Mord und Ratschlag

Papa war doch einfach der Beste

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
09.10.2009. In Neapel brennt der Müll, im Nordosten Italiens wird das schmutzige Geld in respektable Geschäftsgewinne verwandelt. Massimo Carlotto beschreibt in seinem Krimi "Wo die Zitronen blühen" die Anmaßungen einer Patrizierschicht, die ganze Städte ihrem Privilegiensystem unterworfen hat.
Die mit Abstand sympathischste Gestalt in Massimo Carlottos neuem Krimi "Wo die Zitronen blühen" ist ein Trinker, der ein Vermögen für Frauen, Alkohol und Glücksspiel verprasst hat und der schließlich wegen Brandstiftung mit tödlichen Folgen im Gefängnis landet. Gleich darauf folgt der Finanzhai, eine Art Bernie Madoff aus der Provinz, der allerdings trotz erfolgreicher Pyramidengeschäfte nie zu den besseren Kreisen aufschließen wird: Seine ebenfalls trinkende Frau muss versteckt gehalten werden, man könnte sie für seine Putzfrau halten; sein delinquenter Sohn raubt nachts gern alte Witwen aus. Auch mit den restlichen Figuren möchte man lieber keinen Espresso an der Bar trinken: Es sind die besseren Kreisen des italienischen Nordostens, Löwen und Schakale allesamt, und am liebsten verspeisen sie junge Gazellen.

In diesen Kreisen weiß man sich vor den Zumutungen der Realität bestens zu schützen: "Denk immer daran, wer Du bist, und alles wird gut." So haben die einflussreichen Familien Padaniens das Verschwinden von Staat, Parteien und Kirche verkraftet, die chinesische Konkurrenz abgewehrt und die rumänische Mafia in Schach gehalten, von der sie sich natürlich gern mit Nutten und Koks versorgen lassen. Aus einer dieser wohlhabenden Familien stammt auch der junge Anwalt Francesco Visentin, dessen Verlobte Giovanna Barovier eine Woche vor der Hochzeit ermordet wird. Alles spricht für eine Eifersuchtstat und gegen ihn: Der Sex am Abend, der Tod in der Badewanne. Dass sie einen Geliebten hatte, was sie ihm, Francesco, offenbar hatte beichten wollen, belastet ihn nicht weniger als den ominösen Liebhaber. Francesco beginnt auf eigene Faust nachzuforschen, mehr aus gekränkter Eitelkeit als aus Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit.

Je tiefer Francesco in das verworrene Dickicht emotionaler Verstrickungen vordringt, um so deutlicher wird ihm und uns, dass Familie kein emotionaler oder biologischer Komplex ist, nicht einmal ein dysfunktionaler Neurosenzusammenhang, sondern ein komplexes ökonomisches System, für dessen Aufrechterhaltung und Absicherung man eine ganze Reihe Handlanger braucht: Ermittlungsrichter, Journalisten, Camorristi und - zur Förderung der internationalen Geschäftsbeziehungen - die alten Securitate-Leute. Der Nordosten, den Carlotto hier schildert, ist keine Region, die sich dank arbeitsamer Menschen zu einer der reichsten Industrieregionen Europas entwickelt hat, sondern der riesige Pool, in dem all die Milliarden, die die süditalienische oder rumänische Mafia mit Drogen- und Frauenhandel verdient haben, in respektable Geschäftsgewinne umgewandelt werden. Der Müll brennt in Neapel, im Nordosten gedeiht die Wohlanständigkeit.

"Wo die Zitronen blühen" ist der dritte Krimi, den der Tropen Verlag in einem neuen Anlauf, Massimo Carlotto auch in Deutschland bekannt zu machen, herausbringt. In Italien ist Carlotto einer der bekanntesten Krimi-Autoren und einer der berühmtesten Kriminalfälle: Carlotto war in seinen jungen Jahren Mitglied der linksextremen Lotta continua und des Mordes an einer Frau angeklagt, die er tot in seiner Wohnung gefunden hatte. Nach seiner Verurteilung floh er, der seine Unschuld beteuerte, über Frankreich nach Mexiko. Nach sechs Jahren stellte er sich den italienischen Behörden und verbrachte sieben Jahre im Gefängnis. In insgesamt elf Verfahren, an denen in einem Zeitraum von achtzehn Jahren achtzig Richter beteiligt waren und sich 96 Kilo Akten ansammelten, wurde das ursprüngliche Urteil kassiert und bestätigt, revidiert und wieder bestätigt, bis Carlotto schließlich vom Staatspräsidenten begnadigt wurde. Im Gefängnis begann er, sich mit seinen "Alligator"-Romanen, in denen er nur tatsächlich begangene Verbrechen beschrieb, zum führenden Noir-Autor Italiens hochzuschreiben.

Carlotto geht es in seinen Krimis um die Themen, mit denen sich Italiens Medien seiner Meinung nach nicht genug beschäftigen, in diesem Fall die Anmaßungen einer Patrizierschicht, die ganze Städte ihrem Privilegiensystem unterworfen hat. Tiefere Charakterzeichnung wird man bei ihm nicht finden, dafür durchaus die ein oder andere bourgeoise Charaktermaske. Und angesichts all der aufgebotenen Verkommenheit, ist "Wo die Zitronen blühen" auf zweihundert Seiten auch ganz schön zackig erzählt, übrigens zusammen mit dem Drehbuchautor Marco Videtta.

Ihm ist vielleicht auch die deutlich mildere Diktion zuzuschreiben als etwa in "Arrividerci, amore, ciao", in dem Carlotto die Geschichte eines Ex-Terroristen erzählt, der sich mit unbeschreiblich krimineller Energie den Weg zurück in die Gesellschaft mordet und dem der Leser aus der Ich-Perspektive folgt. Allerdings ist der so sanft in seine Privilegien gebettete Francesco kaum leichter zu ertragen. Fast aufrichtig entsetzt, dass seinem Vater so viel Neid und Missgunst entgegenschlägt, ruft er: "Papa war doch einfach der Beste."

Massimo Carlotto, Marco Videtta: "Wo die Zitronen blühen". Kriminalroman. Aus dem Italienischen von Judith Elze. Tropen Verlag, Stuttgart 2009, 18,90 Euro