Efeu - Die Kulturrundschau

Gesamtkunstwerkirrsinn

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12.07.2017. Müllwerker aller Länder vereinigt Euch!, ruft Bora Cosic in der NZZ angesichts der großen Athener Müllhaufen-Performance. Als großen Frauenliebhaber feiert Ian Buruma im Blog der NYRB den japanischen Holzschnitt-Künstler Kitagawa Utamaro. Geradezu peinlich findet die SZ die neue Ausstellung im Humboldt-Forum "Vorsicht, Kinder!" Der Freitag erkundet die digitale Ökonomie der Groschenheftliteratur. Und die taz meint nach zwölfstündigem Überwältigungstheater im Nationaltheater Reinickendorf: Wenn Steuergelder verfeuert werden, dann bitte so!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.07.2017 finden Sie hier

Kunst


Kitagawa Utamaro: Schnee in Fukagawa, 1802-1806. Bild: Smithsonian/Okada Museum of Art, Hakone

Leider ist die Ausstellung "Inventing Utamaro" im Washingtoner Smithonian Museum schon wieder geschlossen, doch Ian Buruma war einfach hingerissen von ihr und schreibt im NYRB-Blog sehr lesenswert über den Holzschnitt zur Edo-Zeit: "Hokusai war vielleicht der beste Zeichner, Hiroshige stach durch seine Landschaften hervor, Kuniyoshi hatte das wildeste Flair. Utamaro aber war der Liebhaber der Frauen. Er schuf nicht nur außergewöhnliche Druck und Gemälde schöner Frauen, meist hochklassiger Prostituierte, er besuchte auch selbst, so sagt man, regelmäßig die Bordelle von Edo. Nicht einmal die Prostituierten am obersten Ende des Marktes haben noch den Glamour, der mit ihrem Gewerbe im Japan des 18. Jahrhundert verbunden war, 'Utamaro' aber heißt noch immer eine Kette von Massage-Salons, die man in den einstigen Vergnügungsbezirken finden kann."

Die neue Ausstellung des Humboldforums, "Vorsicht Kinder!", ist noch öder als die erste Ausstellung zum Plastikmüll im Humboldt-Strom, stöhnt Jörg Häntzschel in der SZ, dabei soll sie doch Prototyp der künftigen Unternehmen sein. Müslibilder und Fahrradsitze würden Besucher nicht mal in der Provinz vom Hocker reißen: "Enttäuscht werden sie feststellen, dass es hier nicht um das Lustige, Berührende, Geniale von Kindern geht, sondern um Kinder als Problem, vor allem von Erwachsenen. Egal, wie gut gelaunt man die Ausstellung betritt, man verlässt sie bedrückt."

Weiteres: Im Guardian freut sich Hannah Ellis-Peterson, dass sich die Tate Modern jetzt mit der Ausstellung "Soul of a Nation" der Kunst der Bürgerrechtsbewegung und Black Power widmet. Für die FR besucht Sebastian Borger die große Ausstellung zur deutschen Zwischenkriegszeit in der Tate Liverpool (mehr hier). In der Berliner Zeitung verneigt sich Ingeborg Ruthe vor der großen Katharina Sieverding, die gestern den Käthe-Kollwitz-Preis erhalten hat (mehr hier). Online ist in der SZ jetzt Kia Vahlands Text über die politische Bevormundung des Publikums durch die Documenta. Im Tagesspiegel meldet Jens Müller, dass nun auch Mehdi Chouakri mit seiner Galerie aus Mitte in den sehr bürgerlichen Berliner Westen gezogen ist.
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Literatur

"Müllwerker aller Länder, vereinigt euch!", ruft in der NZZ der serbische Schriftsteller Bora Cosic und feiert das Jahrhunderts des Mülls, das Majakowski einläutete, als er sich zum Müllwerker der Revolution erklärte, und das in Athen gerade zu neuer Größe aufläuft: "Die Stadt als Ort eines freudlosen Aufenthalts, das Schloss als Kafkas unerreichbares rettendes Asyl, in das zu gelangen man durch den Zwischenakt von Dantes Purgatorium, die Deponie, hindurchmüsste. Es stellte sich heraus, dass diese mittlere Stufe die wichtigste in seiner Vision war, denn der Müllhaufen ist wie in der gegenwärtigen Athener Performance eine äußerst reiche Ansammlung unzähliger Einzelheiten, wie erniedrigend hässlich, stinkend und schmutzig sie auch sind. Der Müllhaufen wurde daher zu mehr als zu einer Metapher für den Albtraum des menschlichen Lebens, seines Überflusses im Schlechten."

Zumindest im Bereich von Groschenheftliteratur boomt Self-Publishing. Jan C. Behmann vom Freitag hat sich bei dem Autor Michael Meisheit, der neben Liebesromanen und Science-Fiction-Genremixes auch Drehbücher für die "Lindenstraße" schreibt, diesbezüglich nachgefragt. Viele Self-Publisher lockt auch die bessere Vergütung: "Die Verlage halten an den Preisen für E-Books fest, die ungefähr in der Höhe der gedruckten Taschenbuchausgaben liegen, obwohl das produktionstechnisch überhaupt nicht notwendig wäre. Ich bin froh, dass sie das tun, denn ich kann sie für drei bis fünf Euro weniger anbieten und habe mit meinen 70 Prozent, die ich von Amazon bekomme, wo ich meine Werke verkaufe, immer noch deutlich mehr als ein Verlagsautor mit seinen 5 - 10 Prozent."

