Zeitung fest: "Auf der einen Seiten werden Rollenbilder bewusst aufgebrochen, erhalten eine moderne Nuance. Andererseits wurde das Fahrradfahren in Verbindung mit dem weiblichen Körper zu einem Streitthema. Was, wenn eine Frau auf dem Fahrrad anfängt zu schwitzen? Wenn sie sich zu sehr vom männlichen Familienoberhaupt emanzipiert? Während sich einige Künstler mit mythologischen oder kriegerischen Darstellungen befassten, hielten sich andere an die gegebenen Schönheitsideale. Mit dem Abbild der sogenannten Parisienne - eine Frau mit Wespentaille, langen Kleidern und perfekt liegenden Haaren - sollte verdeutlichen, dass Fahrradfahren nicht auf Kosten der Weiblichkeit geht." Männer sorgten sich, dass "Frauen wegen der Form des Sattels Schaden nehmen könnten und permanent stimuliert werden. Die Industrie fackelte nicht lange und entwarf einen 'frauengerechten Sattel'."

Elfriede Mejchar: aus der Serie "Wienerberger Ziegelöfen", 1979-81, Wien Museum

Gleich drei Häuser, nämlich die Landesgalerie Niederösterreich, das Wien-Museum und das Museum der Moderne Salzburg widmen der österreichischen Fotografin Elfriede Mejchar derzeit Ausstellungen zum hundertsten Geburtstag, freut sich im Standard Caroline Schluge, denn Mejchar, die "unbekannte Konstante" in der österreichischen Fotografie, machte neben Landschaftsfotografie, Porträts, Collagen und experimenteller Analogfotografie auch Aufnahmen von Lost Places, lange bevor es Trend wurde: "Immer wieder steigt sie aus ihrem Dienstwagen aus und nimmt alte Strommasten, Vogelscheuchen oder Autowracks auf. Die Bilder werden zu Zeitdokumenten der österreichischen Peripherie, in der die Uhren stillzustehen scheinen. Es ist immer wieder das vermeintlich Hässliche, in dem Mejchar das Schöne sieht: Die Stofffetzen an den heruntergekommenen Vogelscheuchen flattern im Wind, Pflanzen ranken sich um die verlassenen Autos und machen sie zu einem permanenten Teil der Landschaft."

Weitere Artikel: Ein Rembrandt von 2016? Kann man im Kurzpfälzischen Museum Heidelberg sehen, das in der Ausstellung "Kunst und Fälschung" nicht nur Werke aus LKAs präsentiert, sondern auch offenbart, wo Künstliche Intelligenz nach wie vor Schwächen zeigt, wie Katharina J. Cichosch (taz) feststellt.
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Film

Nachtfahrten durchs Leben: Lilith Stangenberg in "Sterben" von Matthias Glasner

Philipp Bovermann feiert in der SZ Matthias Glasners autobiografisch grundierten Ensemblefilm "Sterben", in dem es um die "Herzenskälte" einer Mittelschichtsfamilie geht: Der Vater (Hans-Uwe Bauer) ist eben dement im Altersheim gestorben, die krebskranke Mutter (Corinna Harfouch) in Lieblosigkeit und Ungeliebtheit erkaltet, der Sohn (Lars Eidinger) ist angehender Klassikstar, die Tochter (Lilith Stangenberg) am Leben scheiternde Grenzgängerin. Es ist "Glasners bislang reifster, auch unterhaltsamster Film", schreibt Bovermann: "Großartig ist er in erster Linie wegen seiner Schauspieler. Sie bringen, bis in die Nebenrollen, so viel mit in den Film, dass die erzählte Handlung durchlässig wird für etwas jenseits der Geschichte", was ihm vor allem die exzessive Stangenberg-Episode vor Augen führt: "Um die Herzenskälte zu finden, darf man nämlich nicht nur dorthin gehen, wo es besonders wehtut. Die schwachen Stellen des Schmerzes sind entscheidend, die, an denen er in die Belanglosigkeit absackt, in die Ablenkung, Zerstreuung und Blödelei. Gerade, wenn man ihm auf die Schliche zu kommen droht, lässt er locker und schenkt einem Episoden alberner Heiterkeit. Nachtfahrten durchs Leben, die einem hinterher keiner glauben würde, und die man sich selbst nicht recht glaubt, weil sie wie ausgedacht wirken." Auch Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz weiß den "beiläufigen, den Existentialismus sanft unterhöhlenden Humor" des Films zu schätzen.

