Efeu - Die Kulturrundschau

Niemand musste leiden. Schade.

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23.05.2016. In Cannes gewinnt Ken Loach mit dem Sozialdrama "I, Daniel Blake" die Goldene Palme. Maren Ades als Favorit gehandelter "Toni Erdmann" geht leer aus. Die Kritiker sind entgeistert: Langweilig und ungerecht findet Le Monde die Entscheidung. Sind die von Sinnen?, fragt die FAZ. Nur die NZZ ist zufrieden. Als krachenden Gewaltakt erlebt der Standard die Vertreibung einer Roma-Familie in Kornél Mundruczós Kammerspiel "Scheinleben". Die Welt besucht die Boris-Lurie-Ausstellung in Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2016 finden Sie hier

Film


Aufrichtig, links: Ken Loachs palmenprämiertes Drama "I, Daniel Blake".

Überraschende Preisvergabe in Cannes: Maren Ades "Toni Erdmann", Favorit und Kritikerliebling, ging leer aus, die goldene Palme gewann Ken Loach für sein aufrichtig linkes Drama "I, Daniel Blake" (hier alle Gewinner im Überblick). Einzig in der NZZ findet Susanne Ostwald die Entscheidung ganz richtig: "Es gärt in der weißen Unterschicht, wovon politische Populisten zu profitieren hoffen. Dem in der Wolle gefärbten Sozialisten Loach ist Polemik durchaus nicht fremd. In seinem jüngsten Werk aber paart er galligen Humor mit einem unsentimentalen Blick für echte Tragik." Ebenso richtig findet sie, dass Maren Ades "Toni Erdmann leer ausging: "Eine solch schenkelklopfende Komödie über eine frustrierte Karrierefrau setzte einen beinahe degoutanten Kontrapunkt inmitten engagierter Filme, die echte Nöte beschrieben."

Die anderen Kritiker können es allerdings gar nicht fassen: Einen "linken Film für rechte Zuschauer" nennt Libération Loachs Film, der jede ästhetische Ambition und menschliche Komplexität vermissen lasse. "Langweilig. Vor allem ungerecht", findet Isabelle Regnier die Jury-Entscheidungen in Le Monde, die Ade durchaus einen anarchistischen Funken bescheinigt: "Es ist eine Regel in Cannes: Die schlechtestes Jahrgänge ergeben die schönsten Palmen, und umgekehrt." Im FAZ-Festivalblog fragt Verena Lueken entgeistert: "Sind die von Sinnen? ... Der Club der alten Männer möchte unter sich bleiben. Anders ist diese Entscheidung überhaupt nicht zu verstehen." Jan Schulz-Ojala macht sich im Tagesspiegel bereits Sorgen um das für die Filmkunst international strahlkräftigste Festival: Die Jury setze damit "auf die inhaltliche Erschütterung durch Themen", habe die wichtigen Filme "aber kühl übersehen". Von dieser Entscheidung geht keine "Wucht des Neuen", kein "frischer Impuls" aus, bedauert Tobias Kniebe in der SZ, der sich damit tröstet, dass "wenigstens ein Meister und aufrechter Kämpfer" am Ende siegreich aus dem Wettbewerb hervorgegangen ist. Daniel Kothenschulte von der FR meint: Um "Toni" ist es zwar schade, doch für das, was der Loach-Film darstellt, ist er immerhin "makellos". Gelassen bleibt Frédéric Jaeger von critic.de, der sich in einem zweiten Beitrag auch gegen die Vereinnahmung Maren Ades durch die hiesige Kritik wehrt: "Wir sind nicht Toni Erdmann".

Alle Cannes-Kritiken der Online-Magazine critic.de und Kino-Zeit finden Sie hier und hier. Für Artechock schrieb Rüdiger Suchsland Festivaltagebuch. Alle internationalen Pressespiegel von David Hudson finden Sie hier.

