Efeu - Die Kulturrundschau

Fürchterlich filigran

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21.03.2023. FAZ und FR stürzen in Frankfurt mit Richard Strauss' Elektra" in einen wahren Musikrausch. In der Nachtkritik berichtet Regisseur Yiannis Panagopoulos, warum die griechische Kunstwelt auf die Barrikaden geht. Die FAZ stellt die italienischen Künstlerinnen vor, die es mit ihren notorischen Verbrecherkollegen aufnehmen konnten. Die taz bewundert, wie die iranische Künstlerin Farkhondeh Shahroudi Sprechen und Schreiben verwebt. Und die Literaturkritik liest ein Frühlingsgedicht  von Brecht: Die Kälte wird vorübergehen, der Krieg wird kommen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2023 finden Sie hier

Bühne

Aile Asszonyi in "Elektra" an der Oper Frankfurt. Bild: Monika Rittershaus

Begeistert ist FAZ-Kritiker Jan Brachmann von Claus Guths Inszenierung von Richard Strauss' "Elektra" an der Oper Frankfurt, der den antiken Mythos als inneres Geschehen in der gepeinigten Seele der Hauptfigur inszeniert: "Alle Elektra-Klischees des Tierhaften fallen in diesem Moment ab. Nicht das Monster zeigt sich, sondern ein Mensch in seiner unausgelebten Liebesfähigkeit. Anfangs, in der Phrase 'die Stunde, wo sie dich geschlachtet haben', setzt Asszonyi das hohe As auf 'Stunde' im Pianissimo an, lässt es anschwellen und stürzt eine Dezime abwärts aus dem reinsten, schönsten Gesang fast ins Sprechen." In einen regelrechten "Musikrausch" wurde FR-Kritikerin Judith von Sternburg während des Stückes versetzt: "Strauss' Musik ist zwar übergroß, sie ist aber auch fürchterlich filigran - nun erst recht in Frankfurt, wo Sebastian Weigle und das Opern- und Museumsorchester ein Zauberwerk an disziplinierter Losgelassenheit veranstalten, die anspruchsvolle Kultur des Außer-sich-Seins bis in die Spitzen der Holzbläser feiern, und da ist sie wieder, die von Strauss angeforderte 'Elfenmusik' (Elfen sind Rowdies, aber wendig und von kaltem Feinsinn)."

In der Nachtkritik spricht der Regisseur Yiannis Panagopoulos über die Proteste der griechischen Kunstwelt gegen ein Dekret, das SchauspielerInnnen zu unqualifzierten Arbeitskräften herabstuft. Die Forderungen sind dabei bescheiden: "Das Dekret beschreibt vier Stufen von Arbeitnehmern. Diejenigen, die nur die Pflichtschule absolviert haben, die Abiturient:innen, die "technisch Gebildeten" und diejenigen mit einem Universitätsabschluss. Wir würden gerne als 'technisch gebildete Arbeitnehmer:innen' gelten, damit unsere Ausbildung zumindest symbolisch anerkannt wird. Das würde auch bedeuten, dass wir zumindest ein bisschen mehr Einfluss haben, wenn wir über unsere Gagen verhandeln."

Besprochen werden Mozarts "Idomeneo" unter der Leitung von Simon Rattle an der Staatsoper Berlin (SZ, BlZ), die Choreografie "Wakatt" von Serge Aimé Coulibaly und seinem belgisch-afrikanischen Faso Danse Théâtre beim Tanzmainz-Festival (FR) Anna-Sophia Mahlers Inszenierung von Uwe Johnsons Literaturkoloss "Jahrestage" in Leipzig (SZ), das Kriegsstück "Was man im Dunkeln hört" des ukrainischen Dramatikers Andriy Bondarenko an der Neuen Bühne Senftenberg (taz).
Archiv: Bühne

Kunst

Rosalba Carriera: Selbstbildnis der Künstlerin, um 1708, Rötel auf Papier, © Berliner Kupferstichkabinett


Kaum seinen Augen trauen kann FAZ-Kritiker Stefan Trinks im Berliner Kuperstichkabinett, das mit der Ausstellung "Muse oder Macherin" Frauen der italienischen Kunstwelt zwischen 1400 und 1800 präsentiert: Neben der berühmten Artemisia Gentileschi auch die Pastellkünstlerin Rosalba Carriera, oder Sofonisba Anguissola: "Anguissola gab anderen Malern auch gern Tipps für vorteilhaftes Licht im Gesicht. Weniger Stilbewusstsein legte die von Vasari in seinen kanonisierenden 'Vite' beschriebene Bildhauerin Plautilla Nelli an den Tag: Auf der Baustelle in Bologna derber als manche Männer, schüttete sie Kollegen Farbe ins Gesicht oder zerkratzte dieses; mit mehreren Gerichtsprozessen machte sie den notorischen Künstler-Verbrechern Cellini, Caravaggio oder Veit Stoß Konkurrenz. An den Werken der Diana Mantovana wiederum, von deren achtzig bekannten Werken das Kupferstichkabinett stolze sechzig besitzt, lassen sich weitere konkrete Lebensumstände der Kunst schaffenden Mütter nachvollziehen. Denn die Frage sollte nicht sein, ob sie besser waren als die männliche Konkurrenz (jedenfalls um keinen Deut schlechter), vielmehr, ob sie Dinge anregend anders sahen oder andere Motive wählten." Im Tagesspiegel schreibt Elke Buchholz.

