Mord und Ratschlag

Orientalische Helden

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
22.11.2013. Eine Begegnung mit dem israelischen Autor Dror Mishani, der sich mit seinen Kriminalromanen daran macht, die hebräische Literatur zu unterwandern.
Das Tolaat Sfarim liegt wie eine Oase im Herzen Tel Avivs und verbindet auf sehr eigene Art mediterranes Flair mit alteuropäischer Caféhaus-Kultur und einem Buchladen. Dror Mishai sitzt im schattigen Hinterhof des Café, an der Wand lehnt sein Fahrrad mit dem großen Kindersitz und der 38-Jährige lacht so offen und freundlich, dass man nicht glauben möchte, wie hartnäckig dieser Mann ein höchst subversives Ziel verfolgt: die Unterwanderung der hebräischen Literatur mit dem Kriminalroman.

Autorinnen wie Batya Gur und Shulamit Lapid in allen Ehren - aber Israels Literatur kennt den Kriminalroman nicht. "Auf Hebräisch werden anspruchsvolle Texte geschrieben, kein Genre", sagt Mishani, das alles beherrschende Thema in der Literatur sei die Identität als Nation: Egal ob bei Yoram Kaniuk, David Grossman oder Amos Oz, immer werden große Themen behandelt, persönliche Erfahrungen mit der kollektiven Geschichte verbunden: Holocaust, Staatsgründung, Nahost. Alltägliche oder einfache gesellschaftliche Probleme kommen nicht vor: "Zwanzig Minuten von hier leben 50.000 illegale Einwanderer aus Afrika, das ist eine ganze Stadt. Die Polizei lässt sich dort schon lange nicht mehr blicken. Über solche Themen schreibt kein Mensch!"

Mishani ist Lektor beim durch und durch respektablen Keter Verlag und lehrt Literaturwissenschaft an der Universität. Aber mit seinem Faible fürs Genre stößt er bei seinen Kollegen nur auf Unverständnis. Als er an der Universität ein Seminar zum Kriminalroman hielt und nachwies, dass Hercule Poirot in Agatha Christies in "Das fehlende Glied in der Kette" völlig zu Unrecht die Hausdame der Mittäterschaft beschuldigt, fragte ihn sein Dekan, ob er das wirklich für Literatur halte. Ja, tut er, und sogar noch mehr als das: Aufrichtig erschütternd findet er etwa, dass Henning Mankell seinen Kommissar Wallander in den Ruhestand versetzt: "Ich bin mit Wallander aufgewachsen, und jetzt hört er auf, das ist so bewegend", sagt er und greift sich gefühlvoll ans Herz.

Die Probe aufs Exempel hat Mishani mit seinem ersten Roman "Vermisst" gemacht: "Kann es für israelische Leser von Bedeutung sein, ein Buch über einen vermissten Jungen zu lesen? Ein Junge, der weder von Arabern entführt wurde noch in einem Kibbuz missbraucht wurde?" In dem Roman, der Israel eine beachtliche Auflage von zweitausend Stück erreichte und in Deutschland prompt auf die Besten- und Bestseller-Listen kam, erzählt Mishani mit allergrößter Ruhe von einem ganz alltäglichen Fall: Eine Mutter meldet ihren 16-jährigen Sohn als vermisst. Kommissar Avraham Avraham nimmt den Fall auf und beschwichtigt die Frau mit der absurden Erklärung, dass es in Israel solche Verbrechen nicht gebe: "Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen." Deswegen gebe es ja auch keine Kriminalromane in dem Land. Außerdem muss auch im grauen Tel Aviver Vorort Cholon die Polizei auf ihren Etat achten. Avraham ermittelt nicht nur ziemlich nachlässig, sondern auch recht unbedarft. Er ist durchaus freundlich und mitfühlend, später sogar schuldbewusst, doch seine Tatenlosigkeit ist geradezu aufreizend, seine vielen Fehler treiben einen in den Wahnsinn. Richtig liegt er mit seinen Schlussfolgerungen selten. Er ist ein eigentlich ein ziemlich unfähiger Kommissar.

Und genau das ist der Punkt, auf den es Mishani ankommt. Denn dieser Avraham Avraham hat nicht nur einen albernen Namen und wenig Biss, er ist vor allem Mizrachi - ein orientalischer Jude und damit eigentlich nicht literaturfähig, sagt Mishani und erklärt damit eine doppelte Leerstelle: In der israelischen Wirklichkeit taugen die orientalischen Juden ebensowenig zu Helden wie in der hebräischen Literatur. Mishani kommt aus einer Familie mit syrisch-libanesischen Wurzeln, sein Vater hat noch Arabisch gesprochen, er kennt die Hierarchien im modernen Israel: "In den Geheimdiensten arbeiten die europäischen, bei der Polizei die orientalischen Juden, entsprechend gering ist ihr Ansehen." Das Protokollieren von Verkehrsunfällen ist keine Ruhmestat, das Schlichten von Familienstreits bringt keine Helden hervor. Im Roman bekommt Avraham einen nicht wirklich witzig gemeinten Anruf: "Uri Uri vom Schabak Schabak" - ha ha - erkundigt sich nach dem Fall und stellt klar, wer ihn übernimmt, sobald "auch nur ein Buchstabe auf Arabisch" auftaucht. In Israel gibt es auch deshalb keine Polizeiromane, weil die Einfaltspinsel von der Polizei nur mit Bagatellen beschäftigt sind, die spannenden Fälle gehen an die coolen Typen vom Schabak.

Die traurigste und zugleich monströseste Figur in Mishanis Roman ist der verkappte Autor Seev Avni, der dank des verschwundenen Nachbarsjungen endlich den Stoff für einen Roman gefunden zu haben glaubt. Damit beweist Mishani eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber sich selbst als Krimiautor, der aus dem Unglück anderer Menschen schriftstellerisches Kapital zu schlagen versucht. Aber er zeigt an dieser Figur, die sich an einer ziemlich schrecklichen Version eines "Briefs an den Vater" versucht, auch sein Misstrauen gegenüber einem unauthentischen Schreiben, das "die Literatur" als Tradition hochhält, als gehobenen Standard oder Etikette: Das bedeutet, "die Worte und Schablonen von jemand anderem zu benutzen".

Die Ehrfurcht vor dem Hohen, dem Kanonischen nervt Mishani auch deshalb, weil fast alle israelischen Autoren und Autorinnen einen europäischen Hintergrund haben, ebenso wie ihre Helden und die Themen ihrer Bücher. Die Erfahrung orientalischer Juden kommt in der hebräischen Literatur nicht vor, in der gesamten israelischen Kultur spielen Mizrachi keine Rolle, sagt er. Und es herrsche ein hoher Ton: Das literarische Hebräisch ist eine Sprache des 19. Jahrhunderts, sehr formal und absolut distinguiert. Die Alltagssprache hat erst Etgar Keret mit seinen Kurzgeschichten hoffähig gemacht und damit die Hoffnung auf eine wahrhaft israelische Literatur genährt. Denn die versiegelte Sprache ist natürlich ein Problem für jedes Genre, stöhnt Mishani lachend: "Wie soll man denn den 'Malteser Falken' übersetzen, wenn es im Hebräischen nicht mal ein Wort für babe gibt?"

Dror Mishani: Vermisst. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Zsolnay Verlag, Wien 2013, 351 Seiten, 17,90 Euro

Die Reise nach Israel fand auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung statt.