Mord und Ratschlag

Die Farbe von Kopfweh

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
26.08.2010. Louise Welsh zeichnet in ihrem Krimi "Das Alphabet der Knochen" ein wenig charmantes Bild vom Universitätskader. Selbst Kindermörder sehen besser aus. Jedediah Berry pflanzt uns das "Handbuch der Detektive" ins Unterbewusstsein.
Murray Watson lehrt Literaturwissenschaft an der Universität von Glasgow, er hat einen Doktortitel und eine feste Stelle, aber noch ist nicht entschieden, ob all die Kränkungen, die sein Ego in letzter Zeit wegstecken musste, seiner Karriere dienlich sein werden. Oder ob sie ihn im Kreis der Fachbereichsalkoholiker werden enden lassen, den er bisher nur sporadisch besucht hat. Privat läuft es auch nicht rund: Sein Verhältnis zur Frau des Dekans ist gerade aufgeflogen, aber die Dame hätte ihm auch ohne peinliche Entdeckung den Laufpass gegeben. Und seine Magnifizienz hatte Murray eh nie ernst genommen, weder als Person noch als Wissenschaftler.

Murrays Leidenschaft gehört Archie Lunan, einem unbekannten, vielleicht auch unbedeutenden Hippie-Dichter der siebziger Jahre. Das Bild des jungen schlaksigen Mannes hatte Murray in den Bann geschlagen, auch wenn der Antiquar lästerte, der sehe aus wie ein Kindermörder. Nach einem kurzen, heftigen Leben voller Sex, Alkohol und Drogen hatte sich das Jungtalent das Leben genommen, mehr als einen Gedichtband sollte es von ihm nicht geben. Über diesen Archie Lunan nun will Murray eine Biografie schreiben, vielleicht entdeckt er in den Archiven doch noch Nennenswertes und wird berühmt. Doch selbst bei Archies alten Weggefährten erntet er nur Spott für sein Vorhaben: "Ein großes dickes Buch über einen kleinen, dünnen Dichter."

Aber natürlich wird Murray bei seinen Nachforschungen nicht nur auf die kümmerlichen Notate in der National Library stoßen, sondern auf die ganze Tragik eines verlorenen Lebens, auf enttäuschte Liebe, Drogenexzesse und verleugnete Schuld.

Die Schottin Louise Welsh ist seit ihrem düsteren Debüt "Dunkelkammer" und ihrem Christopher-Marlowe-Thriller "Tambourlaine muss sterben" auf den dunkel-schillernden Grenzbereich abonniert, in dem Begierde, Gewalt und literarische Leidenschaft aufeinanderstoßen. Im "Alphabet der Knochen" lässt sie sich Zeit. Bevor sie Murray in die Sumpflandschaften der Insel Lismore schickt, die Archie Lunan und seine Kumpane einst zum "Zentrum für Poesie und Orgiastisches" machen wollten, lotet sie recht maliziös die Untiefen des akademischen Betriebs aus. Wozu sind Menschen fähig, die ihr Leben der Literatur verschreiben wollten, aber im Unibetrieb stranden? Wozu ein Dekan, der seine Talare maßschneidern lässt? Wozu Kollegen, die anderen sehr verständnisvoll und sehr gern beim Scheitern zusehen. Und wozu all die anderen Zyniker, Karrieristen und Kantinenschwadronierer.

Mitunter überzeichnet Welsh, mitunter sind ihre Pointen auch zu naheliegend. Geschickt arbeitet sie aber dann, wenn es darum geht, die biografischen und kriminalistischen Nachforschungen ineinander übergehen zu lassen und in ihr Gegenteil zu verkehren. Und am Ende wird sich herausstellen, wie einnehmend ein Kindermörder wirklich aussieht und dass die Arbeit des Biografen gar nicht der eines Detektivs gleicht. Denn bei Literaturwissenschaftlern steht mitunter am Anfang die Aufklärung und am Ende der Wille zu töten.

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In Christopher Nolans SciFi-Film "Inception" soll ein Team, das sonst nur Wirtschaftsgeheimnisse aus den Träumen gegnerischer Unternehmer raubt, etwas unmögliches versuchen: Es soll einem Unternehmenserben eine Idee einpflanzen. Leonardo DiCaprio und sein Alphateam von Extraktoren müssen sich dafür zweieinhalb Stunden lang durch vier höchst aufwändig konstruierte Traumebenen kämpfen. Erstaunlicherweise kommt bei Jedediah Berry genau die gleiche versponnene Idee vor, auch hier wird - allerdings gleich einer ganzen Stadt - eine Idee ins Unterbewusstsein eingepflanzt. Von all dem Ernst, der Verbissenheit und der dramaturgischen Akkuratesse, mit der Nolan seine Traumwelten erst konstruiert, um ihre inneren Tresore dann vom Panzerknacker-Kommando Sigmund Freud öffnen zu lassen, ist bei Berry nichts zu spüren. Die Circe Cleo Greenwood bewerkstelligt dies sanft singend, und Berry flicht dies auch nur ganz beiläufig in seine Geschichte mit ein, in der dabei unzählige Traumebenen durchquert werden, ohne dass man der Realität näher kommt. Eher bewegt man sich wie auf einer unendlichen Treppe stetig vorwärts und gerät mit jedem Aufwachen in einen neuen Traum.

