Efeu - Die Kulturrundschau

Zu viele Knöpfe

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2014. In Münchner Filmmuseum wurde das Ende des Kinos eingeläutet, berichtet Artechok. Die Nachtkritik sieht den Theaterstilen auf offener Bühne beim Vermodern zu. Selbst beim Internisten spielen sie jetzt Deep House, murrt in der Welt Munk. Musik ist doch schon in den Siebzigern gestorben, behauptet Joni Mitchell in der SZ. Die FAZ immerhin lernt von Sonia Delaunay, wie man sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts den Reizüberflutungen der modernen Welt entgegenstellte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.12.2014 finden Sie hier

Musik

Techno? House? Hört heute doch jeder, kann man nicht mehr machen, meint der Musiker Mathias "Munk" Modica im Interview mit der Welt: "Ich möchte nicht der Szene und der Gesellschaft entsprechen, in der ich mich selbst bewege. Ich mache elektronische Musik, die aber nicht den Erwartungen derjenigen entspricht, die nach Berlin kommen, um elektronische Musik zu hören, wo sie dann überall läuft, im "Berghain" und im Kaufhaus. Ich war beim Internisten in Charlottenburg, wo 70-jährige Damen hingehen, wache vom Eingriff auf und höre Deep House. Der Internist sagt: Das stört niemanden. Eine Großmutter kann bei DJ Dixon wunderbar relaxen. Da kann ich nicht auch noch Deep House spielen."

Joni Mitchell braucht man mit moderner Popmusik gar nicht erst kommen, erfahren wir im SZ-Gespräch mit Andrian Kreye. "In den Achtzigerjahren ging das alles den Bach runter. Der Sound wurde richtig scheiße. Dieses Geknister, viel zu viele Höhen. Ich weiß nicht, ob die Produzenten plötzlich alle auf Koks waren. Und dann haben sie sich alle diese Spielereien und Effekte gekauft. Nein, Musik ist Ende der Siebzigerjahre gestorben. Zu viel Technologie, zu viele Knöpfe."

Warum muss Musik für Kinder so bevormundend sein? fragt eine schwer genervte Iris Alanyali in der Welt. "Aber jetzt, im Advent, wollen wir uns nicht beklagen. Wir zünden Kerzen an, schmettern mit dem Nachwuchs "Dicke Rote Kerzen" und ertragen im Kindersender Radio Teddy sogar Weihnachtsmusik, die Luther zum Übertritt zum Islam bewegt hätte. "Hurra Christkind" etwa, das die Heilandsgeschichte mit debilen Schunkelredundanzen wie "Hurra, hurra, das Christkind ist da, wir feiern jedes Jahr, la-la-la-la-la" kaputtkrakeelt. Denn schon allein die Tatsache, dass es nur vor Weihnachten möglich ist, drei Tage lang Radio Teddy hören zu können, ohne ein einziges Mal auf "Bewegung, Bewegung!" ("... die hält uns gesund") von Burgfräulein Bö zu stoßen, lässt uns juchzen und fröhlich sein."

Weitere Artikel: Große Freude hat Joe Banks von The Quietus an der hauntologischen Musik von The Advisory Circle auf dessen neuen Album "From Out Here". Bei diesem handelt es sich um eine "neuen Zwecken zugeführte Audio-Postkarte, die vollgesogen ist mit der gestelzten Förmlichkeit und Wunderlichkeit einer vergangenen Zeit." Hier gibt es Auszüge aus dem Album zu hören. In der taz freut sich Klaus Walter über die Rückkehr der legendären Post-Punkband The Pop Group, deren ursprüngliches Geheimrezept er bei dieser Gelegenheit auch gleich verrät: "Das klassische produktive Missverständnis. Weiße Jungs lieben schwarze Musik, versuchen sie nachzuahmen, scheitern und nutzen das Scheitern als Chance mal wirklich. Und Punk als Lizenz zur Aktion." Nicht eine einzige Träne weint David Hugendick (ZeitOnline) der sich verabschiedenden Gothic-Schlagerband Unheilig nach: "Noch nie klangen Leben und Tod so banal wie nach einem ganzen Album dieser Band. " Nadine Lange vermutet im Tagesspiegel unterdessen einen "perfiden Langzeit-Marketingplan". In der SZ porträtiert Harald Eggebrecht die Violinistin Julia Fischer. Die Jungle World erinnert sich wehmütig ans goldene Zeitalter des Mixtapes. Und Drowned In Sound kürt seine 50 Lieblingsalben des Jahres.

