Efeu - Die Kulturrundschau

Macht ist wichtig

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2022. Filmproduzent Günter Rohrbach befindet in der SZ, dass Selbstbewusstsein irgendwie toller ist als ständiges Jammern und Angsthaben. In der FAZ trauert Hans Stimmann um das Heizkraftwerk von Wilmersdorf. Die Welt wünscht sich wieder mehr drogensüchtige und vorbestrafte Rockmusiker. Und die taz taumelt selig mit Gary Victor durch die tropischen Nebel Haitis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2022 finden Sie hier

Film

Tobias Kniebe und David Steinitz haben die SZ Filmproduzentenlegende Günter Rohrbach besucht, der von zahlreichen Anekdoten und Begegnungen in seinem Leben erzählt. Unter anderem geht es um die Zeit, als man als Filmredakteur beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch kein quoten- und intendantenfürchtiger Schlotterhannes war: "Das war damals einfach eine wunderbare Situation. Deswegen habe ich auch immer gesagt: Macht ist wichtig. Ich weiß, Macht hat oft auch eine negative Konnotation, aber wenn Sie etwas bewirken wollen, brauchen Sie Macht und müssen sie auch verteidigen. ... Wir waren einfach selbstbewusst, uns konnte niemand. Kein Programmdirektor und schon gar kein Intendant hätten gewagt, uns irgendwie dazwischenzufunken. Deshalb verstehe ich die heutigen Redakteure auch nicht so wirklich, die immer jammern, immer Angst haben. Aber gut, es war finanziell natürlich auch anders damals. Ich erinnere mich, als ich mich beim WDR beworben habe, sagte der damalige Verwaltungsdirektor zu mir: 'Ja, kommse zu uns, wir können vor Geld nicht loofen.'"

Außerdem: Andreas Busche empfiehlt im Tsp das auf den amerikanischen Independentfilm spezialisierte Berliner Filmfestival "Unknown Pleasures". In der FAZ schreibt Hannes Hintermeier einen Nachruf auf die Münchner Filmkritikerin Ilse "Ponkie" Kümpfel-Schliekmann (mehr zu ihrem Tod bereits hier).

Besprochen werden Uli Edels ZDF-Serie "Der Palast" (Welt, FR, FAZ), ein von Stefan Jung und Marcus Stiglegger herausgegebener Band über Berlin im Film (taz), Charlotte Sielings Mittelalterfilm "Die Königin des Nordens" (online nachgereicht von der FAZund die SRF-Serie "Wilder" (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

In der taz nimmt Benno Schirrmeister Gary Victors neue Polit-Satire "Die Zauberflöte" zum Anlass, uns den haitianischen Autor so harter wie exzessiver Kriminalromane ("Suff und Sühne" empfahl bereits unsere Krimi-Expertin Thekla Dannenberg) wärmstens ans Herz zu legen. Seine "Kriminalromane siedeln in einem vom Gesetz wirklich verlassenen Raum. Mit Glück und diffus wie durch einen tropischen Nebel scheint in ihnen für einen Moment der lichte Gedanke an Gerechtigkeit auf, wenn der alkoholkranke Ermittler Dieuswalwe Azémar sich aus seinen Albträumen und Delirien löst und mit freudloser Gewalt volltrunken der Sache ein Ende bereitet. Die Gattung ermögliche ihm, 'den Wahnsinn, und das Chaos aufzugreifen, die Haitis Lage auszeichnen', erklärt Gary Victor." Doch "die Lage aufgreifen ist das eine. Mit der herben Politsatire 'Die Zauberflöte' hingegen attackiert Victor sie frontal. Wieder einmal, gelegentlichen Drohungen zum Trotz. Denn ätzende Komik gehört schon seit jeher zu den Facetten des umfangreichen Œuvres, das der 1958 geborene Victor seit 1981 veröffentlicht hat."

Weiteres: Stefan Brändle berichtet für den Standard aus Paris, wo man gespannt auf den dieser Tage erscheinenden, neuen Roman von Michel Houellebecq wartet. Im Dlf Kultur gibt Miriam Zeh einen Ausblick auf den kommenden Bücherfrühling.

Besprochen werden unter anderem Terézia Moras "Fleckenverlauf" (ZeitOnline), Gisela von Wysockis "Der hingestreckte Sommer" (SZ), Stephen Thomes "Pflaumenregen" (NZZ), Uljana Wolfs Essayband "Etymologischer Gossip" (FR), Mieko Kawakamis "Heaven" (Dlf Kultur), die von Birgit Kreipe und Ron Winkler herausgegebene Lyrikanthologie "Rote Spindel, schwarze Kreide" über Märchen im Gedicht (Freitag), Jordan Scotts und Sydney Smiths Kinderbuch "Ich bin wie der Fluss" (Dlf Kultur), der Abschluss von Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos Comic-Horrorserie "Gideon Falls" (Tsp) sowie Bücher zum Werk des Buchillustrators Celestino Piatti (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Ausstellungsansicht Vivian Suter. Retrospektive, Foto: Marc Latzel / Kunstmuseum Luzern

Angelika Affentranger-Kirchrath stellt in der NZZ die Schweizer Künstlerin Vivian Suter vor, die ihr Atelier inmitten des Urwalds von Guatemala, am Lago de Atitlán, errichtet hat und der das Kunstmuseum Luzern nun ein Retorspektive widmet: "Auch im Kunstmuseum Luzern wähnt man sich in einem üppigen Gewächshaus und meint in ein Labyrinth aus bemalten Tüchern geraten zu sein, die 'himmelsspannend', so die Kuratorin Fanni Fetzer, von der Decke hängen. Wenn wir uns durch diese eng nebeneinander und übereinander hängenden Stoffbahnen bewegen, erleben wir die Malerei so hautnah wie kaum je sonst. Manchmal verlieren wir den Überblick, sehen nichts anderes mehr als starke Farben und schemenhafte Zeichen, dann wieder erkennen wir Figuren und Gegenstände. Grenzen zwischen Anfang und Ende, Werden und Vergehen im schöpferischen Prozess werden hinfällig."

