Mord und Ratschlag

Komposition für dreizehn Windräder

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
11.10.2012. Wenn es um die Behandlung von Roma geht, dann ist Europa in Rom genauso hässlich wie in Kollwitz-Fichtenberg: Das zeigen gleich zwei neue Krimis: In Roberto Costantinis Thriller "Du bist das Böse" ermittelt ein altersmilder Ex-Faschist gegen Vatikan und Staatsmacht. In Merle Kröger "Grenzfall" nimmt es eine heitere Vagabundin mit Regionalgrößen und der NPD in Vorpommern auf.
Rom, korrupte Stadt. Um heikle Fälle wie Betrug und Korruption kümmert sich die Polizei mit parteipolitischem Feingefühl. Im Gegenzug unterstützt die Politik die Polizei gern, wenn es ihr opportun erscheint. Bei übereifrigen Ermittlern dagegen sorgen Ministerialdirektoren oder vatikanische Eminenzen für die Versetzung nach Sardinien. Das Verbrechen bedient sich des Staates, die Politik macht sich das Verbrechen nutzbar. Roberto Costantini trimmt das römische Drama, das Giancarlo de Cataldo schon in seinem "Romanzo Criminale" mit Wucht in Szene gesetzt hat, in seinem Thriller "Du bist das Böse" auf Bestseller-Format.

Zwei Morde setzt Costantini zunächst gegeneinander: Im Juli 1982, am Tag des WM-Endspiels, wurde die junge Angestellte eines Kardinals ermordet, als Täter kamen nur ihre braven katholischen Kollegen in Betracht oder ihr hochgestellter Nachbar, ein sadistischer Aristokratensohn. Die Ermittlungen wurden bald eingestellt, die ins Visier genommenen Kreise wissen, wie man sich Polizisten vom Hals hält. Vierundzwanzig Jahre später, im WM-Sommer 2006, wird wieder ein italienisches Mädchen auf ähnlich brutale Weise massakriert, diesmal fällt der Verdacht auf rumänische Zuwanderer, die ganz in der Nähe in der erbärmlichen Roma-Siedlung Casilino 900 kampieren. Tolles Futter für den Wahlkampf, der Stadtrat streitet, ob die Barackensiedlung aufgelöst werden soll, eine Sondereinheit wird ins Leben gerufen.

Für beide Fälle zuständig ist ein und derselbe Kommissar, und mit diesem Michele Balistreri hat Costantini eine faszinierende Figur geschaffen, die im Laufe der Zeit eine so beruhigende wie traurige Entwicklung genommen: 1982 war Balistreri, Kind italienischer Kolonisten in Libyen, zwar kein faschistischer Schläger mehr wie noch in seiner Jugend, aber ihm steckte noch immer eine rasende Wut auf die Welt, die Politik und die Privilegierten in den Knochen. Statt Beziehungen pflegt er seine Ressentiments. "Lieber verhungere ich, als mit fünfzig noch diesem Scheißstaat zu dienen", posaunte er gern heraus. Anstatt gewissenhaft zu ermitteln, amüsierte er sich lieber mit Alkohol, Poker und Frauen. Schwer zu sagen, ob es also ein Wunder ist oder eben keins, dass Balistreri mit Mitte fünfzig noch immer bei der Polizei ist, jetzt im respektablen Rang eines Commissarios und Leiters der Sondereinheit. Die Schuldgefühle lasten auf ihm ebenso wie die all Kompromisse seines Lebens, die ihn als erwachsenen Mann ausweisen. Statt mit Frauen tröstet er sich mit CDs von Leonard Cohen, und seine Wut hat sich im Dunstschleier der Antidepressiva aufgelöst. Alkohol, Kaffee und Zigaretten verträgt sein Magen nicht mehr.

In epischer Breite schildert Costantini den Kampf Balistreris gegen die Dämonen der Vergangenheit und die Vorgesetzten der Gegenwart, gegen alte Feinde und neue Freunde, und über weite Strecken folgt man ihm durchaus gefesselt. Costantini kann schreiben und hat seiner Hauptfigur auch einige schön scharf gezeichnete Figuren zur Seite und gegenüber stellt: etwa einen Kardinal, der seine Aggressivität in unangreifbare Liebenswürdigkeit verpackt; einen Polizeichef, der sich in seinen politischen Verbindlichkeiten verheddert, oder auch eine junge Polizistin, die mehr Muskeln als Verstand besitzt, aber Courage.

Doch leider geht die Geschichte nicht auf. Den beiden Morden vom Anfang folgen bald unzählige weitere. Aber Serienmörder sind ein Ausweis von erzählerischer Einfallslosigkeit sind, und die Dämonisierung von Staat und Vatikan ist kein politisches Konzept, sondern ein religiöses. Wenn Costantini all die Fäden, die er so vielversprechend und verschwenderisch ausgelegt hat, am Ende wieder aufnimmt, fügen sie sich nur zu einem wilden Knäuel zusammen, in dem weder Logik noch Psychologie zu erkennen sind. Der Roman beginnt als politisches Drama um Unantastbarkeit, er endet als genau der Katholiken-Schocker, den bereits der Titel ankündigt und der sich im Regal sehr gut zwischen Dan Brown, Stieg Larsson und Sandro Veronesi einfügt.

Roberto Costantini: Du bist das Böse. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. Bertelsmann Verlag, München 2012, 574 Seiten, 19,99 Euro.


