Mord und Ratschlag

Luxus und Kunst für jedermann

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
17.08.2011. Didier Daeninckx erklärt in seinem Historienkrimi "Tod auf Bewährung", für welche Verbrechen man sich einen Orden an die Brust heften darf. Uli Hufen erzählt in "Das Regime und die Dandys" von Odessa-Mama und seinen Gaunerchansons.
Didier Daeninckx geht keinem Streit aus dem Weg, weder mit dem politischen Establishment noch mit seinem eigenen Verlag, und doch kann er die gewaltigsten Widersprüche miteinander verbinden. Das liegt in der Familie, deren beide Hauptstränge sich spinnefeind hätten sein müssen, aber offenbar bestens miteinander klar kamen: Der eine Großvater war Anarchist, der andere Kommunist und Bürgermeister von Stains, doch selbst dieser fiel bei seiner Parteiführung in Ungnade, weil er sich gegen den Hitler-Stalin-Pakt aussprach. Auch Daeninckx' Mutter war in dieser Hinsicht recht prägend, wie er in einem Gespräch mit Bibliosurf erzählt: Erst arbeitete sie als Kurierin für Francos Gegner; später, Mitte der sechziger Jahre, quartierte sie ihren Sohn aus dem Kinderzimmer aus, um dort die Delegation der Vietcong unterzubringen, die im Geheimen in Paris mit der amerikanischen Regierung über ein Ende des Vietnamkriegs verhandelte.

Nicht überraschend, dass Daeninckx bei solcher familiären Vorbelastung und einer beruflichen Karriere als Drucker, Bibliothekar und Journalist beim historischen Krimi landete. Allerdings malt er keine sepiafarbenen Pastiches, in denen jedes Detail so dekorativ wie ein Bakelittelefon ist, vielmehr holt Daeninckx Ereignisse aus den Tiefen der Archive, die weh tun: Wie zum Beispiel 1984 mit seinem Roman "Meurtres pour memoire" das jahrzehntelang totgeschwiegene Massaker von Paris 1961, bei dem mehr als hundert Teilnehmer einer FLN-Demonstration gegen den Algerienkrieg erschlagen, erschossen und in der Seine ertränkt wurden. Als Polizeipräfekt verantwortlich war der einstige Vichy-Beamte Maurice Papon, der erst 1998 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde (auf Deutsch "Bei Erinnerung Mord", 2003 im Distel Verlag erschienen). Daeninckx hat sich den literarischen Kampf gegen jede Form von Ungerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben, am vehementesten streitet er aber gegen den Negationismus, gegen jegliche Leugnung historischer Verbrechen. Sein politisch-poetisches Konzept bringt er auf die Formel: "Der Krimi ist die letzte Warnung, danach schreiten die Menschen zur Tat."

Seit dreißig Jahren schreibt Didier Daeninckx seine politischen Historienkrimis, Jahr für Jahr legt er ein neues Buch vor, Frankreichs Linke liegt ihm dafür seit Jahrzehnten zu Füßen, doch bisher ist es aus unerklärlichen Gründen keinem Verlag gelungen, ihn in Deutschland durchzusetzen. Dem neuen Versuch des Liebeskind Verlags ist deshalb alles Editorenglück zu wünschen. "Tod auf Bewährung" ist ein wunderbarer, unsentimentaler, erstaunlich heiterer Roman über ein bitteres Verbrechen.

Unfreiwilliger, mit der Obrigkeit und seinem Vaterland hadernder Held der Geschichte ist Rene Griffon, der aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs körperlich unversehrt, aber von etlichen miesen Erfahrungen ernüchtert zurückgekehrt ist. Mangels ehrenwerter Alternativen schlägt er sich als windiger Privatdetektiv und Witwentröster durch. Doch eines Tages muss er an einen echten Fall ran, Colonel Fantin de Larsaudiere, hochdekorierter Kriegsheld und von echtem, "sogar verarmten" Adel, braucht in einer delikaten Angelegenheit seine Dienste: Seine zum Glück vermögende, aber bedauerlicherweise sehr abenteuerlustige Frau hat es zu bunt in den Amüsiervierteln von Paris getrieben, woraus nun offenbar Erpresser Kapital schlagen wollen.

