Efeu - Die Kulturrundschau

Der Hermaphrodit als modern hero

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19.08.2016. Die FAZ erliegt den oszillierenden Stimmen von Countertenören - und weiß auch warum. Dafür mangelt es an virtuosen Nachwuchs-Dirigenten, stellt sie beim Lucerne Festival fest. Das art-magazin erinnert mit Gerda Taro an eine Pionierin der Fotoreportage. Die NZZ sucht in seelenlosen Wohnblöcken das Gesicht der Städte und findet passende Bewohner. Die Feuilletons applaudieren Mia Hansen-Loves "Alles was kommt".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.08.2016 finden Sie hier

Kunst

(Bild: Die Leipziger Installation vor und nach dem Farbanschlag.Courtesy F/Stop, Leipzig)

Susanne Altmann nimmt im art-magazin die schändliche Übermalung von Bildern der jüdischen Fotografin Gerda Taro in Leipzig zum Anlass, an die große Pionierin der Fotoreportage zu erinnern, die weit mehr war als nur die Gefährtin von Robert Capa. Allein ihre Aufnahmen aus dem spanischen Bürgerkrieg 1935 beeindrucken Altmann: "Rückblickend wirken die spanischen Bilder wie ein Kassandrablick auf den zweiten Weltkrieg und dessen künftige Verheerungen. In Spanien sterben rund 500.000 Menschen, genauso viele sind zweitweise auf der Flucht, Städte und Dörfer werden ausgelöscht. Weder Tote noch Flüchtlinge wurden vorher je so aufgenommen. Die Motive zirkulieren weltweit in Magazinen und Illustrierten, erstmals wird ein Krieg zum medialen Ereignis." In der FAZ bringt Jan Russezki Hintergründe zu dem Anschlag auf Gerda Taros öffentlich in Leipzig ausgestellten Kriegsfotografien (mehr dazu hier).

In der Ausstellung "Inszeniert!" der Kunsthalle München erzählt eine ganze Künstlergeneration vom Kino, erklärt Catrin Lorch in der SZ. Denkbar prominent ausgestattet, offenbart die Schau allerdings auch ein Problem, meint die Kritikerin: Vor allem sind Werke aus privaten Sammlungen zu sehen. Doch "der individuelle Geschmack eines Sammlers wird immer anders entscheiden als ein Museum mit Sammlungsauftrag. Bedeutung entsteht dadurch, dass das Museum sich für ein Werk entscheidet. Private Sammlungen müssen sich profilieren, wollen sich Werke sichern, die aus sich heraus in der Kunstgeschichte unübersehbar sind. Wenn dann Fotografien von Cindy Sherman oder Nan Goldin zur Abholung bereitstehen, fasst ein Kurator das ohnehin wenig präzise Thema Medienkunst gerne ein bisschen weiter." (Bild: Ottinger, Ulrike, Absinth (Tabea Blumenschein) 1975, C-Print, 62 x 40 cm Courtesy Sammlung Goetz, München
© Ulrike Ottinger
)

Besprochen werden Robert Knoths und Antoinette de Jongs Installation "Poppy - Trails of Afghan Heroin" im C/O Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Die Frucht in der Kunst" im Sinclair-Haus in Bad Homburg (FR), Friedrich Loos' in der Alten Nationalgalerie Berlin ausgestelltes Rom-Panorama (FAZ) und die Carl-Sandhaas-Werkpräsentation im Hansjakob-Museum in Haslach (FAZ).
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Film

Sehr begeistert ist Kerstin Decker im Tagesspiegel von Mia Hansen-Løves Berlinale-Erfolg "Alles was kommt", in dem Isabelle Huppert eine Philosophieprofessorin spielt, die von ihrem Ehemann verlassen wird: Das ist ein sprödes, aber ungemein anregendes Vergnügen, schreibt Decker: "Der Gestus des Films wirkt wie ein kinematografischer Anwendungsfall von Wittgensteins 'Tractatus logico-philosophicus'." Für Revolver hat Birthe Carolin Sebastian ein großes Interview mit der Regisseurin geführt. Hier unsere Besprechung anlässlich der Berlinale: Lukas Foerster bewundert die "hohe Kunst der rechtzeitigen Abblende." Und Katja Nicodemus schwärmt in der Zeit: "Hier lässt sich ein Film von seiner Heldin mitnehmen und nicht umgekehrt."

