Mord und Ratschlag

Justizirrtümer

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
10.09.2003. In Scott Turows "Das Gift der Gewissheit" kämpfen ein grauer Pflichtverteidiger, eine ehrgeizige Staatsanwältin und eine schöne Richterin um Liebe, Anerkennung und das Schicksal eines zum Tode Verurteilten.
Als zu Beginn des Jahres der scheidende Gouverneur von Illinois George Ryan vier zum Tode Verurteilte in die Freiheit entließ und sämtliche noch nicht vollstreckten Todesurteile in lebenslange Haftstrafen umwandelte, war das Echo enorm. Bis dahin war der Republikaner Ryan keineswegs als Liberaler aufgefallen, im Gegenteil. Zu seiner spektakulären Aktion hatte ihn eine eigens zur Untersuchung eingesetzte Kommission veranlasst, die zum Ergebnis kam, dass in einigen der von ihr gründlich nachrecherchierten Fälle nachweislich Unschuldige verurteilt worden waren. Das Rechtssystem in seinem gegenwärtigen Zustand, so lautete das Ergebnis, zu dem die Kommission gekommen war, kann nicht gewährleisten, dass fatale Irrtümer ausgeschlossen bleiben. In der Kommission, die - keineswegs grundsätzlich gegen die Todesstrafe eingestellt - nicht weniger als 85 Reformvorschläge ausarbeitete, saß einer der prominentesten Anwälte der Vereinigten Staaten. Berühmt geworden allerdings ist Scott Turow nicht als Anwalt, sondern als Autor von Romanen, als Meister eines Genres der Kriminalliteratur, das man auf den Begriff des Justizthrillers zu bringen versucht hat.

Im Falle Turows ist dieses Etikett, das für die Mehrzahl der Romane John Grishams wie geschaffen scheint, allerdings problematisch. Nie nämlich sind es die Thrilleraspekte, die ihn in erster Linie interessieren. Und selbst das Recht als solches, als Streit um Paragraphen, als Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung, als das strengen Verfahrensregeln unterworfene Hin und Her vor Gericht, ist bei ihm, obgleich er das alles präzise, ja spannend darzustellen versteht, vor allem der Schauplatz für anderes. Am Recht und im Dschungel der Paragraphen geht es ihm um die Menschen, die sich, als vermeintliche oder wirkliche Täter oder als Teil der Institution (oder als beides zugleich), verstrickt finden ins Gesetz und die ganz speziellen Regeln, die vor ihm gelten. Turow inszeniert Rechtsfälle als Momente, in denen den Beteiligten Schicksalhaftes widerfährt, dem sie sich, unterm Bann des Rechts, zu stellen haben. So sind all seine Romane sehr viel eher Charakterstudien als Thriller, bestehen aus Klärungsversuchen, die nicht zu Lösungen führen, sondern nur weitere Verstrickungen offenbaren.

Die höchst altmodische Darstellungsform, die Turow durchgehend wählt, und zwar bewusst, ist der traditionelle psychologische Sittenroman, wie ihn, etwa mit Dickens, der eines der erklärten Vorbilder ist, das 19. Jahrhundert entwickelt hat. Das heißt auch, dass Turows Werk nicht, wie in der Darstellung des Rechts von Kleists "Zerbrochnem Krug" bis zur großen Mehrheit der amerikanischen Gerichtsfilme üblich, als theatrale Inszenierung funktioniert, sondern in der genauesten perspektivischen Annäherung an die Figur, entweder in der Form der Ich-Erzählung oder in Gestalt eines Erzählers, der minuziös die Regungen und Erwägungen der Handelnden nach außen kehrt. All das gilt für den jüngsten wie alle bisherigen Romane Turows, seien sie auf wenige Beteiligte konzentriert wie "Die Gierigen und die Gerechten" von 1999 oder weit aufgefächerte Gesellschaftspanoramen wie sein bisher ambitioniertester und faszinierendster Roman "Das Gesetz der Väter" von 1996. Das jüngste Werk, das bei uns als "Das Gift der Gewissheit" erscheint, trägt im amerikanischen Original den viel schlagenderen Titel "Reversible Errors". Schlagender ist er, weil er schon ahnen lässt, dass es hier um jene Form im schlimmsten Fall irreversibler Fehler geht, mit denen Turow sich sowohl als Verteidiger wie als Mitglied der Ryan-Kommission beschäftigt hat. "Das Gift der Gewissheit" ist ein Roman über einen zum Tode Verurteilten.