Doch sehr bald schon wird Griffon merken, dass ihn seine Erkundungen zwischen Pigalle und dem Boulevard Rochechouart, wo sich Madame de Larsaudiere recht ausgelassen mit jungen Fliegerhelden vergnügt, nicht weiter führen. Sehr schnell wird klar, dass die Schweinefleischgeschäfte der erfolgreichen Unternehmerin wesentlich anrüchiger sind und weitaus skandalöser noch die Verbrechen des Colonels, der jede Menge Leichen auf den Schlachtfeldern der Picardie und der Creuse hinterlassen hat, meist auf Geheiß des Generalstabs, mitunter um seine eigene Haut zu retten - und selten waren es deutsche Soldaten. Aufgeklärt werden müssen keine ehelichen Eskapaden, sondern größere Verbrechen. Verhandelt werden - auf denkbar unbeschwerteste Art - Heldentum und Fahnenflucht, Ehre und Verrat, Tapferkeit und Mord. Und ein Massaker an russischen Soldaten, die auf Seiten der Franzosen gekämpft hatten und im November 1917 gegen ihre weißen Offiziere meuterten.

Doch Daeninckx lotet nicht nur den militärisch-moralischen Sumpf sehr genau aus, er schafft es auch, den Stadtplan von Paris erheblich zu erweitern. Immer wieder schickt er Griffon in seiner stets polierten Packard-Limousine durch die Außenbezirke von Paris, durch den Roten Gürtel, durch Bobigny, Drancy und Gagny, vorbei an den großen Autowerken und Margarinefabriken, an streikenden Arbeitern und ihren armseligen Behausungen. Nur einmal geht es auch ins noble Neuilly, wo der Syndikalistische Mieterbund eine Villa besetzt und einen sehr kurzen und sehr vergeblichen Revolutionsfunken versprüht: "Luxus und Kunst für jedermann."


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Uli Hufens Geschichte der russischen Gaunerchansons "Das Regime und die Dandys" ist kein Krimi, kein Thriller, nicht einmal ein unterhaltsamer Schauerroman, es ist ein nach allen Regeln der Kunst geschriebenes Sachbuch, sehr anschaulich und lebendig erzählt und bestens belegt. Ich bespreche das Buch hier nur, weil sonst niemand darüber schreibt. Und da die Geschichte der Gaunerchansons eine Geschichte von Verbrechen und Kunst ist, passt es doch in die Kolume wie die Faust aufs Auge und der Ganove nach Odessa.

Im Russischen werden diese Chansons Blatnik genannt, in der Sowjetunion waren sie verboten, aber jeder kannte und liebte sie. Was und wer alles dazu gehört, ist eine Frage, die unter Russen sofort wilde Diskussionen auslöst, denn mit den heute sehr populären russischen Chansons erleben sie in einer harmlosen und eher unsympathischen Form eine große Renaissance. Hier muss also auf Distinktion geachtet werden! Unstrittig ist immerhin, dass sie ihren Ursprung im verruchten Odessa haben, sie erzählen aus der Unterwelt der Hafenstadt, von Dieben und Dirnen, Einbrüchen und Ausbrüchen, von schweren Jungs und leichten Mädchen.

Sehr schön erzählt Hufen vom wilden, vergnügungssüchtigen und dabei so hellen Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dessen Bewohner zur Hälfte Jiddisch sprachen, zur anderen Hälfte Russisch, Ukrainisch und Polnisch, und deren Droschenkutscher ihre Arien auf Italienisch sangen. Hier bilden der Schriftsteller Isaak Babel, der Reitergeneral Semjon Budjonnyj und Gangstergeneral Mischa Japontschik die "heilige Odessaer Einheit aus chamantem Gangstertum, großer Literatur, Musik, Revolution und Bürgerkrieg", wie Hufen frohlockt. Witzig und verwegen ist die Stadt, so frei- wie großzügig, und sie entwickelt ihre ganz eigene Grammatik: Hier heißt es nicht "Das ist ein großer Unterschied", sondern "Das sind zwei große Unterschiede". Vor allem die jüdischen Gangster der Stadt haben es zu beträchtlichem Ruhm gebracht, wenn auch nicht so international wie ihre amerikanischen Kollegen um Meyer Lansky und Murder Incorporated. Aber die von Mischa Japontschik beherrschte Unterwelt genoss russlandweit ihren schlechten Ruf als üble Räuberhöhle, die allen Ganoven Platz und Einkommen bot: Odessa-Mama.