Weiteres: Im Berliner fsk-Kino bietet sich die äußerst seltene Gelegenheit, Jacques Rivettes 13-stündigen Film "Out 1, noli me tangere" in voller Länge und von 16mm zu sehen, freut sich Ekkehard Knörer in der taz. Auf Jugend ohne Film philosophiert Patrick Holzapfel über Jacques Tati und das Staunen. Bei Artechock plädiert Gregor Torinus für ein intelligentes Science-Fiction-Kino der niedrigen Budgets. In seiner Filmdienst-Textreihe zum türkischen Kino schreibt Emine Yildirim über den Komiker Cem Yilmaz.

Besprochen werden Matt Ross' "Captain Fantastic" (Tagesspiegel, FAZ), Kirsi Liimatainens "Comrade, Where Are You Today?" (Tagesspiegel) und David Ayers Comicfilm "Suicide Squad" (Tagesspiegel).
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Literatur

Tazlerin Petra Schellen porträtiert die Schriftstellerin Doris Konradi, Hamburgs diesjährige Stadtschreiberin.

Besprochen werden unter anderem Anthony Doerrs "Winklers Traum vom Wasser" (FR), Han Kangs "Die Vegetarierin" (FR) und neue Bücher von Martin Mosebach (SZ). Mehr aus dem literarischen Leben im Netz in unserem Metablog LIt21.
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Stichwörter: Mosebach, Martin, Kang, Han

Bühne

Lange Zeit belächelt, hat sich der Countertenor als Stimmlage im Betrieb durchgesetzt, stellt Jürgen Kesting in der FAZ fest. Und er weiß, "warum unsere Zeit so großen 'Gefallen' am Reiz dieser klanglich changierenden und oszillierenden Stimmen findet - auch und gerade in der Pop-Musik, deren Stars ihre Auftritte vielfach als sexuelle Grenzgänge inszeniert haben wie David Bowie, Annie Lennox oder Michael Jackson: der Hermaphrodit als modern hero. Ein Wandel der Mentalitätsgeschichte, gerade hinsichtlich der ästhetischen Formen und der moralischen Normen - die zunehmende Akzeptanz der gay culture - war eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg der Countertenöre."

Besprochen werden die Salzburger "Così Fan Tutte"-Aufführung, mit der Regisseur Sven-Eric Bechtolf seine Interimsintendanz der Festspiele beendet (FAZ) und eine Gemeinschaftsarbeit der Jungen Deutschen Philharmonie und der Kompanie Sasha Waltz in Berlin (Tagesspiegel).
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Musik

Jan Brachmann berichtet für die FAZ vom Lucerne Festival, bei dem ihm dämmert, dass es ihm, von wenigen Ausnahmen abgesehen, an einer solide nachwachsenden Generation an Meisterdirigenten mangelt. Wo sind sind jene "starken Dirigentenpersönlichkeiten mit handwerklicher Kompetenz, die einem Festival wie Luzern eine Zukunft geben könnten? Die Begeisterung für Gustavo Dudamel hat sich merklich abgekühlt; Daniel Harding wurde inzwischen, wenn auch zaghaft, vom frühen Genialitätsverdacht freigesprochen. Insofern muss man dankbar sein, die Meister im Alter zwischen siebzig und neunzig Jahren, darunter Herbert Blomstedt, in Luzern auf dem Höhepunkt ihrer Kunst alle noch einmal erleben zu können."

Weiteres: Philipp Rhensius hat für die taz die Werkstattwoche des Stekker-Festivals in Utrecht besucht. In ihrem taz-Jazzblog bringt Franziska Buhre einige Auszüge aus einem Gespräch, das sie 2007 mit dem gerade verstorbenen Bobby Hutcherson geführt hat.

Besprochen werden Eric Copelands "Black Bubblegum" (Jungle World), das neue Album von Haftbefehl und Xatar (taz) und ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters (FR).
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Architektur

Überall "seelenlose Wohnblöcke", einheitliche Bauten ohne spezifischen oder ästhetischen Anspruch, stöhnt Nils Aschenbeck in der NZZ und beklagt nicht nur, dass die Städte damit ihr Gesicht verlieren. Die sterilen Gebäude sind den Bedürfnissen des heutigen Menschen ideal angepasst, so Aschenbeck: "Heute soll mit Architektur keine bessere Gesellschaft mehr geformt werden, heute soll Architektur nicht mehr zu einer Emanzipation der Bewohner führen. Dennoch: Die Appartementhäuser mit ihren gläsernen Balkonbrüstungen erweisen sich nicht nur bei den Bauträgern, sondern auch bei den Käufern trotz oder wegen ihrer inhaltlichen Leere als außerordentlich attraktiv. Vom Privatarchitekten entworfene, womöglich exzentrisch erscheinende Villen mit Herren- und Kaminzimmer, umgeben von einem parkartigen Garten, betont durch Erker und Türme, bilden nicht mehr den angemessenen Rahmen für den modernen Menschen."
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