Efeu - Die Kulturrundschau

Klangschöne Doppelbegriffe

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18.07.2016. Während Nuran David Calis "Gold - Der Film der Nibelungen" in Worms wüst und wüster wird, sehnt sich die SZ nach einem Digestif. In der FR wünscht sich Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo mehr Mut im Umgang mit Sprache. Die FAZ bewundert die spieltechnische Intelligenz der Geigerin Alexandra Conunova. Die taz wärmt sich an der Dissidenz der DDR-Kunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.07.2016 finden Sie hier

Bühne


Szene aus Nuran David Calis "Gold". Foto: David Baltzer

Bei den Nibelungenfestspielen in Worms hat Nuran David Calis "Gold - Der Film der Nibelungen", den zweiten Teil von Albert Ostermaiers eigens für Worms verfasster Nibelungen-Trilogie, auf die Bühne gebracht. Zu sehen gibt es laut SZ-Kritiker Egbert Tholl ein wildes "Meta-Mythen-Drama" über Nibelungen-Dreharbeiten mit Figuren, die Kubick und Koppoler heißen und in einer Theater-/Film-Collage vors Publikum treten. "Immer dichter wird die Aufführung, die lange Zeit ihren Rhythmus nicht findet auf der Riesenbühne, auf der die Nibelungen-Darsteller wohnen wie die Laborratten hinter Plexiglas", schreibt Tholl. "Doch eben, je dichter, desto irrer, die Grenzen zwischen den Ebenen verschwinden völlig, es gibt ein Gemetzel, einen roten Blutrausch, als wäre man auf Etzels Burg. Es wird wüst und wüster, eine apokalyptische Parabel, die Mythenstoff und Filmerei hinter sich lässt und in den Fluten auf der Bühne versinkt, bis man ganz verdattert ist und sich nur noch den Pfälzer Rotwein ersehnt."

Exzellent findet dagegen Eckhard Fuhr in der Welt die Aufführung: "Regisseur Calis beweist mit dieser Inszenierung, dass auch in dem groben Format Freilichttheater hoch komplexe Stücke gezeigt werden können. Ihm gelingt das mit 'Gold', in dem er neben wirklich guten Schauspielern zwei Mittel virtuos einsetzt. Das eine ist die Kamera, die den Film tatsächlich ins Theater holt und durch Close ups auch psychologische Nuancen des Spiels der Darsteller transportiert. Den Hauptbeitrag zum Erfolg aber leistet die Bühnenmusik."

Und auch Kerstin Holms ist in der FAZ hochgestimmt: "Die Intrigen und Eitelkeiten auf dem Set eskalieren und gehen, in prachtvollen Videonahaufnahmen auf eine Filmleinwand projiziert, auch den entferntesten Sitzreihen unter die Haut." Alexander Jürgs von der Nachtkritik sah "ein wunderbar irrlichterndes Werk, eine rabenschwarze Komödie, kein glatter Open-Air-Festivalstoff."

Weiteres: Für den Tagesspiegel porträtiert Frederik Hanssen den designierten Staatsoperintendanten Matthias Schulz. Im Tagesspiegel gratuliert Patrick Wildermann Frank Castorf, der gestern 65 Jahre alt geworden ist.

Besprochen werden Verdis "Macbeth" in Frankfurt (FR) und in Berlin im Rahmen einer großen Retrospektive gezeigte Stücke von William Kentridge (SZ).
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Film

In der Welt stellt Christian Meier die von Matthias Schweighöfer und Dan Maag gegründete neue Film-Plattform Pantaflix vor. Für die Zeit unterhält sich Katja Nicodemus mit Steven Spielberg, dessen neuer, nach dem Kinderbuch von Roald Dahl entstandener Film "Big Friendly Giant" diese Woche anläuft.

Besprochen werden die von Netflix als Hommage an die 80er konzipierte Horror-Serie "Stranger Things" mit Winona Ryder (SpiegelOnline, ZeitOnline),Pietro Marcellos "Bella e perduta - Eine Reise durch Italien" (taz, unsere Kritik hier) und Apichatpong Weerasethakuls "Cemetery of Splendour" (NZZ).
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Architektur

Die beiden von Le Corbusier entworfenen Häuser Stuttgarter Weißenhofsiedlung wurden zur Freude von SZler Gerhard Matzig von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt: "Das auf fast zierlichen Stützen ruhende, schmal sich in die Länge ziehende Doppelhaus ist als Labor des Lebens zu verstehen. ... Le Corbusiers Doppelhaus [ist] heute relevanter denn je. Es ist ein Raumsparwunder, wie es in Zeiten von Wohnungsnot und Nachverdichtung wieder gefragt wäre."
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Literatur

In einem langen Gespräch mit Marie-Sophie Adeoso wünscht sich Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo in der FR mehr Mut im kreativen Umgang mit Sprache von sich und ihren Kolleginnen und Kollegen: "Wir könnten mehrere Sprachen in einem Roman verwenden, versuchen, in der Literatur sprachliche Grenzen aufzubrechen - ich wäre dafür, ganz, ganz mutig zu werden. Noch bin ich ganz zahm."

