Efeu - Die Kulturrundschau

Amoralische Postmoderne

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2018. Moral schlägt Kunst: Die Manchester Art Gallery hängt ein präraffaelitisches Bild mit nackten Nymphen ab. Die National Gallery in Washington sagt eine Retrospektive des rüden Chuck Close ab. Die Kunstkritiker fragen: Soll Kunst nur noch das Justemilieu stützen? Der Tagesspiegel möchte dem der sexuellen Belästigung beschuldigten Schauspieler James Franco lieber nicht bei der post-ironischen Selbstbespiegelung zusehen. Die nachtkritik fragt sich, ob wir es mit dem Klimaschutz nicht übertreiben, wenn er am Ende die Theater aus der Innenstadt verdrängt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2018 finden Sie hier

Kunst


John William Waterhouse, Hylas and the Nymphs. Foto: Manchester City Galleries

Die Manchester Art Gallery hat ein präraffaelitisches Gemälde von John William Waterhouse abgehängt, das Hylas und einige badende Nymphen zeigt. Auch die entsprechenden Postkarten sollen aus dem Museumsshop entfernt werden. Auf der Leerstelle klebt jetzt ein Blatt, das erklärt, es solle ein Gespräch angeregt werden darüber, "'wie wir Kunstwerke der Manchester-Kollektion ausstellen und interpretieren'", schreibt Mark Brown im Guardian. "Members of the public have stuck Post-it notes around the notice giving their reaction. Clare Gannaway, the gallery's curator of contemporary art, said the aim of the removal was to provoke debate, not to censor. 'It wasn't about denying the existence of particular artworks.' The work usually hangs in a room titled 'In Pursuit of Beauty', which contains late 19th century paintings showing lots of female flesh. Gannaway said the title was a bad one, as it was male artists pursuing women's bodies, and paintings that presented the female body as a passive decorative art form or a femme fatale."

Der Kunstkritiker des Guardian, Jonathan Jones, findet die ganze Aktion absurd: "My, what a utopia these new puritans have in mind - a world that backtracks 60 years or more into an era of repression and hypocrisy. The great freedoms of modernity include, like it or not, freedom of sexual expression. Even a kinky old Victorian perv has his right to paint soft-porn nymphs. 'Hylas and the Nymphs' is no masterpiece. Its mildly erotic vision of a Greek myth is very silly, if you ask me, and if we were in front of it now I'd be poking fun. Yet we'd be looking, talking, perhaps arguing. Remove it and the conversation is killed stone dead. Culture falls silent as the grave."

Ähnlich sieht es Jürgen Kaube in der FAZ: "Einst kamen Sittenwächter mit einem solchen Denkradius vom Durchmesser null vor allem aus nationalen und religiösen Milieus. Inzwischen sind der Gemeinschaft moralischer Kunstscharfrichter auch Leute beigetreten, die sich selbst für links, intellektuell und mindestens fortschrittlich halten. Ihre Aggression tarnt sich als Empfindlichkeit für die Gefühle von Minderheiten einerseits, zu denen sie unter anderen Frauen rechnen, und als Diskurs andererseits. Doch es gibt gar keinen Diskurs, das Ergebnis der Kunstbetrachtung steht für sie schon fest."

Auch die National Gallery in Washington argumentiert moralisch in ihrer Begründung, eine geplante Retrospektive des Malers Chuck Close abzusagen. Mehrere Frauen hatten sich über die rüde Anmache des im Rollstuhl sitzenden Künstlers beschwert. Aber das Abhängen von Bildern ist kein Debattenbeitrag, ärgert sich Hans-Joachim Müller in der Welt, sondern "vorauseilendes Einknicken" vor der Diskussion: "Die Moral der Bilder ist ihre Amoral. Die ist geradeso so schützenswert wie die Redekur, die dem hochgemuten Kulturbetrieb aufgenötigt wird. Moralische Kunst ist Dekor für Justemilieu. Wir setzen alles aufs Spiel, wenn wir Bilder wegsperren und uns in jene Sprachlosigkeit zurückziehen, die sich nurmehr die korrekte Sprechform zugesteht. Die Maxima und Minima Moralia, in die der Genderdiskurs zu entraten droht, gehören zu den fatalsten Entlastungsstrategien der amoralischen Postmoderne."

