Mord und Ratschlag

Finsteres Finnland

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
13.11.2002. Die Krimikolumne. Heute: Dreitausend Backsteine an die Lehikonens, bitte! In Matti Y. Joensuu Roman "Blinder Neid" muss der finnische Kommissar Harjunpää einen sozialen Kleinkrieg schlichten. Von Michael Schweizer
Matti Y. Joensuus "Blinder Neid" (1993) ist die Geschichte eines sozialen Kleinkriegs. Auf der einen Seite stehen Jari und Sanna Lehikonen. Wohlhabend geboren, machen sie als IT-Experte beziehungsweise in der Modebranche Karriere, um noch reicher zu werden. Jeder nutzt den anderen als Statussymbol. Auf der Gegenseite strampeln sich der Wachmann Dödö und der Zeitungsausträger Anttu ab. Dödö wird seinen miesen Job verlieren, er, seine Freundin Sinikka und die drei Kinder werden keine Wohnung mehr haben. Für sein unerträgliches Leben will er sich an Jari rächen, durch betrügerisches Bestellen: Eines Abends bekommen die Lehikonens fünf Gefriertruhen geliefert, am nächsten Tag dreitausend Backsteine und so weiter. Als der Kampf eskaliert, wirft Kommissar Harjunpää sich vor, nicht genug unternommen zu haben. Das tut er auch in einem anderen Roman Joensuus, "Der einsame Mörder" (1985). Hier geht es um Heiratsschwindel mit Todesfolge. Torsten nimmt seriell einsame Frauen aus. Das gelingt ihm, so die bittere Pointe, weil er auf seine zynische Art sensibel und einfühlsam ist, sich ungewöhnlich gut in andere hineinversetzen kann.

Als typischer Vertreter des skandinavischen Krimis versucht Joensuu, Gewalt und Delinquenz aus einer sehr kritisch gezeichneten Gesellschaft zu erklären. Vom britischen Landhaus-Detektivroman, dessen wichtigste Frage lautet: Wer war's, ist der Finne weit entfernt. Bei ihm weiß der Leser schnell, wer's war, und spannend ist allein, ob ihm die Polizei rechtzeitig draufkommt. Den Autor interessiert, warum Menschen Verbrechen verüben, mit denen sie in der Regel ihre Lage noch verschlechtern. Antworten: weil es ihnen schon vorher schlecht geht; weil es immer schwieriger wird, sich auf menschenwürdige Art zu ernähren, und immer einfacher, auch mit regulärer Arbeit arm zu sein; weil die Leute sich unter diesem Druck als Waren behandeln. Die Probleme reichen weit in die Mittelschicht hinein. Harjunpääs Tochter wird in der Schule ausgelacht, weil sie eine selbst genähte Hose trägt. Seine Kollegin Onerva kann das Fahrrad nicht bezahlen, das ihr Sohn heimlich gekauft hat. Joensuus Romane sind traurige Studien darüber, wie wichtig das Geld ist.

Viel mehr als von der Gesellschaft hält der Autor vom Menschen. Das Elend kommt für ihn direkt aus den Verhältnissen, es ist erzeugt und ließe sich abschaffen. Noch die schäbigsten Schweine spüren, was es mit Achtung und Liebe auf sich haben könnte, mehr noch: Sie sehnen sich danach. Sie kommen bloß nicht dazu.

Für ausgetüftelte Meisterverbrechen in der Agatha-Christie-Schule ist in diesen Milieus kein Raum. Niemand könnte sich den Luxus leisten, so etwas in Ruhe zu überlegen. Gewalt entsteht, indem Gefährdete, die wirr ums Überleben kämpfen, irgendwie zusammenprallen. In beiden Büchern Joensuus gibt es - gegen den allzu frei übersetzten Titel des früheren - keinen einzigen Mord. Menschen sterben an Verwahrlosung, Isolation und blöden Zufällen, teils auch am falsch ausgelebten Wunsch nach Gemeinschaft. Insofern ist es eine inhaltlich begründete Form, dass der Autor in beiden Romanen, ausgeprägter in "Der einsame Mörder", mehrere Geschichten nebeneinander erzählt, die kriminalistisch nichts miteinander zu tun haben, aber konfusionsverstärkend ineinander hineinfransen. Eine einzige Geschichte mit klaren Rändern kann es in Joensuus unselig formloser Welt nicht geben.

Der 1948 geborene Matti Joensuu war Kriminalpolizist in einer Abteilung für Gewaltverbrechen, wurde Journalist und ging in den Polizeidienst zurück. So weiß er viele Details anzubringen. Man erfährt, was der Karotissinus-Nerv ist und wie leicht man aus finnischer Untersuchungshaft fliehen kann. Viel lernt man über das Innenleben des sozialen Körpers Polizei: über Beförderung stur nach Dienstalter, Alkoholismus, deprimierende Gehälter, über mutmaßliche Mörder, die man nicht verfolgen kann, weil eine höhere Stelle den Abbau von Überstunden anordnet, über Bedrohte, die man nicht rechtzeitig zu schützen vermag, weil kein Auto frei ist. Aber auch über Zärtlichkeit im Dienst.

Joensuus nicht ganz neue Bücher sind auf Deutsch erst dieses und letztes Jahr erschienen. Skandinavische Krimis sind immer noch so in Mode, dass Verlage, die sich wie btb darauf spezialisiert haben, auch auf Autoren zurückgreifen, die zunächst übersehen oder abgelehnt wurden. Joensuu war schon in "Der einsame Mörder" sehr gut darin, Erzählstränge handlungstechnisch zu trennen, aber thematisch und leitmotivisch zu verbinden. In den acht Jahren bis "Blinder Neid" hat er auch noch Humor entwickelt. Das ist eine zusätzliche Qualität seiner Romane. Seine Gesellschaftsdiagnose hat sich deshalb nicht aufgehellt.


Matti Y. Joensuu: "Blinder Neid". Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. btb, München 2002, 253 Seiten, Taschenbuch, 9 Euro

ders.: "Der einsame Mörder". Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. btb, München 2001, 219 Seiten, Taschenbuch, 8,50 Euro
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