Mord und Ratschlag

Macht Lesen asozial?

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
27.01.2006. Ein Professor beobachtet einen Mord und greift nicht ein. Ein Büchernarr mordet, um seine Bibliothek finanzieren zu können. Dag Solstad und Detlef Opitz erzählen in ihren Romanen von Männern, denen die Liebe zu Büchern zum Verhängnis wurde.
Lesen bildet. Schon recht. Aber das reine Glück lässt sich auch nicht in den Sozialdienst nehmen. Leser lesen aus purer Lust. Während des Lesens stehen sie für gute Gespräche nicht zur Verfügung, und auch vorher und nachher sind sie für manche Melioration zu eigensinnig. Wenn nun also Menschen ihre beruflichen und familiären Pflichten vernachlässigen, weil sie lieber lesen, so sollten Schreiber aller Art an diesem Ast nicht sägen, denn sie sitzen darauf.

Ihr Publikum, die Quelle ihres Honorars, besteht teilweise aus Leuten wie dem Literaturprofessor Pal Andersen in Dag Solstads Roman "Professor Andersens Nacht". Er hat gerade sein rituelles Weihnachtsessen zelebriert und die geschenkten Bücher seiner beiden Neffen ausgepackt, als er sieht oder sich einbildet, dass in der Nachbarwohnung ein junger Mann eine junge Frau erwürgt. Der Professor will die Polizei rufen, tut es aber doch nicht. Er schafft es auch nicht, sein Versagen einem alten Freund zu offenbaren. Stattdessen verstrickt er sich in ausgefeilte, zuletzt gar theologische Überlegungen dazu, ob er der Frau zu Recht nicht geholfen hat. Er denkt Gedanken, auf die er nur kommt, weil er viel gelesen hat.

Als Ibsen-Spezialist ist Professor Andersen trainiert im Erkennen von Lebenslügen. Seinen Freunden wirft der 55-Jährige im Stillen vor, dass sie ihren Wohlstand für zufällig halten, wo er doch der Lohn für ihren Konformismus ist: Sie waren rebellische 68er, als man damit Karriere machen konnte. Sich selbst durchschaut der Professor nicht: Als junger Mann liebte er hermetische Lyrik, weil ihm das ein natürlicher Ausdruck des Dagegenseins schien. Hätte er darüber promoviert statt über Ibsen, wäre er später nicht in den Aufsichtsrat des Nationaltheaters eingezogen.

Dag Solstad, Jahrgang 1941, gilt in Norwegen als Nobelpreiskandidat. Als Ibsen-Kenner kann er wohl nicht anders, als auch sein eigenes Metier auf Brüchigkeit und Lügenhaftigkeit abzuklopfen. Schon auf der ersten Seite heißt es viermal "dachte er", später noch viel öfter. Und was denkt Professor Andersen? Zum Beispiel "Na, so was", "Ja, ich muss schon sagen" und "Ein richtig heißes Bad würde mir sicher gut tun". An solchen Stellen wirkt die Allwissenheit des Erzählers wie eine sinnlose Aufregung: Wenn es nicht mehr zu wissen gibt, lohnt sich dann der ganze Aufwand?

Professor Andersen hat aus Bücherliebe wenigstens nicht selbst getötet. Von einem, der das getan haben könnte, handelt Detlef Opitz' "Der Büchermörder". Der sächsische Pfarrer Johann Georg Tinius hat von 1764 - 1846 gelebt. Wie von Opitz geschildert, sammelte er etwa 40.000 bis 60.000 Bücher. 1813 wurde er angeklagt, in Leipzig eine wohlhabende Witwe und im Jahr zuvor einen reichen Kaufmann erschlagen zu haben, um seine gewaltige Bibliothek zu finanzieren. Die Justiz behandelte den angesehenen Theologen schonend und verurteilte ihn für nur einen der beiden Überfälle zu einer Gefängnisstrafe. Er saß seine Strafe ab, kam frei und erklärte sich immer wieder für unschuldig.

Weitere historische Personen treten auf, zum Beispiel der Bremer Schriftsteller und Verleger Hans Kasten. Kasten hatte einem Leipziger Antiquar die Gerichtsakten zum Fall Tinius abgekauft, er wollte ein Buch über den berüchtigten Pfarrer schreiben. Er konnte sich aber so lange nicht entschließen, "ob wissenschaftlich oder bloß Romänchen", dass schließlich überhaupt nichts mehr daraus wurde. Detlef Opitz hat sich unter dem Gattungsbegriff "Ein Criminal" für beides entschieden: Der "Büchermörder" ist die ergiebigste und fundierteste Studie, die je über Tinius geschrieben wurde, zugleich aber auch ein sprachgewaltig verspielter, ungewöhnlich lustiger Roman über das 18., 19. und 20. Jahrhundert.

Dazu führt Opitz ein nicht ganz fassbares Erzähler-Wir ein. Ob der Autor damit im selbstironischen Qualitätsplural nur sich selbst als Rechercheur meint oder ob man sich eine Begleitung dazu denken soll, bleibt offen.

Als Quellensucher ist dieses "Wir" nicht unbestechlich. In seinen Meinungen über die Quellen ist es aber so fehlbar wie alle Menschen. Indem er diese Irrtumsanfälligkeit einräumt, kann Opitz stellenweise schreiben wie in einem historischen Roman, aber ohne dessen Peinlichkeit. Die rührt unter anderem daher, dass historischen Personen Sätze und Gedanken zugeschrieben werden, von denen niemand weiß, ob sie sie je gesagt oder gedacht haben ("Hoppla, rief Napoleon"). Wenn dagegen Opitz dem Mangel der Akten abhilft, "für das Fleisch und die Farben keine Zuständigkeit" zu haben, dann ist immer dazugesagt: Aus den Akten könnte sich das und das ergeben, es kann aber auch anders gewesen sein.

Dank diesem Vorbehalt kann das Erzähler-Wir zur Freude des Lesers seiner Zunge freien Lauf lassen. Es spricht virtuos und gebildet, vermag wahrscheinlich sämtliche deutschen Schreibstile seit 1764 zu imitieren und parodieren; dieser Fein- und Zartsinn gewinnt "freylich" noch durch vorsätzliche Zusammenbrüche wie folgenden Kapitelanfang: "Man macht sich so seine Gedanken, doch genau kann es wol keiner wissen, von wem Jungfer Schmidtin sich alles ficken lie -tschuldigung! Pardon! Noch einmal von vorn."

Opitz ist 1956 geboren, ein wesentlich Jüngerer hätte so ein Buch nicht schreiben können. So viele Tonlagen, so unverbrauchte Wörter, so viel nutzloses Wissen zum Beispiel über Palindrome und Übersetzungssoftware, das es ermöglicht, den roten Faden immer wieder loszulassen und im rechten Moment wieder zum Leuchten zu bringen: Dafür muss man einiges weggelebt und durchgelesen haben.


Dag Solstad: "Professor Andersens Nacht". Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2005, 200 Seiten, gebunden, 19,80 Euro

Detlef Opitz, "Der Büchermörder". Ein Criminal. Eichborn, Frankfurt am Main 2005, 355 Seiten, gebunden, 24,90 Euro