***


Merle Krögers Krimi "Grenzfall" weist einige frappierende Ähnlichkeiten zu Roberto Costantinis Thrillers auf: Auch in "Grenzfall" verlangt ein ungelöster Mord nach zwanzig Jahren sein Recht, auch hier rauscht im Hintergrund stets die Fußball-Übertragung, und vor allem bildet auch hier Europas Umgang mit den Roma die trübe Folie, auf der sich das Verbrechen abspielt. Doch auch wenn in Italiens Hauptstadt genauso Jagd auf Roma gemacht wird wie in der mecklenburgischen Provinz, liegen doch literarische Welten zwischen Rom und Kollwitz. Krögers Geschichte von den Rändern der europäischen Gesellschaft ist bei weitem nicht so hochgepumpt wie Costantinis Thriller aus der Mitte der Macht, sondern intelligent gestrickt, mit viel Witz erzählt, und viel näher am Leben als an den Techniken der Bestseller-Produktion. Der Spott, mit dem Kröger die verschiedenen Milieus belegt, ist nicht immer milde, aber er entspringt immer der klugen und aufmerksamen Beobachtung. "Grenzfall" ist vielleicht der beste deutsche Krimi des Jahres.

Die Geschichte beginnt im Frühsommer 1992, zu Beginn jener finsteren Zeit, als der Mob gegen die Zuwanderung tobte, Flüchtlingsunterkünfte und türkische Wohnhäuser in Brand steckte und schließlich erreichte, dass das Asylrecht abgeschafft wurde. Auch im fiktiven Kollwitz-Fichtenberg staut sich der Volksfrust gegen das Asylbewerberheim und die dort einquartierten Roma. Eines Nachts werden in einem Gerstenfeld zwei Flüchtlinge erschossen, Marius Voinescu und Nicu Lacatus. Hobby-Jäger haben die Flüchtlinge offenbar für Wild gehalten, nach einem vierjährigen Prozess werden sie nicht einmal der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden. Kröger lässt dieses Verfahren böse als "Wildschwein-Prozess" firmieren.

Zwanzig Jahre später kehrt Adriana Voinescu, die Tochter des einen Opfers, nach Kollwitz zurück. Mittlerweile randaliert hier nicht mehr der versoffene Pöbel, die akkurat gescheitelten Kader der NPD haben die Regie übernommen und fahren eine smartere Strategie. Andererseits dürfen rumänische Roma nun ganz legal nach Deutschland (haben dem Vernehmen nach aber bisher nicht Vorpommern überrannt). Adriana spürt einen der beiden Täter auf, mit Messer im Stiefel und durchaus destruktivem Impuls, aber noch unentschieden, ob sie Rache oder Wiedergutmachung will. Aber wie auch ihr Vater gerät sie zur falschen Zeit an den falschen Ort. Der Sturz des Jägers aus dem achten Stock wird ihr angelastet.

Über ihren rumänischen Wohnwagen-Nachbarn am Treptower Park kommt schließlich Mattie Junghans ins Spiel, die Frau ohne festen Wohnsitz und soliden Lebensentwurf (während andere ihren schon dreimal geändert haben!). Gerade angedockt an eine Kanzlei Kreuzberger Anwälte, übernimmt sie die Nachforschungen, im Schlepptau einen Zwergspitz, ihren emotional und sexuell ambivalenten Ex-Freund Nick und die Tochter des zweiten Opfers, die junge Nadina Lacatus (Devise: "Bloß nicht heulen vor den Weißen!"). Dass ausgerechnet die wohlmeinende Pastorin von Kollwitz zu Matties Widersacherin wird, gehört zu den vielen klugen Wendungen, die diese Geschichte nimmt.

Merle Kröger, die Spezialistin für Bollywood und bedrängte Minderheiten, schickt ihre rastlose Heldin quer durch das globale Dorf Europa: Über Kollwitz in die Walachei und weiter nach Transsilvanien: Solange der Akku reicht, trällern aus dem Laptop indische Megastars, doch dann ist Schluss mit der multikulturellen Ausgelassenheit. Im Roma-Viertel von Brasov gibt es keinen Strom, und die kleine Schwester kann die Schule vergessen, sie muss nach Südfrankreich, als Dienstmädchen in Schuldknechtschaft, ihre Brüder brauchen Geld. Autoscheiben putzen in Berlin oder Tomaten pflücken in Spanien bringt nicht so viel. Roma reisen durch ein sehr trauriges Europa.

In einer wunderbaren Szene ersinnt Kröger sich die Art von Trost, die Mecklenburg-Vorpommern zu bieten hat. Dann steht Nick in dem Gerstenfeld unter einem Windrad, das alle paar Minuten mit brachialen Lärmdetonationen zum Stehen kommt. "Eine Sinfonie aus Klängen. Stell Dir vor, man könnte das steuern. Komposition für dreizehn Windräder. Ein Requiem für Marius Voinescu und Niculai Lacatus."

Merle Kröger: Grenzfall. Ariadne Verlag, Hamburg 2012, 347 Seiten, 11 Euro.

Merle Krögers Roman "Grenzfall" entstand im Laufe ihrer aus Recherchen zu Philip Scheffners Film "Revision", der dem Tod der beiden Flüchtlinge nachgeht und derzeit in einigen Kinos zu sehen ist.