Weitere Artikel: In der taz berichtet Stefan Hochgesand vom Autorentreffen beim Literarischen Colloquium Berlin, das sich unter dem Titel "Empfindlichkeiten" mit queerer Literatur befasste. Die FAZ hat Sandra Kegels Zusammenfassung des Facebook-Clinchs zwischen Stefanie Sargnagel und Thomas Glavinic online nachgereicht.

Besprochen werden unter anderem Antonio Tabucchis "Reisen und andere Reisen" (online nachgereicht von der Zeit), Denise Minas "Die tote Stunde" (FAZ) und Hanna Diyābs "Von Aleppo nach Paris" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt der Lyriker Joachim Sartorius über Rainer René Müllers "Lirum, larum":

"deutsch, das ist auch
Zeile für Zeile, lange Gekeimtes
in Metronome und Schlagstöcke gehängt
..."
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Musik

FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner gerät beim Musikfest Colmar, wo zahlreiche Nachwuchs-Geiger Jascha Heifetz ehrten, ins Jubeln: "Man [muss] erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass exzellente Geiger offenbar überall auf den Bäumen wachsen." Besonders gefiel im die moldawische Geigerin Alexandra Conunova, die Wieniawski, Chausson und Ravel spielte. Conunova beherrscht das "artistische Vexierspiel einer Als-ob-Improvisation", lobt Sandner. Ihre "spieltechnische Intelligenz der Geigerin kam auch in Chaussons formal freiem Poème zum Ausdruck, bei dem Alexandra Conunova die musikalisch anspruchsvolle Eingangskadenz mit expressiver Tongebung und makellosen, also nicht nur intonationsreinen, sondern auch ungemein klangschönen Doppelgriffen bewältigte."

Hier spielt sie Ernest Chaussons "Poème" 2012 in Hannover:



Für die Zeit unterhält sich Christoph Dallach mit der sample-freudigen Band The Avalanches, die sich für ihr neues Album "Wildflower" gemütliche 16 Jahre Zeit gelassen haben. Woran hat's gehapert? "Uns schwebte ein Sound vor zwischen Beach Boys und My Bloody Valentine: langsam, getragen und wehmütig. Es dauerte einige Jahre, bis wir merkten, dass wir uns verirrt hatten. Wir sind danach noch einige Male vom Weg abgekommen." Hier die aktuelle Singleauskoppelung:



Weiteres: Auf Pitchfork beleuchtet Philip Sherburne die Arbeit von Labels, die ihre Veröffentlichungen ausschließlich auf Vinyl auf den Markt bringen. Stefan Schoman (Tagesspiegel) und Gerald Felber (FAZ) besuchen das Kammermusikfestival im österreichischen Lockenhaus. Zum Tod des Punk-Urgesteins Alan Vega schreiben Ueli Bernays (NZZ), Klaus Walter (taz) und Ben Graham (The Quietus).

Besprochen werden Open-Air-Konzerte von Air und Element of Crime (Tagesspiegel), ein Auftritt des Musikers Islam Chipsy bei den "Foreign Affairs" in Berlin (taz) und das neue Album "Love & Hate" des Soulmusikers Michael Kiwanuka (SZ).
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Kunst

Sehr dankbar ist Tazler Ingo Arend für die Ausstellung "Gegenstimmen - Kunst in der DDR 1976-1989" im Berliner Gropiusbau. Neben aktuellen Diskursen in der Kunst stehen die dort ausgestellten Arbeiten dissidenter Künstler zwar wie "ein erratischer Block aus längst vergessenen Wendezeiten. Doch sie sind mehr als nur die späte Satisfaktion für ein viel zu lange unterschätztes Erbe, über das nach 1989 die Zeit hinwegging. Die Versuche, 'eine andere Form von Widerstand' (Bernd Schlothauer) zu finden, reichen nämlich über ihre Zeit hinaus. Wenn Joerg Waehner seine Stasiakte in eine comicartige Foto-Lovestory 'Stempel und Kissen' überführt, schließt sich der Kreis zu den aktuellen Debatten um Überwachung und Kontrolle."

Besprochen werden außerdem die Ausstellungen von Mila Teshaieva und Jochen Hein im Museum Kunst der Westküste auf Föhr (FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: DDR-Kunst, Gropiusbau, Wendezeit