Besprochen werden eine Retrospektive zum achtzigsten Geburtstag von Günter Brus im Belvedere 21 in Wien (Presse, Standard), die Ausstellung der Sammlung von Charles I. in der Royal Academy in London (Standard), die Ausstellung "America America" im Burda-Museum (FR), eine Werkausgabe von Charlotte Salomons "Leben? Oder Theater?" mit einer Auswahl von 450 Bildern (taz), Michael Schmidts auf die Fassade der Volksbühne projizierten Fotos aus dem Band "Waffenruhe" (taz) und eine Ausstellung der Sammlung von Thomas Borgmann, "Jump into the Future, Art from the 90's and 2000's", im Stedelijk Museum in Amsterdam (SZ).
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Musik

Für die taz porträtiert Philipp Rhensius die Elektro-Musikerinnen DJ Storm und Ikonika, die in den kommenden Tagen bei der Berliner Clubtransmediale auftreten.  In der Jungle World schreibt Maik Bierwirth über die deutschsprachigen Noise-Rock-Bands Gewalt und Friends of Gas, die sich derzeit rege mit der hiesigen Underground-Kultur vernetzen. In der Spex präsentiert die Musikerin Anna von Hausswolff ihre "fünf Songs zur Zeit". Das Logbuch Suhrkamp präsentiert Thomas Meineckes 52. Folge der "Clip//Schule ohne Worte".Torsten Groß plaudert für die SZ mit Eminem. In der FAZ gratuliert Jürgen Kiesting dem Bariton Simon Estes zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Nightmares on Wax (taz), Kutzkelinas Album "Happy Trailer Life" (taz), Justin Timberlakes neues Album "Man of the Woods" ("ein Fehltritt, der dazu geeignet ist, Timberlakes Status als Popstar neu zu verhandeln", urteilt Jamieson Cox entsetzt auf Pitchfork), ein Konzert von MGMT (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Microshift" von Hookworms (ZeitOnline).

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Bühne

In der nachtkritik fragt Alexander Jürgs, warum die Sanierung der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main so absurd teuer zu werden droht: 888 Millionen Euro ist die neueste Zahl, die kursiert: "Die erschreckende Höhe der geschätzten Baukosten hat aber auch damit zu tun, dass das Bauen in Deutschland seit Jahren von immer mehr Vorschriften und Verordnungen reglementiert wird. Das Lamento unter den Architekten darüber ist seit langem groß. So sinnvoll vieles erscheinen mag (die strengen Vorgaben zur Barrierefreiheit, die Teilhabe ermöglichen; die hohen Anforderungen im Bereich Energieeffizienz, die dem Klimaschutz zu Gute kommen), so klar ist auch, dass diese Gesetze die Bauherren viel kosten. Ein Frankfurter Beispiel: die riesige Glasfassade des Theaterhauses, bislang einfach verglast. Ersetzt man sie nach heutigen Energieeinsparstandards, kommen dabei schnell Unsummen zusammen." Und schon gibt es Forderungen, das Theater aus der teuren Innenstadt zu verlegen.

Besprochen werden Alvis Hermanis' Adaption von Michail Bulgakows Roman "Hundeherz" am Zürcher Schauspielhaus (SZ), Wagners "Siegfried" unter Kirill Petrenko in München (SZ), die Uraufführung von Daniel Mezgers Stück "Edward Snowden steht hinterm Fenster und weckt Birnen ein" am Stuttgarter Theater Rampe (SZ), Gottfried von Einems Oper "Dantons Tod" an der Oper Magdeburg (nmz) und Maximilian von Mayenburgs Inszenierung "Frankenstein" in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin (Tagesspiegel).
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Literatur

Sarah Kugler wirft im Tagesspiegel vorab einen Blick ins kommende Fontane-Jahr. Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" wird künftig an der Fassade eines Museums im oberfränkischen Rehau, Gomringers Wohnort, zu sehen sein, meldet die dpa.