Farkhondeh Shahroudi: gestern war ich so müde dass ich den tee gegessen habe. Bild: Kunstverein Arnsberg

Einen ganz eigenen Kosmos erlebt taz-Kritikerin Katharina J. Cichosch in den Werken der iranischen Künstlerin Farkhondeh Shahroudi, die Schreiben und Sprechen in ganz eigenwilliger Art bildlich verknüpft, wie Cichosch im Kunstverein Arnsberg erleben kann: "Shahroudis Schreiben ist ein Malen und vielleicht auch umgekehrt. Und wie die Sprache ihrer eigenen Logik folgt, so ergibt sich auch im Arbeitsprozess eines ums andere. Irgendwann überlässt sie der inhärenten Logik der Kunstproduktion das Ruder. So ist es auch mit dem Teppich. Die Künstlerin macht sich das Material durchaus rabiat zu eigen, nimmt Gewebe heraus, fügt ihm eigene Bilder und weitere Ebenen hinzu, malt darauf, fügt Schriftliches an, bringt Teile mit dem für sie typischen groben Stich neu zusammen. Schon ihre Malereien habe sie als Teppich begriffen. Heute sei es so, als ob 'Motive und Farben aus der Leinwand in den Raum eingetreten sind. Ich betrachte den Raum wie eine Malerei.'"

Der Schweizer Diplomat Uli Sigg, der mit seiner Sammlung chinesischer Kunst bekannt wurde, denkt in der NZZ über das unterschiedlichen Kunstverständnis im Westen, im Globalen Süden und in China nach: Im westlichen Verständnis kann Sigg zufolge die Kunst verstörend und kritisch sein, muss sich aber in den Kanon fügen, worauf wiederum der Globale Süden pfeift. In China soll Kunst den Betrachter in die Sphäre der Schönheit und Harmonie entrücken: "Die autoritäre Untervariante des traditionellen chinesischen Kunstverständnisses engt die Definition dessen, was Kunst sein soll, zusätzlich ein - aber durchaus zielkonform. Das illustriert ein Zitat des chinesischen Staatspräsidenten Xi von 2014: 'Kunstwerke sollen wie Sonnenschein und Frühlingsbrise aus blauem Himmel sein, die Köpfe inspirieren, Herzen erwärmen, den Geschmack kultivieren, und unerwünschte Arbeitsweisen wegräumen.' Da ist dann die Diskussion bereits geführt."
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Literatur

Heute ist Frühlingsanfang und gleichzeitig der einst von der Unesco ausgerufene Welttag des Gedichts. Dieter Lamping erinnert in literaturkritik.de an ein Gedicht Bertolt Brechts, das er 1938 im dänischen Exil schrieb und einem frierenden Bäumchen an einem verschneiten Ostersonntag widmete. Es klingt auch jetzt recht aktuell. Darin heißt es:

"Mein junger Sohn
Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer
Von einem Werk weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deutete
Die einen Krieg vorbereiteten, der
Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich
Vertilgen muß. Schweigend
Legten wir einen Sack
Über den frierenden Baum."

Lamping schreibt zu dem Gedicht: "Sicher ist: Die Kälte wird vorübergehen, der Frühling wird kommen, wie jedes Jahr, wenngleich später. Sicher ist aber auch: Das gute, leichte Leben, Leben überhaupt wird dem Krieg zum Opfer fallen."

Wir haben alle ein Bedürfnis nach Gedichten, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel, es kommt nur auf die Umstände an: "Ein Beispiel sind die bei Matthes & Seitz erschienenen 'Gedichte aus Guantánamo'. Gefangene, die noch nie zuvor einen Vers geschrieben hatten, suchten in der Poesie Zuflucht - ob sie diese auswendig lernten oder mit Apfelstielen auf Styroporbecher kritzelten." Dotzauer verweist auf die "Lyrik-Empfehlungen 2023", die die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zum heutigen Welttag herausgegeben hat.

Die Autorin Berit Glanz spricht mit Titus Blome von der SZ über neue Tiktok-Filter und wie wir damit umgehen sollten: "Bald können wir uns in Echtzeit als historische Figuren präsentieren, als andere Geschlechter oder als Fabelwesen. Die Frage wird ständig sein: Ist unser Gegenüber wirklich die Person, die wir sehen? Und alles entwickelt sich wahnsinnig schnell. Dieser Entwicklung müssen wir uns stellen. Das geht nur, indem wir die Filter nutzen, mit ihnen spielen und ein Gefühl für sie entwickeln."