Der allerdings, ein Kleinkrimineller von deutlich begrenztem intellektuellem Vermögen, ist nicht der Protagonist des Buches, so wenig wie es Turow um eine vordergründige Diskussion der Todesstrafe zu tun ist. Der Fall ist es vielmehr, der im Revisionsverfahren ein Figurenquartett zusammenführt, das durch dubioses Vorgehen in vergangenen Ermittlungen, durch eigene Verfehlungen, durch Ehrgeiz und den Kampf um Anerkennung und Liebe vor dem Gesetz wie privat in ein dichtes Beziehungsgeflecht verstrickt wird. Am Anfang steht, im Jahr 1991, ein bestialischer mehrfacher Mord; als Täter ermitteln der Polizist Larry Starczek und die Staatsanwältin Muriel Wynn, mit der Starczek eine Affäre hat, den Gelegenheitsverbrecher Rommy "Squirrel" Gandolph, der bisher nicht durch brutales Vorgehen aufgefallen ist, jedoch ein Geständnis ablegt. Zehn Jahre später kämpfen der Pflichtverteidiger Arthur Raven und seine Assistentin um Gandolphs letzte Chance; der Fall wird neu aufgerollt, Wynn steht inzwischen kurz vor der Wahl zur Bezirksstaatsanwältin von Turows fiktionalem, Chicago nachempfundenem Kindle County, kämpft somit auch um ihre Karriere. Längst perdu ist dagegen die Karriere Gillian Sullivans, die einst die Richterin war, die Gandolph verurteilte, darauf aber in einen spektakulären Bestechungsskandal verwickelt wurde und selbst mehrere Jahre im Gefängnis verbracht hat. Zwischen ihr, der vormals viel bewunderten Schönheit, und Arthur Raven, der grauen Maus, kommt es zur ganz unerwarteten privaten Annäherung.

Eine grauere Maus nämlich als Arthur Raven, einen schüchternen, eher hässlichen Mann, beruflich erfolgreich, aber ohne jeden Glamour, hat Turow noch in keinem seiner Romane vorgestellt und dem Leser ans Herz zu legen versucht - der Kontrast zur faszinierend schillernden Figur Robbie Feavers aus "Die Gierigen und die Gerechten" könnte kaum größer sein. Ein mutiger Zug, denkt man zunächst (und Turow ist oft viel mutiger als die altmodische Form und das Genre, dem man ihn zurechnet, vermuten lassen), ein Charakter, der zur Identifikation deshalb nicht taugt, weil er den meisten Lesern ähnlicher ist, als ihnen lieb sein dürfte. Leider aber hat Turow dieser Mut bald wieder verlassen. Raven wird zunächst aus dem Fokus gerückt, um den drei anderen Protagonisten, Wynn, Starczek und Sullivan, Platz zu machen. Abwechselnd kommen sie dann, einer nach dem anderen an die Reihe, werden, in durchaus bewährt subtiler Manier, vorgestellt und ausgeleuchtet. Recht bald aber beschleicht einen das Gefühl, dass hinter diesem Sinn für perspektivische Gerechtigkeit ein gewisses Desinteresse an Arthur Raven steckt, das durch die Abwechslung mit den anderen Figuren kompensiert werden soll. Allein, das Problem wiederholt sich bei jedem einzelnen von ihnen, denn jeder für sich kommt, schon gar in den Verflechtungen der durchs Vergangene wie Gegenwärtige streifenden Geschichte, am Ende zu kurz.

Fraglos ist die Verknüpfung von Plot und Charakteren in "Das Gift der Gewissheit" von höchster Kunstfertigkeit. Und nach wie vor lässt sich Turow bei keiner ideologischen, moralischen oder psychologischen Plattheit ertappen. Dass er ein Autor ist, der sich vor den Jonathan Franzens dieser Welt nicht zu verstecken braucht, kann man auch dem jüngsten Roman noch ablesen. Dennoch überwiegt die Enttäuschung, denn "Das Gift der Gewissheit" ist auf eine Weise gekonnt, die dem Handwerk näher steht als der Literatur. Es ist, als erstreckte sich die Abgewogenheit, die Turows Haltung zur Todesstrafe ausmacht, auch aufs Personal, ja auf den Zugriff des Erzählers im ganzen. Ein wenig schmeckt das nach der Geburt des Romans aus dem Geist einer Regierungskommission. Und was im wirklichen Leben erfreulich ist, muss der Literatur nicht unbedingt gut tun. So tendiert die symmetrische Quartett-Struktur der Figurenkonstellation dazu, Gewinne und Verluste wie auf zwei Seiten einer Waage zu verteilen.

Erstmals hat man in einem Turow-Roman das Gefühl, die Figuren blieben in den Plot gesperrt, der ihnen den Raum des Handelns vorgibt. Dabei bestand Turows große Stärke immer darin, vor keiner moralischen Komplizierung zurückzuschrecken, die Charaktere an Grenzen und Abgründe zu führen, die das Recht längst nicht mehr auf seine Begriffe zu bringen vermag - und in dieser Bewegung nicht nur alle Klischees weit hinter sich zu lassen, sondern auch die traditionelle Form des Erzählens auf sublime Art auszureizen und zugleich zu transzendieren. Die Handlung schien stets ein Resultat der Verstrickungen der Figur, nicht der erzählerischen Notwendigkeit, Fäden in korrekter Weise miteinander zu verknüpfen. "Das Gift der Gewissheit" aber scheint gelegentlich in Beschlag genommen von Plot-Notwendigkeiten, die den Figuren zu wenig Raum zum Atmen lassen. Inhaltlich korrespondiert dem ein Sinn für Ausgewogenheit, der von falscher Versöhnlichkeit nicht weit entfernt ist. Nicht die romantische Hoffnung wider alle Wahrscheinlichkeit, die Arthur Raven zuletzt gewährt wird, siedelt in der Nähe zum Kitsch, sondern eine fiktionale Welt, in der diese Hoffnung zum Bestandteil einer Gewinn-und-Verlust-Rechnung wird, die möglicherweise aufgeht.


Scott Turow: "Das Gift der Gewissheit". Roman. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Karl Blessing Verlag, München 2003, 538 Seiten, gebunden, 24,90 Euro