Mord und Ratschlag

Ehrliche Grausamkeit

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
09.10.2013. In "Unter dem Auge Gottes" jagt Jerome Charyn seinen Bürgermeister-Cop Isaac Sidel durch New Yorker Häuserschluchten und amerikanische Mythen bis an die texanische Frontier. George V. Higgins erzählt in seinem Klassiker "Ich töte lieber sanft" von 1974 das Drama der Bostoner Unterwelt.
Fünf Jahre hat sich Jerome Charyn Zeit gelassen mit der Fortsetzung seiner Saga um Isaac Sidel, den König von New York, nun beschert er mit "Unter dem Auge Gottes" einen recht programmatischen Auftakt für Thomas Wörtches Reihe "Penser Pulp" im anspruchsvollen Schweizer Diaphanes Verlag: Edelnoir für die kritische Intelligenz.

Während also in Wirklichkeit seit dem letzten Roman "Citizen Sidel" eine halbe Ewigkeit vergangen ist, waren es in der erzählten Zeit nur wenige Augenblicke. Wir schreiben noch immer die achtziger Jahre, und Sidel, der Mann mit der Glock und allseits geliebter Bürgermeister von New York, ist gerade im Gefolge des Baseball-Zaren Michael J. Storm zum Vizepräsidenten gewählt worden und hat noch alle Hände voll zu tun. Denn sein Kompagnon erweist sich als präsidialer Fehltritt, und so muss Sidel nicht nur New York regieren und die Stadt vor den Schurken bewahren, sondern auch schneller als ihm lieb ist die nächste Karrierestufe nehmen und Führer der westlichen Welt werden. Wobei ihm wohlgemerkt niemals diplomatisches Geschick oder taktische Finesse den Aufstieg erleichtern, sondern nur seine Kanone und die "ehrliche Grausamkeit".

Mit fiebriger Energie jagt Charyn seinen Helden durch die Straßen und Mythen New Yorks, reiht atemlos eine Szene an die andere und schraubt dabei seine wahnwitzigen Konstruktionen in artistische Höhen. Charyn ist in den Mean Streets der Bronx aufgewachsen, unterrichtete Film in Paris und New York und veröffentlichte zuletzt "The Secret Life of Emily Dickinson". Der Mann ist mit allen metafiktionalen Wassern gewaschen und schreibt die amerikanische Geschichte als eine poetische Geschichte des Verbrechens.

Natürlich huldigt Charyn auch diesmal vor allem der Macht und der Herrlichkeit Manhattans, doch muss Sidel die Stadt verlassen und in Texas für die Demokraten gut Wetter machen. Erwartungsgemäß kommt er in dem Land, in dem alle über zehn eine Waffe tragen und für ein gutes Steak 200 Meilen fahren, mit seiner Rede über das Elend in den Schulen und Waffen in Kinderhänden nicht sonderlich gut an. Im berühmten Viehzüchter-Hotel Menger in San Antonio wird prompt ein Anschlag auf ihn verübt, dessen Spur zu einem Colonel der Armee führt, einem verrückten Psychiater aus Fort Sam Houston, wo schon Geronimo und andere Führer der Apachen gefangen gehalten wurden.

Der Anschlag geht für Sidel glimpflicher aus als die anschließende Pressekonferenz: "'Wer ist für Sie der größte Held, Isaac?' 'AR', antwortete er ohne das geringste Zögern. 'AR? Ist er im Alamo gestorben?' 'Nee-nee. Er war Spieler, der König des Verbrechens, Arnold Rothstein.'" Gangstermythen kollidieren brachial mit Westernlegenden: Die texanischen Ölbarone schließen sich mit den New Yorker Fürsten der Unterwelt zusammen. Gemeinsam wollen sie sich die Bronx unter den Nagel reißen, das Pentagon hat schon Pioniere und Landvermesser geschickt, die jene unwirtliche Gegend vermessen wollen, die von den New Yorkern Stadtbeamten nur "Ost-Berlin" genannt wird. Der Cross Bronx Expressway soll abgerissen, die abgebrannte Grundstücke geräumt, eine unterirdische Autobahn gebaut und Einkaufszentren hochgezogen werden, soweit das Auge reicht.

Ausgeheckt hat den Plan der Mobster David Pearl, und mit ihm wird das legendäre Ansonia-Hotel, ein prächtiger Jugendstilbau auf der Upper West Side, zum Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt der Geschichte: Selbst Sidel schlägt hier seine politischen Zelte auf. In der dreizehnten Etage hält sich Pearl eine glamouröse Geliebte, doch er selbst lebt als steinreicher Messie in einem Labyrinth aus Kartons, Büchern und Zeitungen. Er wird Sidels großer Gegenspieler, denn dieser Bürgermeister will nicht die Kleingangster aus Manhattan vertreiben, sondern die großen Ganoven aus der Bronx fernzuhalten. Die beiden sind allerdings nicht nur durch den Kampf um die Bronx aneinandergekettet, sondern auch durch eine gemeinsame Biografie, die gemeinsame Liebe zur schönen Inez und ihre Bewunderung für den großen Arnold Rothstein.