Abseits von Cannes besprochen wird Lutz Dammbecks "Overgames" (Jungle World).
Archiv: Film

Musik

Für die Zeit bringt Volker Hagedorn in Erfahrung, wie es bei den deutschen Orchester um Neue Musik steht. Ausgerechnet in Cottbus hat Generalmusikdirektor Evan Christ inzwischen richtig Erfolg mit seinem Einsatz für die Neue Musik. War nicht leicht am Anfang, erzählt Hagedorn: "'Sie nehmen mir die letzte Freude im Leben!', rief ihm bei einer Diskussion ein verstimmter Hörer zu. 'Aber wir reden von fünf Minuten', meint Christ, 'jeder hält das aus'. Das war sein Trick, von der zweiten Spielzeit an: Für jedes der jeweils acht Programme des Orchesters wurde ein Kurzwerk in Auftrag gegeben, von DDR-Altmeister Georg Katzer bis zur jungen Slowenin Nina Sěnk, von der sinnlichen Musik des Philippe Manoury bis zur Isländerin Atli Ingólfsson, deren karge, weite Klangwelt dann auch als Reimport auf der Vulkaninsel realisiert wurde."

Weiteres: In der NZZ hat sich Florian Bissig auf dem Zürcher Taktlos-Festival genussvoll seine Hörgewohnheiten hintertreiben lassen. In der taz würdigt Jens Uthoff Bob Dylan, der morgen 75 Jahre alt wird. Im Tagesspiegel porträtiert Nana Heymann den Technoproduzent Boys Noize.

Besprochen werden Bob Dylans neues Album "Fallen Angels" (Tagesspiegel), ein Konzert von Konono No 1 (Tagesspiegel) und Ben Harpers "Call it What it Is" (FAZ).
Archiv: Musik

Bühne


Kornél Mundruczós "Scheinleben" im Wiener Museumsquartier.

Beeindruckt und begeistert ist Margarete Affenzeller von Kornél Mundruczós Kammerspiel "Scheinleben", das bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wurde und von Ausgrenzung und Diskriminierung der Sinti und Roma erzählt: "Ein Gewitter bricht los. Und dann lässt es Mundruczó krachen. Die Wohnung der Romafrau beginnt zu kippen. Das vollgeräumte Altbauzimmer wird sich vollständig um die eigene Achse drehen: eine langsame und gut zu studierende Bewegung, die einen Gewaltakt versinnbildlicht, in den das behördliche Vorgehen der Zwangsräumung genauso eingeschrieben ist wie die gesellschaftliche Missachtung: ein markerschütternder Anblick.

In Berlin ist das Theatertreffen zu Ende gegangen. Für die Berliner Zeitung zieht Ulrich Seidler Bilanz. Ein wiederkehrendes Thema bei diesem Theatertreffen war das Verhältnis zwischen Kunst und politischer Realität, was ihn zu einem leidenschaftlichen Plädoyer inspiriert: "Es geht im Theater nicht darum, Pause zu machen vor den Anforderungen der Realität − dazu eignen sich andere Verrichtungen viel besser − sondern es geht darum, sein Denken, sein Singen und sein Spielen nicht dem Diktat der Realität zu unterwerfen, sich Räume und Gelegenheiten zu schaffen für ein Bewusstsein außerhalb der Machtbefugnisse des amtierenden Seins. Theater − ob im Festspielhaus oder im alltäglichen Rollenspiel der Kommunikation − ist schon dadurch politisch, dass es einen Abstand zur Gegenwart erlaubt. Schauen ohne Abstand ist Blindheit."


Schlusspunkt des Theatertreffens: "Effi Briest - allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie". Foto: Matthias Horn

In der taz bespricht Katrin Bettina Müller die letzten beiden gezeigten Inszenierungen von Anna-Sophie Mahler ("Mittelreich") und dem Duo Clemens Sienknecht und Barbara Bürk (Effi Briest"): "Das Theater erfindet sich in ihnen nicht neu und sprengt auch keine Grenzen. Es holt stattdessen das Bestmögliche aus dem raus, was innerhalb der Beschränkung geht. Für das Theatertreffen war das ein guter und treffender Schlusspunkt."

