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21.07.2018. Die Welt erinnert an das britische Label Trojan Records, das 1968 weiße Arbeiterkinder mit Reggae-Musik bekannt machte und so die Skinhead-Subkultur vorantrieb. Der Tagesspiegel erlebt in einer Berliner Ausstellung erschreckend reaktionäre Ansichten in russischen Provinzen. Die Kritiker streiten weiter über Susanna Nicchiarellis "Nico". Und die Zeit verabschiedet sich mit siebzehn Museen im Ruhrgebiet vom Bergbau.
Für den Tagesspiegelhat sich Ingeborg Ruthe die Ausstellung "Ungeschminktes Russland" in der Berliner SMAC Galerie angesehen, für die die beiden Slawistinnen Saskia Langer und Veronica di Nuncio bis in die abgelegensten Provinzen Russlands gereist sind und gesellschaftskritische, mitunter aber auch "erschreckend konservative" Ansichten über Geschichte, Religion oder Politik mitgebracht haben: "Viele beklagen zwar die Armut, die harten Arbeitsbedingungen, die niedrigen Löhne und kläglichen Renten. Und doch sagen sie, Putin gäbe dem Land Stabilität. Jüngere verraten, dass die Älteren die sozialistische Ära verklären und alles, was daran ein dunkles Kapitel ist, samt dem Zusammenbruch des Systems und aller Utopien nach 1990 eher totgeschwiegen werde. Das Wichtigste im Leben ist, das betonen die meisten der Befragten: die Familie, und zumeist als traditionelles Familienbild. Dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren können, wie in Europa, halten die meisten - auch junge Menschen - für eine Wahnvorstellung."
Weitere Artikel: Im FAZ-Interview mit Konstanze Crüwell erklärt Museumsdirektor Daniel Birnbaum, weshalb er ab 2019 als künstlerischer Direktor zur Kunst und Technologie verbindenden Firma für virtual reality, Acute Art, wechseln wird und wie Kunst für jeden online zugänglich gemacht werden soll: "Langfristig soll auch ein neuer Typus von Museum aufgebaut werden. Es wird keine Originale mehr geben, sondern omnipräsente Kunstwerke für jeden. Das englische Künstlerduo Gilbert& George träumt von ebendieser 'Kunst für alle'." In der NZZerklärtHans Ulrich Obrist, wie Computerexperten gerade mit Blick auf Künstliche Intelligenz von der Zusammenarbeit mit Künstlern profitieren könnten.
Michaela Maria Müller porträtiert für die taz den leidenschaftlichen Peter-Weiss-Experten JürgenSchutte, der Weiss in den Nuller Jahren in die "Digitale Bibliothek" brachte und nun im Verbrecher Verlag ein Register zu Weiss' "Ästhetik des Widerstands" herausgegeben hat. "Die 'Ästhetik' sei ein widerständiges Buch und lasse sich nicht ohne Arbeit bewältigen, meint er. In den 1980er Jahren befasste man sich eher mit dem politischen Inhalt, heute ist es die Form. Dass das Erzählte und die Erzählung so komplex wie die Wirklichkeit sind, fasziniert ihn besonders. Der Registerband macht es nun möglich, an beliebiger Stelle in die Lektüre einzusteigen, und erschließt das historische Material."
Weitere Artikel: Wanderer, kommst Du nach Belgrad, so besuche dringend Ivo Andrićs zum Museum umgewandelte Wohnung, rät Paul Ingendaay in der FAZ. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um MargaretAtwoods "Der Report der Magd" (beim WDRgibt es die Langfassung seine Kolumne). Cornelia Geissler (FR) und Katrin Hillgruber (Tagesspiegel) gratulieren dem SchriftstellerPavel Kohout zum 90. Geburtstag. Außerdem bringt die Literarische Welt einen Auszug aus NoraGomringers "Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht".
Besprochen werden KatharinaAdlers "Ida" (taz), BrigitteReimanns Briefesammlung "Post vom schwarzen Schaf" (Welt), DeborahLevys "Heiße Milch" (taz), FrancescaMelandris "Alle, ausser mir" (NZZ), GiannaMolinaris "Hier ist noch alles möglich" (online nachgereicht von der FAZ), FraukeBergers Comic "Grün" (Tagesspiegel), MatthiasHeines Studie "Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die Deutsche Sprache für immer veränderte" (NZZ), ChristianKienings Debüt "Letzte Züge" (FR), LisaHallidays "Asymmetrie" (Welt), MegWolitzers "Das weibliche Prinzip" (Welt), EstherKinskys Übersetzung von LewisGrassicGibbons schottischem Klassiker "Lied vom Abendrot" (SZ) und PeterRosels "Karst" (FAZ).
Einig wird sich die Filmkritik nicht über SusannaNicchiarellis Biopic "Nico, 1988", das auf die letzten zwei Lebensjahre der berühmten Sängerin fokussiert. Susanne Ofteringers Dokumentarfilm "Nico Icon" bleibt auch weiterhin die zentrale Anlaufstelle, meint etwa Philipp Buhler in der BerlinerZeitung: Von Nicchiarelli erfahre man "nichts Neues". Ihr im übrigen "reichlich dröger" Film "will so kaputt sein wie Nico am Ende ihrer Tage. Darum wirkt der Film falsch in seinen wenigen empathischen Momenten und geradezu aggressiv in seinem Opferkult. Das Vorgehen ist zumindest problematisch." Ein wenig anders sieht es Bert Rebhandl in der FAZ: Die Leere in ihrem Herzen, die Nico einst besang, "füllt Susanna Nicchiarelli letztendlich mit einem deutschen Mythos, den sie in einen polytoxischen Surrealismus taucht. Damit fügt sie der Unmittelbarkeit der Archivbilder tatsächlich etwas Wesentliches hinzu: 'Nico, 1988' lässt Nico so fremd erscheinen, wie sie sich vielleicht selber häufig war."