Rothstein war der Bankier der New Yorker Unterwelt, Mastermind des amerikanischen Verbrechens, Pionier des Big Business. Vor ihm gab es kleine Gauner, Ganoven und Taschendiebe, seit Rothstein gibt es das Organisierte Verbrechen. Er führte das größte Spiel-und Wettimperium Amerikas auf und kontrollierte Casinos, Rennbahnen und weite Teile des New Yorker Alkoholschmuggels. Meyer Lansky, Legs Diamond und Frank Costello sind bei ihm in die Schule gegangen. In seinem wunderbaren Kompendium berühmter jüdischer Gangster, "But He Was Good to His Mother", behauptet Robert Rockaway, dass sich Lucky Luciano sogar von Rothstein hat Manieren beibringen lassen: "Wenn Arnold länger gelebt hätte, wäre ich noch richtig elegant geworden."

Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. Penser Pulp bei Diaphanes, Zürich 2013, 288 Seiten, 16,95 Euro


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George V Higgins war lange Zeit als Staatsanwalt für die Verfolgung der Organisierten Kriminalität in Boston zuständig, später verteidigte er als Anwalt solch illustre Angeklagte wie den Black Panther Eldridge Cleaver und den FBI-Mann und Watergate-Drahtzieher Gordon Libby. Er ist es also gewöhnt, dass vor Gericht das gesprochene Wort über das Verbrechen entscheidet. Und er weiß, wie man Leute ins Kreuzverhör nimmt, sie in die Enge treibt, wie man ihre Schwachstelle herausfindet, und wie man den Richter, die Jury und den Gegner genau da hin bringt, wo man ihn haben will.

Meistens schreiben solch wortgewaltige Ex-Anwälte Justizthriller, in denen sie ihr rhetorisches Geschick und ihre juristische Kunstfertigkeit über Hunderte von Seiten ausbreiten. Higgins dagegen hat sich auf Romane aus der Bostoner Unterwelt verlegt, die fast vollständig aus Dialogen bestehen. Es gibt keine Beschreibungen, keine Erzählung, keine Szenerie. Nur Dialoge. Reine Dramatik. Dabei rollt die Handlung in einem Tempo und in einer Intensität ab, dass einem Hören und Sehen vergehen: obwohl meistens nur zwei Leute in einem Auto oder in einer Bar sitzen und sich gegenseitig totquatschten. Der Kleingangster mit seinem Kompagnon. Der Killer mit seinem Auftraggeber. Der Schläger mit seinem Bruder. Das ist mitunter sehr brutal, oft brüllend komisch, aber immer aufregend - und von stilistischer Perfektion.

Wie schön also, dass der Kunstmann Verlag Higgins Klassiker aus den siebziger Jahren neu herausbringt: In "Ich töte lieber sanft" hat sich Johnny Amato einen besonders schlauen Coup ausgedacht: Er lässt von zwei nicht besonders hellen Ganoven eine jener Pokerrunden überfallen, die von Bostons Mafia in den Hinterzimmern der Stadt betrieben werden. Die Bosse setzen sofort den Profikiller Jacki Cogan auf sie an, denn solange die zwei und ihr Auftraggeber ungestraft herumlaufen, finden keine Spiele statt: Sonst käme demnächst jeder dahergelaufene Junkie auf die Idee, sich auf diese Art Kleingeld zu besorgen. Die halbe Stadt ist sauer und hinter den Störenfrieden her.

Dabei verschafft Higgins unvergleichliche Einblicke in die Unterwelt: Zum Beispiel lernt man, dass die Bostoner Mafia, wenn auch von Iren dominiert, langst nicht so "katholisch" ist wie New Yorks italienische Mafia, also viel weniger exaltiert (nur die Autohändler tragen goldgelb gestreifte Krawatten zu rosaroten Hemden). Oder wie viel mentale Power es für einen Überfall braucht, um die Szenerie in Schach zu halten. Vor allem aber begreift man, dass auch für den Mob die größte Schwierigkeit darin besteht, die eigenen Leute vor ihrer Blödheit zu bewahren. Denn so gerissen, habgierig oder unverfroren die Kleinkriminellen von Boston auch sein mögen, sonderlich viel Verstand hat keiner von ihnen. Dafür zerbrechen sie sich seitenweise den Kopf darüber, ob sie für das Ding, das sie drehen wollen, "Eier oder Glück" brauchen. Oder die Leute hängen an der Flasche, an der Nadel oder ihrer Freundin. Darauf kommt es beim Aufstieg in der Unterwelt nämlich vor allem an: aufs Management der Dämlichkeit.

George V. Higgins: Ich töte lieber sanft. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Kunstmann Verlag, München 2013, 239 Seiten, 14,95 Euro