Besprochen werden unter anderem Joshua Cohens "Buch der Zahlen" (NZZ), Howard Jacobsons "Pussy" (NZZ) und Elena Ferrantes "Die Geschichte vom verlorenen Kind" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Ultimativ eingeweiht: James Franco als Tommy Wiseau vor dem Hintergrund der #metoo-Debatte.
Die Filmkritiker diskutieren immer noch James Francos "The Disaster Artist" (erste Kritiken bereits im gestrigen Efeu), ein Film über die Dreharbeiten zu Tommy Wiseaus "The Room", einem nach allen Regeln der Kunst gescheiterten Versuch seines Regisseurs und Schauspielers, mit einem eigenen Film in Hollywood Fuß zu fassen - mittlerweile genießt "The Room" Kultstatus. Francos filmische Aufarbeitung findet FAZ-Kritiker Bert Rebhandl so eitel wie arrogant: Franco, der "The Disaster Artist" nicht nur inszeniert hat, sondern darin auch die Hauptrolle des Tommy Wiseau spielt, macht sich in seinem Spiel "nicht über sich selbst lustig, sondern gefällt sich in einer Karikatur, die ihn selbst als den ultimativ Eingeweihten erscheinen lassen soll."

Andreas Busche positioniert den Film im Tagesspiegel vor dem Hintergrund der #metoo-Debatte, schließlich ist James Franco, der vor kurzem in einer Reihe von Vorwürfen ebenfalls der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde, hier in der Rolle eines manischen Narzissten zu sehen, dessen Unvermögen ihn nicht davor schützt, seine Crew zu schikanieren: "Es fühlt sich mulmig an, gerade jetzt Augenzeuge dieser post-ironischen Selbstbespiegelung aus dem Herzen der Filmindustrie zu sein."


Szene aus Lav Diaz' "The Woman Who Left"

Sascha Westphal schreibt in epdFilm über das Kino des philippinischen Autorenfilmers Lav Diaz, dessen Filme meist deutliche Überlängen im Bereich zwischen vier und zehn Stunden aufweisen. Gerade darin liegt der Reiz, versichert Westphal: "Wer in die Filme von Lav Diaz abtaucht, sich in seinen atemberaubenden, fortwährend das Ideal des goldenen Schnitts zitierenden und variierenden Bildkompositionen verliert, begreift schlagartig die Willkür der typischen Filmlängen. Plötzlich ist da die Utopie eines Kinos, das in seiner Offenheit der Literatur auf Augenhöhe begegnet." Diaz' aktueller Film "The Woman Who Left" ist derzeit in einigen deutschen Kinos zu sehen. Nikolaus Perneczky hat den Film für den Perlentaucher hymnisch besprochen.

Außerdem: Die FAZ hat Bert Rebhandls Text über das kurdische Gegenwartskino online nachgereicht. Für epdFilm porträtiert Manfred Riepe die Schauspielerin Vicky Krieps, die derzeit in Paul Thomas Andersons "Der seidene Faden" (aktuelle Besprechungen in FR und beim Perlentaucher) zu sehen ist. Dunja Bialas (Artechock), Michael Kienzl (critic.de) und Michael Pekler (Standard) berichten vom Filmfestival in Rotterdam. Susanne Ostwald berichtet in der NZZ von den Debatten der Schweizer Filmbranche bei den Solothurner Filmtagen. Für die taz ist Thomas Gerlach nach Burg in Sachen-Anhalt gereist, wo Enthusiasten den ältesten Kinobau Deutschlands betreiben. Im epdFilm-Blog gratuliert Gerhard Midding Istvan Szabó vorab zum 80. Geburtstag (und berichtet genüsslich davon, wie der ungarische Regisseur 1993 die Berlinale-Jury nach Leipzig entführte). In der Berliner Zeitung gratuliert seinerseits Claus Löser - da die Berliner Zeitung aber kaum noch etwas online stellt, dokumentiert der Autor seinen Geburtstagsgruß auf Facebook.

Besprochen werden außerdem Barbara Alberts "Licht" über das blinde Klavier-Wunderkind Maria Theresia Paradis (Standard), Steven Soderberghs sowohl als linear geschnittene Mini-Serie als auch als interaktive App ausgeliefertes Kriminaldrama "Mosaic" mit Sharon Stone (Welt), der Dokumentarfilm "Mein Großvater Salvador Allende" (Tagesspiegel), Christian Tods "Free Lunch Society" über das bedingungslose Grundeinkommen (taz), Michael Kreihsls "Die Wunderübung" (Standard) und die französische Komödie "Das Leben ist ein Fest" von Olivier Nakache und Eric Toledano (Tagesspiegel).
Archiv: Film