Außerdem: Der deutsche Film entdeckt die Altenpflege, schreibt Ralf Krämer im Freitag - ebenfalls aus Anlass von Glasners "Sterben". Claudius Seidl (FAZ) und Fritz Göttler (SZ) gratulieren Shirley Maclaine zum 90. Geburtstag. Besprochen werden Christoph Hübners und Gabriele Voss' Langzeit-Dokumentarfilm "Vom Ende eines Zeitalters", der über 45 Jahre hinweg den Strukturwandel im Ruhrgebiet beobachtet (Zeit Online), Luca Guadagninos Tennisdrama "Challengers" (tazlerin Araballa Wintermayr sah "eine formvollendete Studie des Verlangens" und "leichtfüßigen Hedonismus"), Zack Snyders "Rebel Moon 2" auf Netflix (critic.de), die Netflix-Serie "Ripley" (FAZ) und die Netflix-Serie "Dead Boy Detectives" (Tsp).
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Musik

Die Gerüchteküche brodelt schon länger: Wird Joana Mallwitz 2026 auf Vladimir Jurowski nachfolgen und das Orchester der Bayerischen Staatsoper leiten? Jetzt hat sie im Haus Mozart und Tschaikowsky dirigiert - und SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck berichtet von respektvollen, aber moderaten Reaktionen des ansonsten auch mal aufbrausenden Münchner Publikums. "Mallwitz wie die Musiker sind technisch ausnehmend versiert, es scheint nichts zu geben, was sie und das Orchester nicht können. Nun ist Technik in der Musik zwar hilfreich, aber eben nicht die Essenz. ... Mallwitz ist fern von Exzess, Grenzensprengerei, Pathologie. Sie begreift klassische Musik an diesem Abend als ein Kommunikationsmittel, das sich möglichst wenig über die Grenzen des bürgerlichen Anstands hinausbewegen soll, dort drohen nämlich Haltlosigkeit, Aufstand, Wahnsinn. Musizieren aber ist ein Grenzgang zwischen den Polen Irrsinn und Kontrolle. Mallwitz plädiert an diesem Abend ein bisschen zu sehr für Kontrolle, das könnte die relative Zurückhaltung des Publikums erklären."

Anlässlich des "Tags gegen Lärm" denkt Helmut Mauró über das Verhältnis zwischen schierer Laustärke und Wohlklang nach. Im klassischen Konzert- und Opernsaal ist das mitunter eine Frage der Perspektive, also des Sitzplatzes: So "empfinden zumindest Wagnerianer es als äußerst angenehm, Orchesterlautstärken mit mehr als 120 Dezibel beizuwohnen. Das entspricht einem startenden Düsenjet in 100 Meter Entfernung. ... Die EU-Richtlinie von 85 dB Maximalbelastung am Arbeitsplatz, die auch für Musiker gilt, ist im Orchestergraben kaum durchsetzbar. Aber sie hat zu Verbesserungen geführt. Die Streicher etwa, die vor den Bläserbatterien sitzen, haben ein Schallschutzschild aus Plexiglas bekommen."

Weitere Artikel: Im taz-Gespräch erklärt Diffus-Chefredakteur Torben Hodan, warum sein Online-Musikmagazin nun den Schritt zur Printpublikation wagt: Dort sollen vor allem "lange, zeitlose Texte" rein, "eine Art Coffee Table Book, in dem wir gute Geschichten erzählen wollen". Ane Hebeisen plaudert für den Tagesanzeiger mit Sven Regener. Frederik Hanssen blickt im Tagesspiegel auf die kommende Saison der Berliner Philharmoniker.

Besprochen werden ein Auftritt von Igor Levit in Frankfurt (FR), Laura Jane Graces neues Album "Hole In My Head" (FR) und neue Pop- und Rockveröffentlichungen, darunter T Bone Burnetts "The Other Side" (Standard).

Archiv: Musik