Mord und Ratschlag

Sorgen um den Wurm

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
23.01.2013. In "Rache verjährt nicht" erzählt Reginald Hill von einem Aristokraten, der von seinen Feinden unschuldig ins Gefängnis gebracht wird - als Investmentbanker und Kinderschänder. Pete Dexter führt mit seinem Roman "Paperboy" in die Sümpfe Floridas und die Wildnis seiner Kleinstädte, in der sich zuallererst die Starreporter verirren.
Das Unheil nimmt im Jahr 1963 im Jemen seinen Lauf, als der Sohn eines britischen Diplomaten in Aden entführt wird, mit Hilfe eines Dieners, der ihm bis dahin sehr zugeneigt schien. Auch dank der Kaltblütigkeit des Jungen geht die Sache glimpflich aus, der Vater tröstet ihn über den Verlust seines Freundes mit den Worten: "Wenn Liebe gegen grimmige Not antritt, gibt es meist nur einen Sieger." Es wird die Lektion seines Lebens sein, doch leider versteht der Junge sie falsch.

Ungefähr fünfzig Jahre später verliert der zu Reichtum, Ritterschlag und schöner Frau gekommene Wilfred Hadda von einem Tag auf den anderen seine Existenz. Nein, er verliert sie nicht, sie wird total und gnadenlos vernichtet. Schwer zu sagen, ob es Sir Wilfred besser ergangen wäre, wenn er sein Leben nicht als der Sohn eines Holzfällers begonnen hätte, aber als die Polizei bei ihm auftaucht, um Computer und Handys zu beschlagnahmen, ist sein Schicksal besiegelt: Ihm wurden nicht nur Finanzbetrug in Millionenhöhe untergeschoben, sondern auch jede Menge Kinderpornografie. Als Investmentbanker und Kinderschänder ist er ein Fressen für die Geier, natürlich lassen ihn seine Frau und sein Anwalt ebenso schnell fallen wie seine Klasse. Obwohl er seinen Fluchtversuch wirklich lustig gestaltet (Anruf bei der Polizei: "In drei Minuten wird im Amtsgericht West End eine Bombe detonieren. Allahu Akbar!"), endet er mit katastrophalen Verletzungen im Hochsicherheitsgefängnis. Hadda, verkrüppelt und einäugig, wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt.

Die Geschichte des Mannes, der unschuldig von seinen Feinden ins Gefängnis gebracht wird, ist nur der Anfang, den Reginald Hill aber immerhin auch schon auf hundert Seiten in elegantesten Wendungen zu erzählen weiß. Zum Format eines Alexandre Dumas läuft er erst mit Haddas Befreiung aus dem Gefängnis und seinem Rachefeldzug gegen die Verschwörer auf: "Man überstand keine langen Haftstrafe, wenn man seiner Fantasie freien Lauf ließ. Kümmere dich um die Minute und überlass die Stunde sich selbst. Ein Mann kann sich mit einem Teelöffel in die Freiheit graben, aber nur, wenn er nichts überstürzt, schön konzentriert Löffel für Löffel weitergräbt." Haddas Weg aus dem Chateau d'If führt über Alva Ozigbo, eine kluge, aber unerfahrene Gefängnistherapeutin, die sich anfangs von Hadda genauso manipulieren lässt wie von ihren Chefs. Er legt ein falsches Geständnis ab, lässt sich brav therapieren und wird schließlich nach acht Jahren als geheilt entlassen. Was diesen Menschen tatsächlich antreibt, macht die Spannung dieses Romans aus. Denn anders als der Graf von Monte Christo hat sich Wolf Hadda das Herz herausgerissen. Mitunter erscheint seine überkontrolliertes Inneres monströser als sein entstelltes Äußeres.

In der zeitlichen Konstruktion zeigt der Roman eine Schwäche, denn um Haddas Fall mit dem Sturz der Bankengötter 2008 zusammenzubringen, muss Hill den zweiten Teil seiner Erzählung in der Zukunft spielen lassen, für die er aber keine rechte Idee hat (Zeitungen werden aber wieder eifrig gelesen!). Ansonsten erweist sich Reginald Hill auch in seinem letzten Roman vor seinem Tod 2012 als der große Meister der alten englischen Krimischule, der er Zeit seines Lebens gewesen ist. Lust und Können zeigt er als Erzähler auch damit, dass er die Parallelen zu Dumas nicht überstrapaziert. Vielmehr baut er so viele verschiedene Motive in diese Geschichte um Missgunst und Verrat, Rache und Reue ein, dass er den Spannungsbogen auf siebenhundert Seiten fast durchgehend straff halten kann. Er wechselt die Erzählperspektiven ebenso wie die Stilebenen; was als schnoddrige Noir-Erzählung beginnt, entpuppt sich als Therapiebericht; märchenhafte Elemente (der Wolf und die Elfe) wechseln ab mit Zitaten von Wordsworth - ohne dass man je die Übersicht verlieren würde. Mal wird der Wolf gejagt, mal spielt er mit seinen Feinden, wohl fühlt er sich nur in den rauen Weiten des nordenglischen Cumbria. Und im Hintergrund agiert eine Art Richard II., der die Not so wenig kennt wie das Mitgefühl, sich zum obersten Sachwalter der Notwendigkeit erhebt und dabei doch nur auf den eigenen Machterhalt zielt.