Besprochen wird die Ausstellung "Der geteilte Picasso" über die Rezeption des Künstlers in BRD und DDR im Museum Ludwig Köln (die Jochen Becker in der taz als "feinste Sahne Konzeptfilet" zu goutieren weiß).
Archiv: Kunst

Architektur

Industriedenkmal der Elektropolis. Foto: Alexander Aavin / Wikimedia

Hans Stimmann, viele Jahre berühmt-berüchtigter Senatsbaudirektor in Berlin, beklagt in der FAZ - ein bisschen spät - den Abriss des markanten Heizkraftwerks an der Stadtautobahn in Wilmersdorf, der vom Betreiber Vattenfall und dem Senat auch noch als Beitrag zu klimapolitischen Wende verkauft wird. Von wegen, meint Stimmann: "Als Vorbild für eine attraktive gemischte Nachnutzung hätte sich die Umnutzung des Londoner Kraftwerks Battersea angeboten, das berühmt geworden ist durch das Cover der Pink-Floyd-Platte 'Animals' mit dem zwischen den Schornsteinen fliegenden aufgeblasenen Schwein. Hier entstanden nach 2013 ein Einkaufszentrum, Hotels, Wohnungen, Büros und soziale Einrichtungen. Battersea blieb als Industriedenkmal erhalten, und die Umgebung wurde aufgewertet. Die in Berlin unter rot-grün-roten Vorzeichen erfolgte Einstufung der ehemaligen innerstädtischen Industrieareale und des Heizkraftwerkes als Belastung und nicht als Potential für eine nachhaltige Entwicklung zu betrachten wirkt zudem noch besonders aus der Zeit gefallen, da der aus der "guten alten" West-Berliner Zeit autogerechter Stadtutopien stammende überflüssige Stadtautobahnabzweig Wilmersdorf nicht etwa zurückgebaut wird, sondern nun erst recht als Monument einer in den Siebzigerjahren gebauten autogerechten Stadtvision zur Geltung kommt."

Weiteres: Nach einer Rundtour über die Kanarischen Inseln stellt Frederik Hanssen im Tagesspiegel fest, dass Konzerthäuser den Museen den Rang als beliebte Prestigebauten abgelaufen haben.
Archiv: Architektur

Bühne

Nach den Turbulenzen am Badischen Staatstheaer Karlsruhe versichert Schauspieldirektorin Anna Bergmann, die unter der Bedingung angetreten war, dass sie ein Jahr lang nur Regisseurinnen verpflichten kann, im Interview in der Welt: "Wir sind entspannt und angstfrei, können aus Freiheit agieren, es gibt keinen Psychostress mehr."

Besprochen werden Salar Ghazis Dokumentarfilm "In Bewegung bleiben", der zehn Protagonisten aus Tom Schillings legendärem Tanztheater an der Komischen Oper in den letzten Monaten der DDR porträtiert (SZ) und John Crankos Ballett "Onegin" von 1965 mit der Compagnie der Wiener Staats- und Volksoper (Standard).
Archiv: Bühne

Design

Der Tagesspiegel meldet den Tod des Gestalters Karl Clauss Dietel, der unter anderem den Wartburg 353 oder Erika-Schreibmaschinen entwarf. Besprochen wird die Pariser Ausstellung "Aerodream" über aufblasbare Kunststoffe in Möbeldesign und Architektur (NZZ).
Archiv: Design

Musik

Früher waren große Pop- und Rockmusiker allerhöchstens insofern Vorbilder, wie man möglichst schnell vorbestraft und drogensüchtig wurde, doch spätestens seit Bob Geldofs verlogener "Live Aid"-Masche in den Achtzigern müssen Popstars tugendkonforme Moralapostel sein, seufzt Frank Jöricke in der Welt. "Den Rockstars von heute wird nichts mehr verziehen. Man erwartet von ihnen, dass sie nicht nur ihr Instrument, sondern auch den politischen Diskurs beherrschen", wohingegen man derbe Ausfälle von früher, gegen die heute mancher Aufreger verblasst, achselzuckend hinnahm. "Bei allem Schwadronieren darüber, wer wann was gesagt und wie gemeint haben könnte, überhört man schon einmal die Musik. Höchste Zeit, daran zu erinnern, dass große Künstler oft auch große Kotzbrocken waren."

Außerdem: Marc Zollinger hat für die NZZ den Geigenbauer Gaspard Borchardt im Geigen-Mekka Cremona besucht. Gerald Felber spricht für die FAZ mit dem Freiberger Domkantor Albrecht Koch, der in seinem Haus eine Silbermann-Orgel stehen hat. Harry Nutt (FR) und Wolfgang Sandner (FAZ) gratulieren dem Jazzgitarissten John McLaughlin zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Bruce Springsteens und Barack Obamas gemeinsames Buch "Renegades" (taz), das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors (Tsp) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter das gemeinsame Album "À sa guitare" des Barocksängers Philippe Jaroussky und des Gitarristen Thibaut Garcia, auf dem sich Jaroussky "endgültig als Alleskönner zeigt", wie SZ-Kritiker Reinhard Brembeck schwärmt.
Archiv: Musik