Charles Unwin ist Schreiber in einer großen Detektivagentur und trägt seinen Namen nicht ganz zu Unrecht. Zu den größten Erfolgen seines Lebens zählt eine ausgefeilte Technik, im Regen mit Schirm Fahrrad zu fahren. Zugegeben eine nützliche Fertigkeit, denn in der namenlosen Stadt, in der diese Geschichte spielt, regnet es immer. Obwohl die Angestellten der Agentur Bowler-Hüte tragen, sollte man sich eher eine amerikanische Hafenstadt wie New York oder Baltimore vorstellen als London, vielleicht auch Buenos Aires. Eines Morgens ist der Stardetektiv der Agentur, Travis Sivart, für den Schreiber Unwin in den vergangenen zwanzig Jahren ebenso beflissen wie ergeben die Berichte verfasst hat, verschwunden. Sein Aufpasser ist ermordet worden, und der unglückselige Unwin muss gegen jeden eigenen Antrieb als Detektiv einspringen.

Ihm zur Seite stehen dabei ein vergesslicher Museumswächter, seine falsche Assistentin Emily Doppel und das Handbuch für Detektive, mit dem es seine sehr mysteriöse Bewandtnis hat, das ihn aber in achtzehn Kapiteln mit dem Grundwissen über Indizien, Verdächtige, Verhöre, etcetera versorgt. Über Spuren lernt er etwa: "Folgen Sie ihnen, damit sie nicht Ihnen folgen". Über das Bluffen den immer anwendbaren Grundsatz: "Beantworten Sie Fragen mit Gegenfragen." Natürlich hat er auch einen großen Gegenspieler, denn - auch das erfährt er aus dem Handbuch - es gibt nichts Besseres, um sich selbst zu verstehen.

Der Erzfeind ist Enoch Hoffmann, König der Unterwelt. Er hat nicht nur Detektiv Sivart in seine Gewalt gebracht, sondern die halbe Stadt in einen Dämmerschlaf versetzt und ... Tatsächlich wird es von hier an unmöglich, noch einen halbwegs logischen Satz über den weiteren Verlauf der Geschichte zu schreiben. Ein Rolle spielen jedenfalls die schurkischen Rook-Zwillinge, ein Wanderzirkus, eine Riesin, ein Ungeheuer, das die Farbe von Kopfweh hat, und eine rätselhafte Frau im karierten Regenmantel, der Unwin auf den ersten Blick verfällt. Von einer Unwahrscheinlichkeit stolpert der arme Unwin in die nächste. Er weiß nicht, wen er sucht und warum, er will eigentlich nur seinen alten Posten als Schreiber zurück.

Ohne dass Unwin viel dafür tut, stellt sich bald heraus, dass all die sensationellen Fälle, die der Superdetektiv Travis gelöst haben soll - "Das älteste Mordopfer der Welt", "Die drei Tode des Colonel Baker" oder ganz wichtig: Der Fall vom "Mann, der den elften November stahl" - entweder nicht so sensationell oder nicht gelöst waren. Außerdem tun sich an der Spitze der Agentur ausgesprochen zweifelhafte Dinge und auch in ihren Kellern.

Berry bedient sich für seine Geschichte nach Herzenslust und Baukastenprinzip aus dem Fundus der Krimigeschichte. Jede Szene, jeder Dialog und jede Wendung des Plots sind Standardsituationen. Vom großmäuligen Detektiv über die falsche Schönheit bis zum Putzmann entstammt das Personal dem festen Ensemble des Kriminalromans und sie sagen Sätze wie: "Das Schlimmste kann passieren, und das andere Schlimme auch noch." Dieses Spiel mit dem Vorhandenen, die Überblendungen von Traum und Realität haben Berry in der Verlagswerbung die Referenzgrößen Borges und Kafka eingebracht. Abgesehen davon, wie hoch gegriffen der Vergleich ist, scheint auch fraglich, ob die beiden Matadore der modernen Literatur jemals solche Retro-Fiction geschrieben hätten. Trotzdem hat Berry hier keinen Professorenkrimi vorgelegt, bei dem derjenige gewinnt, der die meisten Anspielungen und Zitate erkennt. Dafür erzählt er seine Geschichte viel zu unbekümmert, lässt hier und da mal einen Faden fallen oder ändert komplett die Richtung. Und wenn einem die Geschichte anfangs etwas papieren erscheint, dann liegt das daran, dass nicht einmal ihr Held selbst weiß, ob er in seine Akten gefallen ist oder seine Akten in sein Leben.

Louise Welsh: Das Alphabet der Knochen. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Antje Kunstmann Verlag, München 2010, gebunden, 432 Seiten, 22 Euro.

Jedediah Berry: Handbuch für Detektive. Roman. Aus dem Amerikanischen von Judith Schwab. C. H. Beck Verlag, München 2010, gebunden, 383 Seiten, 19,95 Euro.