Weiteres: Im Tagesspiegel porträtiert Gerrit Bartels den aus Kärnten stammenden, in den USA schreibenden Schriftsteller John Wray. Schriftstellerin Stefanie De Velasco gesteht im Freitext-Blog auf ZeitOnline ihre Angst vor Feuer.

Besprochen werden Urs Bökes "Morbus Heimat. Gedichte und Collagen" (Freitag), Annie Proulx' "Aus hartem Holz" (taz), Isabelle Autissiers "Herz auf Eis" (NZZ), Dennis Lehanes Thriller "Dunkelheit, nimm meine Hand" (Welt), Peter Sporks Band "Gesundheit ist kein Zufall" (tell) und neue Bücher über Henry David Thoreau, der heute vor 200 Jahren geboren wurde (FAZ, SZ).
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Film

Sehr dankbar ist Welt-Autor Peter Praschl für die Doku-Serie "Writers' Room", die ihm einen detaillierten Einblick in die Arbeitsweise der Schreibstuben moderner Erfolgsserien gestattet. Sein Fazit: Solche Writers' Rooms stellen den Rahmen für "ein kreatives Verfahren, das freundliche Anarchie (alles ist möglich) mit hartem Darwinismus (die kühnste Idee gewinnt) kombiniert und am Ende das eigentlich abgeschaffte Autorenprinzip wieder einsetzt; nur dass der Autor jetzt die Mannschaft, nicht ein Einzelner ist."

Weiteres: Michael Kienzl resümiert auf critic.de das filmhistorische Festival Il Ritrovato in Bologna.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Dream Boat" über schwule Kreuzfahrten (taz) und die Shakespeare-Serie "Will" (Welt, FAZ).

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Bühne


Vegard Vinges und Ida Müllers "Nationaltheater Reinickendorf". Foto: Berliner Festspiele


In der taz zeigt sich jetzt auch Sascha Lehnert überwältigt vom großen Überforderungstheater des Theaterduos Vegard Vinge und Ida Müller beim Berliner Immersion-Festival und geht im "Nationaltheater Reinickendorf" auf die Knie: "Man befindet sich an einem Ort, der gleichzeitig wahnsinnig schön und sehr dunkel ist und denkt: 'Danke, Thomas Oberender. Danke dafür, dass du dem norwegischen Theatermann Vegard Vinge und der deutschen Bühnenbildnerin Ida Müller mindestens zwei prall gefüllte Koffer mit Steuergeldern überreicht hast!'... Die allumfassende Sinneserfahrung hat sämtliche Fragen für die Dauer einer langen Nacht ins Unterbewusstsein geschoben, das Ich auf Autopilot geschaltet und einen zum willenlosen Teilnehmer einer rücksichtslosen, faszinierenden und unheimlichen Theatershow gemacht." In der SZ feiert Peter Laudenbach das Stück als "prächtig abgedrehten, seltsam melancholischen, in jeder Hinsicht maßlos aus dem Ruder laufenden Gesamtkunstwerkirrsinns".

Weiteres: Peter Steins "Richard II" in Verona hat große Momente, gesteht Peter von Becker im Tagesspiegel zu, wirkt über weite Strecken allerdings doch recht opernhaft gespreizt. Eleonore Büning hat sich für die FAZ die Inszenierungen von Mozarts Oper "La Clemenza di Tito" in Salzburg und Baden-Baden angehört, letztere erlebte sie geradezu als Trauerspiel mit einem stimmlosen Rolando Villazon.
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Musik

Für die FR hat Max Dax ein großes Gespräch mit DJ Hell geführt, der gerade sein neues, an der Ästhetik der klassischen Kraftwerk-Alben orientiertes Album veröffentlicht hat. Die Inspiration hat durchaus einen gedanklichen Hintergrund: Der Künstler sorgt sich darüber "was eigentlich  passiert, sollten Kraftwerk einmal nicht mehr performen. Was passiert dann mit den ganzen Sounddesigns und Soundarchiven? Das muss ja an die nachfolgenden Generationen zwangsläufig übergeben werden. Daraus lese ich auch den Auftrag, aus diesem Fundus neue Musik zu erschaffen. Nicht zu kopieren, sondern eine Art music inspired by Kraftwerk zu kreieren." So könnte das klingen:



Weiteres: So gute Begleitmusiker wie jetzt habe Herbie Hancock nie gehabt, schreibt Andrian Kreye in der SZ nach einem Besuch des Jazzopen Festivals in Stuttgart. Imponiert zeigt er sich besonders von dem Keyboarder und Saxofonist Terrace Martin, der auch Kendrick Lamars Album "To Pimp A Butterfly" produziert hat. "Martin gelingt es schon jetzt, mit minimalen Mitteln dieselbe musikalische Wirkung zu erzeugen, die sich Herbie Hancock über Jahrzehnte erspielt hat." Karl Fluch vom Standard unternimmt mit dem Debütalbum von Cigarettes After Sex "endlose Nachtfahrten über Land." Stefan Ender hat sich für den Standard mit Dirigent Herbert Blomstedt unterhalten, der gestern 90 Jahre alt geworden ist. Christoph Dallach spricht für die Zeit mit Paul Weller. Günter Platzdasch resümiert in der FAZ das Rudolstadt-Festival, zu dessen Höhepunkten eine Hommage an den schottischen Nationaldichter Robert Burns zählte.

Besprochen werden das neue Album von Jamie Lidell (Standard) und ein Konzert von Guns'n'Roses (Standard).
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