Ulrich Schreiber, 71, tritt als Chef des des Berliner Literaturfestivals zurück, meldet unter anderem die Frankfurter Rundschau mit dpa: "Im vergangenen Jahr hatte es Diskussionen über Arbeitsklima und Führungsstil gegeben, darüber hatte die taz berichtet. Schreiber wies damals etwa in der Berliner Zeitung Vorwürfe zurück und räumte auch Fehler ein." Schreiber wolle dem Festival verbunden heißt es in einer Erklärung, die er veröffentlicht hat. Unsere Resümees zu den Vorwürfen gegen Schreiber hier und hier.

Besprochen werden die Lütticher Ausstellung mit Fotos Georges Simenons (unser Resümee und Links), Arno Franks neuer Roman "Seemann vom Siebener" (taz), "Jims Roman" von Pierric Bailly ("ein wunderlicher und schöner Roman über Vaterschaft in kippelig gewordenen Verhältnissen", schreibt FAZ-Kritiker Niklas Bender), Anita Brookners Roman "Seht mich an" (FAZ), Jakob Guanzons Roman "Überfluss" (FAZ), Martin Suters Roman "Melody" (NZZ), Milena Michiko Flašars Roman "Oben Erde, unten Himmel" (NZZ)
Archiv: Literatur

Film

Tja, also irgendwie ist Schauspielerei im Kontext der aktuellen Debatten zu einer heiklen Kunst geworden. Schließlich besteht sie in Anverwandlung, Aneignung. Was passiert, wenn er einen SS-Mann spielt, fragt Susanne Lenz in der Berliner Zeitung Lars Eidinger, der gerade einen Film über sich selbst und seine Arbeit herausbringt ("Lars Eidinger - Sein oder Nichtsein"). Und seine Antwort klingt so: "Der bin ich natürlich auch. Klar. Man tut sich als Schauspieler keinen Gefallen damit, wenn man anfängt, die Figuren von sich wegzuhalten, sie als etwas Fremdes zu betrachten. Bei dem Ehrgeiz, das Menschliche in den Figuren zu erkennen, muss man bei sich selber anfangen und schauen, welche Anteile von ihnen man in sich trägt. Einfach, um eine Identifikation zu schaffen. Ich versuche, mich jetzt ganz vorsichtig auszudrücken. Denn ich als weißer, privilegierter Cis-Mann habe eigentlich nicht das Recht, mich überhaupt zur Diversitätsdebatte zu äußern. Das wäre genauso, wenn ich Rassismus erklären würde. Da bin ich der Falsche."

Im Standard wird er auch interviewt und sagt etwas anderes: "Ich glaube nicht an die Verwandlung. Ich werde niemand anderer. Im besten Fall sieht man immer mich, wie ich die Rolle spiele"

Gemeldet wird, etwa in Zeit online, dass Volker Schlöndorff den Ehrenpreis der Filmakademie erhalten soll.
Archiv: Film
Stichwörter: Eidinger, Lars, Rassismus

Musik

Stephan Mösch gratuliert in der FAZ dem Dirigenten Hartmut Haenchen zum Achtzigsten, der in der DDR mit Alter Musik begann und erst nach seinem Weggang aus der DDR Karriere machte. Mösch nennt seine "Parsifal"-Interpretation in Bayreuth die wichtigste neben der von Boulez: "Was diesen Dirigenten besonders interessiert, ist das, was sich zwischen dem Abschluss des Autografs und der Uraufführung verändert hat. Da nämlich wurden Komponisten wie Verdi, Wagner oder Richard Strauss besonders aktiv: Wenn sie ihre Stücke auf den Proben zum ersten Mal hörten. Gemessen an diesem Anspruch wirkt der Langsamkeitszinnober, der vielfach noch immer veranstaltet wird, hausbacken und selbstgefällig."

Hier mit Brahms' Erster:




Rough Trade bringt ein Album mit nachgelassenen Songs des malischen Gitarristen und Sängers Ali Farka Touré, heute besprochen in Pitchfork. "Der vielleicht wichtigste Gast auf 'Voyageur' ist der Sänger und langjährige Touré-Kollege Oumou Sangaré, dessen drei Auftritte zu den Höhepunkten des Albums gehören", schreibt Megan Iacobini de Fazio.

Ein Auszug:



Besprochen werden sonst noch ein Album des Rappers Logic (SZ), Albrecht Dümlings Buch über die "Weintraub Syncopators" ("die zweite international erfolgreiche Musikergruppe aus dem Berlin der Zwanzigerjahre", erläutert Harald Eggebrecht in der SZ)
Archiv: Musik