Mord und Ratschlag

Identitätsdiebstahl

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
14.09.2005. Jonathan Smith lässt den Abstieg seines Helden mit absurden, aber durchaus karrierebedrohenden Anschludigungen beginnen. Jason Starr gönnt seinem Helden den beruflichen Erfolg, das private Desaster, das er erleidet, ist schlimm genug. Am Ende stehen beide ihrem eigenen asozialen Selbst gegenüber.
Alles beginnt harmlos: Mit einem Gespräch in der Bar. Hinterher aber ist die Brieftasche verschwunden, mit ihr das Geld und das Foto der geliebten Schwester. Diesem Foto vor allem trauert David Miller hinterher, denn seine Schwester ist gestorben, vor einem Jahr an Krebs und mit ihr verband ihn eine enge Beziehung. Um das Mindeste zu sagen, denn in kursiv gesetzten Passagen wird mehr als nur angedeutet, dass Bruder und Schwester sich schlugen und wieder vertrugen in fast schon oder wirklich inzestuöser Manier.

Miller, der in der Verzweiflung über den Tod der Schwester seinen Job beim Wall Street Journal verloren hat, ist froh über den Anruf einer Frau, der ihm mitteilt, sie habe die Brieftasche gefunden. Er eilt zu ihr, sie will viel Geld, sie ist eine Prostituierte und ein Junkie. Der Zuhälter der Frau attackiert David, der verteidigt sich, gerät dabei in Raserei und tötet den Mann. Weil er weiß, dass da ein Moment im Spiel war, das über jede Notwehr hinausgeht, lässt er die Polizei außen vor und will die Leiche im nächsten Park entsorgen. Natürlich wird er sie nicht wieder los, vielmehr: Beim Versuch, sich ihrer zu entledigen, verstrickt er sich immer weiter ins Unheil am finsteren Ende von New York, in das er aus den sicheren Gegenden Manhattans reist wie in eine fremde Zone.

Diese Zone aber weitet sich aus, ergreift Besitz von seinem Alltag. Die Ironie des Schicksals will es, dass er, nun Redakteur bei einer kleineren Wirtschaftszeitung, befördert wird, der berufliche Erfolg kontrastiert so mit dem privaten Desaster. Und ein weiterer Abgrund tut sich auf, in nächster Nähe, gerade beim Versuch, etwas Ordnung ins Chaos zu bringen. David Millers Leben wird zusehends zu einer Reise durch die Hölle.

Jason Starr, für diesen Roman soeben mit dem angesehenen Anthony Award ausgezeichnet, erzählt immer ähnliche Geschichten. Es geht um mehr oder weniger erfolgreiche Männer, denen ihr Leben entgleitet. Sie geraten ins Straucheln, es muss gar nichts Großes passieren, und der Boden, auf dem sie sich zuvor wie selbstverständlich bewegten, bricht ein. Der erfolgreiche Gang verwandelt sich in ein Stolpern und Stürzen und es führt kein Weg mehr zurück in die Sicherheiten, die das Leben zuvor stabilisierten.

Es gibt bei Starr stets eine verführerisch schlichte moralistische Lesart; folgte man ihr, dann ginge es um erfolgshungrige Männer, die in der Gier nach Geld und Macht aus eigener Schuld sich selbst verlieren. Dagegen steht, dass der Abgrund, in den sie geraten, ganz außer Verhältnis steht zu ihrer Schuld und ihrem Versagen. Dagegen steht auch die wirkungsvolle Verschleierungstechnik des Perspektivischen. Denn Jason Starrs Scheiternde erzählen von ihrem Verderben in der ersten Person. Der Leser steht ihrem Weg in die Hölle so mit einem unüberwindlichen Mangel an Distanz gegenüber. Er teilt nicht nur das Grauen, sondern zu einem guten Teil auch die Ahnungslosigkeit der Figuren, die es ereilt. Es ist kein Spaß, Jason Starr zu lesen, aber darin liegt gerade die Qualität seiner Bücher.

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Die Geschichte, die Jonathan Smith in "Fenster zur Nacht" erzählt, ist der von "Twisted City" bei allen Milieuunterschieden nicht unähnlich. Patrick Balfour, der höchst erfolgreiche Leiter einer Privatschule in der besten Gegend Londons, nebenbei noch gefeierter Romanautor, sieht sich mit absurden, aber karrierebedrohenden Anschuldigungen konfrontiert. Er habe an einer Tankstelle sein Benzin nicht bezahlt, die Überwachungskamera zeigt nicht nur sein Auto, sondern auch ihn selbst. Viel schlimmer: Es tauchen pornografische Fotos mit einem Jungen auf, die offenbar in seiner Wohnung, auf seiner Couch, geschossen wurden.

Obgleich er als Nebenfigur einen walisischen Kommissar einführt, hat Smith mit Ermittlungsarbeit wenig im Sinn - und auch mit den Thrills, die die Genrezuordnung "Psychothriller" verspricht, recht eigentlich nichts. Es geht ihm vielmehr um das Porträt des Lehrers als Opfer eines Identitätsdiebstahls, darum auch, wie sehr einer, und sei er noch so überzeugt von sich und noch so arriviert, vom Bild abhängt, das die Welt sich von ihm macht. Geduldig und stets sehr nah an der Psyche seines Helden entwirft Smith daher Figur um Figur den sozialen Raum, in dem Balfour sich bewegt. Die Ehe ist, nachdem sein Verhältnis mit der Lektorin seiner Bücher aufgeflogen ist, halb zerrüttet, die Tochter geht zu der Schule, die er leitet, er sieht sie dennoch kaum. Seine Mutter liegt im Sterben, er sieht zu und kann nichts tun. Vorgestellt werden die Feinde, die er sich vor allem mit seiner Favorisierung des Musischen gemacht hat. Zudem holt ihn, und in seinen Reminiszenzen uns, seine Vergangenheit ein, das Studium in Cambridge, seine erste Liebe. Der Roman gipfelt in einer Theateraufführung an der Schule, die schließlich enthüllt, wer hinter allem steckt.

Es gehört zu den verblüffenden Effekten der Techniken des Erzählens - und im Vergleich der Romane von Starr und Smith fällt das auf -, dass man einer Figur mitunter aus der Perspektive der dritten Person näher kommt als einem Ich-Erzähler. Smith will seinem Helden unter die Haut und tatsächlich gelangt er dahin, mit viel indirekter Rede, oder gar mit der ungefilterten Wiedergabe seiner Gedanken. Wir folgen ihm in fremde Zonen jenseits der mit der Mitwelt geteilten Realität, dahin, wo Angst, Furcht, die Asozialität des eigenen Selbst einem gegenüberstehen, ohne den Schutz, den die Konvention sonst bietet. Patrick Balfour wird einem nicht unbedingt sympathisch, aber doch sehr begreiflich, weil er uns näher kommt, als wir wohl möchten. Es fehlt uns allen nicht viel, um verrückt zu werden, sagt dieser Roman und führt es vor, kaum weniger gnadenlos als der von Jason Starr. Der Boden unter unseren Füßen kann sich jederzeit auftun, auch wenn wir es nicht glauben, solange wir auf ihm gehen, als verstünde sich von selbst, dass er da ist.


Jason Starr: "Twisted City". Roman. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 330 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

Jonathan Smith: "Fenster zur Nacht". Roman. Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt. dtv, München 2005. 380 Seiten, kartoniert, 15 Euro