Mord und Ratschlag

Lust und Tod

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
05.05.2004. Bei Louise Welsh lassen sich die Menschen von ihren Begierden ruinieren oder ruinieren andere. Ihr Thriller "Dunkelkammer" führt in die verwahrlosten, dreckigen, brutalen Winkel von Glasgow und ist dabei doch höchst fein gesponnen.
Rilke ist 43, schwul, grau und arbeitet seit 25 Jahren für das nicht sonderlich florierende Glasgower Auktionshaus Bowery. Die alte, resolute Madeleine McKindless erteilt ihm den Auftrag des Jahres: Binnen einer Woche soll er das Haus ihres verstorbenes Bruders Roddy räumen und alles versteigern - außer dem, was er in der ausgebauten Dachkammer findet, das muss er verbrennen. Das Haus steckt voller Kostbarkeiten, Bowery wäre saniert. In der Dachkammer entdeckt Rilke eine wertvolle Sammlung pornografischer Bücher, Schwerpunkt Sadismus und Nekrophilie, und entsetzliche alte Fotos, auf denen eine Frau mit einem Messer getötet wird. Sind die Fotos echt, war McKindness ein Mörder? Rilke fragt Spezialisten, die sich mit so etwas auskennen, lässt sich weiterreichen und kommt mit Leuten zusammen, von denen man einige aus gesundheitlichen Gründen besser nicht kennen sollte: Buchmacher, dealende Schwule, Männer in Frauenkleidern, Antiquare, die unter dem Ladentisch illegale Pornografie verkaufen, Zuhälter, Menschenhändler. Für Rilke und einige Menschen, die er mag, zum Beispiel seine etwa gleichaltrige Chefin Rose Bowery, den Polizeiinspektor James Anderson und die junge Anne-Marie, die sich für Geld von seltsamen Männern fotografieren lässt, wird es gefährlich.

Das Thema, das die verschiedenen Milieus in Louise Welshs erstem Roman "Dunkelkammer" (original "The Cutting Room", 2002) zusammenhält, ist das Begehren. Die meisten Menschen tun das wenigste von dem, was sie sexuell fantasieren. Ihre Dunkelkammer bleibt in ihrem Kopf, und damit kommen sie zurecht. Manche leben mit zwei Kindern und zwei Autos in einem grünen Vorort. Andere würden diese "Langeweile, Langeweile, Langeweile" nicht aushalten. Sie finden ungepflegtes Glück, oder sie lassen sich von ihren Begierden ruinieren oder ruinieren andere. Auf diese Leute, und auf solche, die zwischen beiden Welten herumstolpern, konzentriert sich der Roman. Anne-Marie weint, weil es sie erregt hat, für einen zahlenden Mann als Leiche zu posieren. Und Rilke räsoniert: "Der Liebe wegen wurden Vermögen verschmäht, wurden aus Helden Schurken und aus Wüstlingen Helden. Die Liebe hat verdorben, geheilt, entartet und entstellt. Sie ist die Heilung, die Melodie, das Gift und der Schmerz. Der Appetit, das Gegenmittel, das Fieber und die Würze. Liebe tötet. Liebe heilt."

Rilke gehört nicht zur geordneten, geschweige denn zur guten Gesellschaft. Dazu müsste er aufhören, im Park und auf Klos mit wildfremden Männern zu vögeln, und er müsste weniger Drogen zu Hause haben. Das Gesetz ist ihm nicht wichtig. Aber der Anstand. Das, was man auf keinen Fall tun darf, tut er nicht. So wird er zum Detektiv: "Aber sie war jemand, und ich kann sie nicht einfach da liegen lassen", sagt er über die vielleicht tote Frau auf dem alten Foto. Hier hört die Gier auf, auch die Flatterhaftigkeit, und es beginnt ein zwischenmenschlicher Common sense.

Nicht jede Kneipe, jede Auktion, jedes schummrige Antiquariat, in die Louise Welsh den Leser führt, würde gebraucht, um den Plot weiterzutreiben und zu klären, ob McKindness ein Mörder war. Viele Szenen lassen sich auch als Reportage lesen, wären genauso interessant, wenn sie nicht zu einem Thriller gehörten. "Dunkelkammer" ist ein Reiseführer durch das verwahrloste, schmutzige, kriminelle Glasgow, allgemeiner eine Studie über den Menschen im ungedämpften Kapitalismus. Ein reiches Buch: Manche Randfigur, deren Leben auf zwei, drei Seiten erzählt wird und die dann nie mehr auftritt, hätte anderen Autoren für einen eigenen Roman gereicht. Louise Welsh weiß, dass alles, was man sich in den wildesten Phantasien ausmalt, irgendwo tatsächlich geschieht, und dass es manchmal erstaunlich gut ausgeht. Vielleicht hat Rilke ja Recht: "Ich glaube, dass es einige üble Individuen gibt, aber auch, dass die meisten Menschen sich alle Mühe geben und eben jeder mal Mist baut."

Geschrieben und komponiert ist das Ganze sehr fein. Louise Welsh erklärt alles nur einmal, das ist in Krimis selten. Die gewaltige Pointe hätte man kommen sehen können. Man blättert zurück und bewundert, wie geschickt die Autorin des Rätsels Lösung vorbereitet hat: Die entscheidenden Details hat sie offen ausgebreitet, aber so, dass man es nicht gemerkt hat. Die Dialoge sind schön britisch: "'Würde mich nicht wundern, wenn sie in der Kiste zurückkäme.' 'So ist's richtig, Jimmy, immer positiv denken.'"

Louise Welsh wurde 1965 in London geboren, studierte Geschichte und später Creative Writing, arbeitete acht Jahre lang in einem Antiquariat und lebt in Glasgow. Diese Biografie und den eingängigen Namen hielt ich zunächst für einen Fake. Der kühle Blick auf Obsession und Perversion, auf dem "Dunkelkammer" beruht, kam mir männlich vor. Das Buch erinnert menschenbildlich, erzähltechnisch und teilweise thematisch so stark an Ian Rankins "Die Tore der Finsternis" ("Resurrection Men", 2001), dass die beiden Romane an nicht wenigen Stellen den Eindruck erwecken, miteinander zu korrespondieren. Beispielsweise läuft in "Dunkelkammer" zweimal ein "Edinburgh Iain" durchs Bild, der, sonst funktionslos, nur dafür da zu sein scheint, auf Rankin und den Schauplatz seiner Romane um Inspector John Rebus anzuspielen. Die Liste ähnlicher Auffälligkeiten ist lang. Ich forschte also nach, ob Rankin sich vielleicht Louise Welsh genannt hat, weil er Romane ohne Rebus unter einem anderen Namen veröffentlichen wollte. Aber Ergebnis: Mrs. Louise Welsh heißt wirklich so. Doch eine Frage ist dann immer noch offen: All diese Milieus, in die eine Frau nicht hineinkommt und deren Beschreibung so kundig wirkt - woher kennt Welsh die?


Louise Welsh: "Dunkelkammer". Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Verlag Antje Kunstmann, München 2004, 302 Seiten, gebunden, 19,90 Euro ()

Links zu Louise Welsh:
2002 schrieb sie im Guardian einen Artikel über Berlin.