Etwas behäbig und überorganisiert fand Barbara Villiger Heilig die Zürcher Version von Elfriede Jelineks "Schutzbefohlenen, die den Flüchtlingstrail als Postenlauf zu sechs Theaterstationen inszenierte: "War es wohl Absicht, die Jause ohne einen Tropfen Flüssigkeit anzubieten, damit das Publikum im Selbstversuch erfahren konnte, wie sich echter Durst anfühlt? Kaum. Getränke gab es überall zu kaufen; niemand musste leiden. Schade..." In der nachtkritik klagt Valeria Heintges: "der Abend blieb so oder so: untheatralisch, peinigend unreflektiert. Am schlimmsten: er führte nicht auf. Sondern die Laiendarsteller vor."

Weiteres: Fast schon lustig findet Barbara Möller in der Welt, wie sich die AfD in Potsdam über das Theaterstück "Illegale Helfer" aufregt.

Besprochen werden George Balanchines Ballett "Jewels" in der Deutschen Oper Berlin (Berliner Zeitung, Welt), Amélie Niermeyers Inszenierung von Max Brands Oper "Stormy Interlude" in Salzburg (FAZ) und Roger Vontobels "Volksfeind"-Inszenierung in Köln (KSTA, SZ, FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Für die SZ bespricht Laura Weißmüller den von Robert Klanten und Sofia Borges herausgegebenen Band "The Tale of Tomorrow. Utopian Architecture in the Modernist Realm".
Archiv: Architektur
Stichwörter: Borgen, Utopia

Literatur

Die Zeit hat Jan Brandts Bericht von seinem Treffen mit der Schriftstellerin Marjana Gaponenko online nachgereicht.

Besprochen werden eine vom SWR produzierte, mehrteilige Hörspieladaption von John Dos Passos' "Manhattan Transfer" (FAZ, hier der gestern urgesendete erste Teil zum Nachhören), Judith Hermanns Erzählungsband "Lettipark" (Tagesspiegel), Hans-Ulrich Treichels Erzählung "Tagesanbruch" (SZ), Alexandra Kleemans Debüt "A wie B und C" (SZ) und Etgar Kerets "Die sieben guten Jahre" (Tagesspiegel).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Heinrich Detering über Bob Dylans "death silenced her pool":

"death silenced her pool
the day she died
..."
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Kunst

Die große Boris-Lurie-Schau im Jüdischen Museum Berlin ist schon mehrfach angepriesen worden. Jetzt legt sich in der Welt noch einmal Hans-Joachim Müller für die Ausstellung ins Zeug, die keine Kompromiss mit dezenten Kunstansprüchen zulasse: "Es ist schlimm, was an den Wänden hängt, grob, roh, zerrissen. Es ist so faszinierend, dass man immer sprachloser wird und doch gerne die verwirrenden Eindrücke mit den paar Besuchern im Jüdischen Museum in Berlin teilen würde. Boris Lurie, er nur eine Silbe kannte, um sein unrettbar gestörtes Weltverhältnis zu bezeugen. 'No!'"

Sehr beeindruckt kommt Zeit-Kritiker Peter Kümmel von seinem Besuch der großen William-Kentridge-Schau im Berliner Gropiusbau nach Hause: "Kentridges innere Landschaften sind Wüsten und Steppen, und vielleicht bestehen sie ausschließlich aus Radierstaub, aus aufgelöster Form. Staub bedeutet: Da war mal jemand; da ist einer ausgelöscht worden. Oder vielleicht sogar: Da lebt noch einer. In seinen Filmen sieht man bisweilen Kentridges eigenes Gesicht: einen Mann mit kohleschweren Lidschlägen. Er durchschaut den Staub. Er kennt die Gestalten, die darin wanderten. Er zeichnet Wesen aufs Papier und radiert sie wieder aus. Ein Vorgang von unerbittlicher Langmut."
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