Besprochen werden Mortis" "Hollywood-psychose" (taz) und die Compilation "Science Fiction Park Bundesrepublik" über den BRD-Tapeunderground der 80er (Jungle World), ein Konzert von Metronomy (Berliner Zeitung).
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Bühne

Nachtkritik-Gründerin Esther Slevogt führt die Legitimationskrise der Theater und die Zeitungskrise in ihrer auf der Tagung der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins gehaltenen Rede miteinander eng: Theater und Zeitung waren einst die Foren der bürgerlichen Öffentlichkeit: Doch "diese einst so bedeutsame identitätspolitische Errungenschaft des Bürgertums [ist] längst zum Ausschlussinstrument geworden, ihr Bildungskanon ebenso wenig noch konsensfähig wie ihre Repräsentationspraxis. Im Theater kann man zur Zeit Theaterstilen und Repräsentationsformen sozusagen auf offener Bühne beim Vermodern zusehen." Denn Öffentlichkeit, meint sie weiter, findet heute längst im Netz statt: Dies "ist in der Belle Etage der Hochkultur lange nicht zur Kenntnis genommen worden, wo man immer noch den Standpunkt vertrat (und womöglich im Stillen bis heute vertritt), es reiche bereits aus, das Publikum aufzufordern, den Computer wieder auszumachen und ins Theater zu kommen."

Weitere Artikel: Für die Nachtkritik liest Wolfgang Behrens aktuelle Theatermagazine. Patrick Bahners sieht in New York neue Stücke von Ayad Akhtar, in denen sich Juden, Moslems und Liberale in bunter Mischung verbal an die Kehle gehen: "Wenn auf der Bühne die verbalen Bomben gezündet werden, geht tatsächlich ein Aufseufzen durch die Reihen."

Besprochen werden Enrico Lübbes Inszenierung von "Zeiten des Aufruhrs" in Leipzig (SZ) und Lloyd Riggins" Inszenierung von August Bournonvilles "Napoli" in Hamburg (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Im Filmmuseum München diskutierte der Bundeskongress der Kommunalen Kinos über Film und Digitalisierung, berichtet Dunja Bialas auf Artechock. Tröstend wirkt sein Ausblick nicht gerade: "Das Ende des Films als Medium hat weit­rei­chende Folgen für die kultu­relle Praxis, die sich einst mit ihm verband. Der Ort für "Film" wird in Zukunft nicht mehr der reale Ort des Kinos sein, sondern hat sich ins Internet virtua­li­siert. Mit dem Wechsel vom Einz­el­bild zum Einzel-Bit geht nicht nur die Ablösung der Medien einher, sondern es vollzieht sich ein schlei­chender Kultur­wandel, der das Ende des Kinos einläutet."

Weitere Artikel: Toby Ashraf unterhält sich in der taz mit der Regisseurin Joanna Hogg über deren Film "Exhibition" (unsere Kritik hier). Für die Berliner Zeitung unterhält sich Patrick Heidmann mit Regisseur Jason Reitman über dessen neuen (im Tagesspiegel besprochenen) Film "#Zeitgeist".

Besprochen werden außerdem Nuri Bilge Ceylans "Winterschlaf" (Tagesspiegel, Zeit, kritiken.de, Welt, mehr), Sergei Loznitsas Dokumentarfilm "Maidan" (taz), Adriana Altaras" "Titos Brille" (taz) und der letzte "Hobbit"-Film (FR, mehr).
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Literatur

Die Kritiker-Jury des Tagesspiegels geben ihre Lieblingscomics des Jahres bekannt.

Besprochen werden Barbara Yelins Graphic Novel "Irmina" (NZZ),  Roddy Doyles "Punk is Dad" (FR), Ulla Hahns "Spiel der Zeit" (SZ) und eine Gesamtausgabe von Ernst Tollers Werken (FAZ).
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Stichwörter: Graphic Novel, Toller, Ernst

Kunst


Sonia Delaunay, Nu Jaune, 1908. Bild: Musée des Beaux-Art de Nantes

Im Musée d"Art moderne de la Ville de Paris lässt sich, wenn auch unter etwas beengten Verhältnissen, der Simultanismus von Sonia Delaunays zwischen Malerei, Mode und Design changierender Kunst entdecken, berichtet Lena Bopp in der FAZ: Dabei handelt es sich um den "Versuch, die Reizüberflutung der modernen Welt mittels kontrastierender Farben und Formen abzubilden ... Farben, Formen, der Stoff des Kleides und die tanzende Frau, die es trägt, greifen somit auf mehreren Ebenen genau jene Gleichzeitigkeit von Sinneseindrücken auf, die Delaunay und ihre Freunde (...) inspirierte."

Besprochen werden eine Lutz-Friedel-Ausstellung in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Im Licht der Menora" im Jüdischen Museum in Frankfurt (FAZ), die Ausstellung "Deutschland 1945 - Die letzten Kriegsmonate" in der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin (FAZ) und eine Ausstellung über den Münchner Rokoko in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München (SZ).
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Stichwörter: Delaunay, Sonia, Rokoko, Nantes