Reginald Hill: Rache verjährt nicht. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 684 Seiten, 19,95 Euro ()


***


Moat County am Ende der sechziger Jahre muss man sich als eine typische rückständige Kleinstadt im amerikanischen Süden vorstellen: Von den Sümpfen Floridas umgeben wie von einem Festungsgraben hat sich der Provinzort gegen alles Neue und den ganzen Aufbruch der sechziger Jahre verbarrikadiert, besonders gegen Schwarze, Hippies und Bundesrichter. Der Sheriff sorgt für Ordnung, der Anwalt verteidigt seine Privilegien und der Zeitungsverleger hält seine Tribune auf einem moderat liberalen Kurs, der niemandem wehtut und niemandem Hoffnung geben kann. Auf dem Highway, der einzigen Verbindung zum Rest des Landes, haben Spaßvögel ein Schild aufgestellt, das Yankees herzlich willkommen heißt und darunter die Flagge der Konföderierten zeigt sowie einen abgetrennten Arm.

Doch auch dieser Weg ist eines Tages versperrt, als der Sheriff des Countys ermordet auf der Straße liegt. Von den siebzehn Leuten, mit denen der Sheriff bis dahin kurzen Prozess gemacht hatte, waren sechzehn schwarz, sein letztes Opfer allerdings gehört zur Familie der Van Wetters, eine gewalttätige und rachsüchtige Sippe, die in den Sümpfen von der Ausweidung der Alligatoren lebt. Niemand im Ort mag also ernsthaft Einspruch erheben, als ihr bösartigstes Mitglied, Hillary Van Wetter, verhaftet und zum Tode verurteilt wird. Außer Charlotte Bless, die als Postsortiererin in New Orleans zu versauern droht. Sie hat ein wildes Faible für Verbrecher und beauftragt zwei junge Starreporter der Miami Times, dem Fall nachzugehen. Natürlich stoßen die beiden ziemlich schnell auf fingierte Beweise, falsche Aussagen und verbohrte Hilfssheriffs.

Pete Dexters Roman erschien bereits 1996 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Schwarz auf Weiß" bei Golfmann, fand aber peinlich wenig Beachtung. Dass der Liebeskind Verlag nun einen zweiten Versuch mit dem Roman - in der aktualisierten Übersetzung von Bernhard Robben - unternimmt, ist ganz richtig. Dexter ist inzwischen mit seinem Western-Roman "Deadwood" zu Ruhm gelangt (aus dem HBO die gleichnamige Serie gemacht macht hat, ohne ihn zu fragen, wie Dexter behauptet), außerdem läuft Lee Daniels Verfilmung mit Nicole Kidman und John Cusack derzeit im europäischen Kino (ein deutscher Start ist bisher nicht absehbar). Aber "Paperboy" ist im edleren Krimi-Segment auch einfach besser aufgehoben.

Wunderbar lakonisch zeichnet Dexter die drückende Atmosphäre des Südens, seine schwüle Hitze, der man nur mit viel Bier und Sex beikommen kann, wobei all die kleinen Abenteuer entweder nirgendwohin führen oder ins Krankenhaus. Auch die Personen hat Dexter sehr schön gezeichnet: Neben der schrillen, leicht perversen und sehr tragisch endenden Charlotte, ist dies vor allem der Ich-Erzähler Jack James. Er ist der sexuell verwirrte Zögling des örtlichen Verlegers, die Universität von Florida hat ihn wegen Vandalismus rausgeworfen, jetzt fährt er für seinen Vater Zeitungen aus. In einer sehr lustigen Szene gerät er beim Baden in einen Quallenschwarm, und die heißen Schwesternschülerinnen am Strand kommen auf die Idee, seinen allergischen Schock dadurch zu behandeln, dass sie der Reihe nach auf ihn pinkeln.

Jacks ganze Liebe gilt eigentlich seinem älteren Bruder Ward, der zusammen mit Yardley Acheman der Geschichte nachgeht. Nach Ansicht ihrer Redakteure bilden die beiden genaue Gegensätze und damit das ideale Journalistenteam. Während Ward - vielleicht etwas zu idealisiert - als ernsthafter und sorgfältigen Rechercheur auftritt, übernimmt Yardley Acheman den Part des grandiosen Schreibers mit Hang zum Glamourösen. Von dem alten Journalistenschlag, der so hemdsärmelig wie aggressiv seinem Handwerk nachging und dem Dexter immer wieder seine Reverenz erweist, sind beide gleich weit entfernt. Für ihre Geschichte über das Unrecht in Moat County bekommen sie natürlich den Pulitzer Preis. Und als Dreingabe für besonders skrupulöse Reporter gibt es den Zweifel.

Bei Ward zumindest keimt der Verdacht, dass er, der clevere Zeitungsmann aus Miami von der tumben Proletenfamilie ausgepielt worden sein könnte. Jack rät ihm, doch nicht so auf solche Details zu achten: "'Es ist wie beim Angeln', sagte ich, 'Du bist dem einfach nicht gewachsen, wenn du dir Sorgen um den Wurm machst.'" Ward antwortet mit einem Credo: "'Du hast es nicht erlebt, Jack, wie es ist, wenn du es absolut korrekt hinkriegst', sagte er. 'Wenn du die Dinge auf das runterbrichst, was tatsächlich passiert.' 'Und was dann?', fragte ich. ... 'Das macht es erträglich', sagte er." Man muss es als gewisse Ironie nehmen, dass Dexter die Frage nach Hillary van Wetters Schuld am Ende ein wenig aus den Augen verliert und sich mehr um Fragen des journalistischen Ethos im Hintergrund kümmert. Schließlich war er selbst lange Zeit Reporter, und über nichts reden und schreiben Journalisten so gern wie über sich selbst. Aber selten so gelungen.

Pete Dexter: Paperboy. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Liebeskind Verlag, München 2013, 319 Seiten, 19,80 Euro )