Die Lieder über Odessa-Mama, die in den Gassen, Spelunken und Bordellen gesungen wurden, vereinten Klezmer und Tango, Jazz und russische Folklore, wüste Texte und sentimentale Melodien. Die großen berühmten Chansons entstanden in den frühen zwanziger Jahren und hießen "S odesskogo kitschmana" (Aus einem Odessaer Kittchen entwichen zwei Flittchen), "Bublitschki", Gop-so-smykow" oder "Murka" über eine Gangsterbraut, die ihren Geliebten an die Geheimpolizei verrät. Einer ihrer größten Interpreten war der sowjetische Großentertainer Leonid Utjosow, der die Lieder erstmals im Studio aufnahm. Da in der Sowjetunion das Verbrechen offiziell als abgeschafft galt, durfte es auch keine Blat-Lieder mehr geben. Fortan sangt Utjosow an der Front oder in Privataudienzen bei Stalin "südliche Lieder".



Noch interessanter als dieser Hans Albers der Sowjetunion ist die Leningrader Gruppe um Rudolf Fuks und Arkadij Sewernyj, an ihnen hängt Hufens Herz. Er beschreibt sie als Angehörige einer Generation, die als Jugendliche den Tod Stalins erlebt haben und die sich die neue Freiheit auch nicht mehr von einem Leonid Breschnew und anderen Betonköpfen wieder nehmen lassen wollten. Es sind keine Dissidenten, das macht Hufen klar, sondern unpolitische, aber unangepasste Jugendliche, die Wenedikt Jerofejew und Jewgenij Jewtuschenko lesen wollen, Jazz hören und ihre eigenen Klamotten tragen. Die Obrigkeit verfolgt sie wegen "Spekulantentum und Nichtstuerei". Ihre Platten lassen sie sich - mangels Schellack - auf alten Röntgenbildern pressen, die sie aus den radiologischen Abteilungen der Krankenhäuser abzweigen (genannt "Musik auf Rippen").

Das Zentrum dieses musikalischen Untergrunds war Leningrad, Piter, und mit der Wohnzimmer-Aufnahme des ersten "Musikalischen Feuilletons" 1972 wird Arkadij Sewernyi, befeuert vom Impresario Rudolf Fuks, zu einem der größten und tragischsten Chansonniers der russischen Musikgeschichte. Die Platte war frivol und geistreich, also alles, was die offizielle russische Kultur nicht ist, und Hufen kommentiert den Beginn dieser phänomenalen Untergrundkarriere mit Hildegard Knefs Worten: "Von nun an ging's bergab." Sewernyj singt und trinkt, in einem einzigen Schaffensrausch produziert das geniale Duo einen Erfolgnach dem anderen; offziell nicht existent werden die Lieder aus Odessa zum Volksgut, doch schon 1980 hat sich Sewernij totgesoffen.



In den Achtzigern wurden die Lieder immer populärer, aber auch gefälliger. Sewernyj findet mit Kostja Beljajew, dem "Konsul des Effekts", und Garik Osipow, dem Grafen, talentierte und politisch mindestens ebenso unzuverlässige Nachfolger, wobei sie sich weniger als Ganoven denn als Lebemänner inszenieren. Einem Zitat Osipows, der in den neunziger Jahre Moderator einer kultigen Radiosendung wurde, entstammt der Titel des Buchs: "Das Regime und der Dandy ignorieren sich gegenseitig". Hufen versagt auch ihnen eine gewisse Sympathie nicht, aber folgen mag man ihm dabei nicht. Zu auffällig wird, wie wohlgelitten sie bei den Kadern des KGB sind, wie oft sie sich über die griesgrämigen und humorlosen Dissidenten lustig machen und wie gern sie antijüdische Witze erzählen. Es sind russische Chansons geworden, in Moskau produziert und der Macht nicht fern. Während Sewernyi noch feixte: "Ich liebe das Blat-Leben, nur vor dem Klauen habe ich Angst", dekretiert Beljajew: "Kauf nicht bei den Ohnmächtigen. Nimm umsonst, was Du kannst." Odessa und Moskau, das sind doch zwei große Unterschiede.

Didier Daeninckx: Tod auf Bewährung. Roman. Aus dem Französischen von Stefan Linster. Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2011, 265 Seiten, 18,90 Euro

Uli Hufen: Das Regime und die Dandys. Russische Gaunerchansons von Lenin bis Putin. Rogner und Bernhard Verlag, Berlin 2011, 326 Seiten, 19,90 Euro