Und Perlentaucher-Kritiker Sebastian Markt sah in diesem Film "Bilder, in denen eine Frau, deren Leben in ein unauflösbares Verhältnis von Entwürfen und Spiegelungen eingefasst ist, ein unermüdliches Bemühen um eine unmögliche Kohärenz an den Tag legt, und genau darin zu einer starken Subjektivität findet." Für den Filmdienst hat Peter Kremski mit Hauptdarstellerin Trine Dyrholmgesprochen.
Weitere Artikel: Im Feature fürs RBB-Kulturradiospricht Filmemacher LutzDammbeck mit dem japanischen Regisseur MasaoAdachi, der sich einst der Japanischen Roten Armee anschloss und dann für ein Passvergehen verurteilt wurde. Für die Zeitporträtiert Katja Nicodemus die argentinische Filmemacherin LucreciaMartel. Kracauer-Stipendiat Lukas Foerster meditiert im Filmdienst-Blog über die HighHeels, die BryceDallasHoward in Jurassic World" trägt. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath TerenceStamp zum morgigen 80. Geburtstag. Unter anderem der Standardmeldet, dass Shinobu Hashimoto gestorben ist, der unter anderem an den Drehbüchern zu "Rashomon" und "Die sieben Samurai" beteiligt war.
Besprochen werden AlejandroJodorowskys "Endless Poetry" (Filmgazette, unsere Kritik hier) und Julia Langhofs "LOMO" (Freitag).
Michael Pilz erinnert in der Welt an die Geschichte von TrojanRecords, das 1968 die weißen Arbeiterkinder Großbritanniens mit Reggae-Musik bekannt machte, damit die Skinhead-Subkultur vorantrieb, die damals noch den Schulterschluss mit den schwarzen Migranten suchte: "KulturelleAneignung, ein großes Thema der identitären Linken heute, war immer das Kerngeschäft von Trojan. Wer sagt, Weiße dürften sich keine Musik von Schwarzen aneignen, hat nicht nur Pop als Motor der Gesellschaft nicht verstanden. Er versteht die ganze offene Gesellschaft nicht. Trojan ist mehr als ein Musiklabel, es ist das Label einer Graswurzelbewegung für die Utopie einer Integration von unten." Gerne schwingen wir uns mit einem Trojan-Best-Of aufs Wochenende ein.
Weitere Artikel: Diviam Hoffmann hat sich für die taz zum Gespräch mit der britischen Musikerin EbonyJones getroffen. Michael Jäger erinnert im Freitag an die in der DDR entwickelte Subharchord-Orchel. Josef Oehrlein berichtet in der FAZ von den noch von Enoch zu Guttenberg vorbereiteten FestspielenHerrenchiemsee, das in diesem Jahr ganz dem Thema "Europa!" gewidmet ist. Für die FAZ hat Martin Kämpchen dem letzten Rest der Hippie-BewegungimindischenExil nachgespürt. Für den Tagesspiegelporträtiert Andreas Hartmann die in Berlin lebende Dancehall-Musikerin MissRed, die auf ihrem Debüt "K.O." ziemlich "hochexplosive Musik" vorgelegt hat. Im Standarderinnert Karl Fluch an den österreichischen Protestsänger Sigi Maron.
Besprochen werden das Comeback-Album von Pram (FAZ.net), ein Auftritt von NorahJones (FR), EdSheerans Konzert in Berlin (Tagesspiegel) und die taz füllt das Sommerloch mit einem ausführlichen Artikel über HeleneFischer.
Zu wenig dokumentarischen Abstand erlebt Achim Heidenreich in der FAZ in der Nürnberger Ausstellung "Hitler. Macht. Oper. Propaganda und Musiktheater in Nürnberg": "Tatsächlich jedoch vermeint man in der Nürnberger Ausstellung mitunter den Mundgeruch Hitlers einatmen zu müssen, so haarscharf schrappt das gutgemeinte Ausstellungskonzept der Verantwortlichen vom Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth, dem Staatstheater Nürnberg und dem Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände an der Verklärung vorbei."
Weitere Artikel: Im SZ-Gespräch mit Christine Dössel spricht die BE-Schauspielerin Stefanie Reinsperger über Ehre und Last, die Buhlschaft bereits zum zweiten Mal in der Jedermann-Inszenierung von Michael Sturminger bei den Salzburger Festspielen zu geben: "Was in diese kleine Rolle alles hineinprojiziert wird! Und was aus der Schauspielerin, die diese Rolle spielt, alles herausgequetscht werden soll, aus dem bisschen Material! Dazu die teilweise schockierende Berichterstattung - dass man es in der heutigen Zeit immer noch für wichtig und richtig empfindet, sich über das Aussehen und das Kostüm einer Schauspielerin so auszulassen." Das Auswärtige Amt will die deutsche Teilnahme am Bühnenbild-Festival, der Prager Quadriennale nicht finanzieren, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel.
Besprochen werden Kasper Holters Inszenierung von Bizets "Carmen" bei den Bregenzer Festspielen (NZZ,Standard) und die Performances "Dance Clinic" und "UnBearable Darkness" des Berliner Künstlers Choy Ka Fai bei Impulstanz Wien (Standard)