Mord und Ratschlag

Verrücktes Spiel mit der Wirklichkeit

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
10.03.2003. In einer englischen Kleinstadt verschwindet Alex. Als sich seine Schwester Ruth auf die Suche nach ihm macht, begegnet sie groben Vermietern, korrupten Polizisten und ihrem sadistischen Ex-Mann. Aber stimmt das alles wirklich, oder ist Ruth verrückt? J.M. Morris zieht in seinem Debütkrimi "Das Gespinst" die Fäden wie einst Hitchcock. Von Michael Schweizer
Ruth Gemmill hat Talent zum Glücklichsein. Sie mag ihre Arbeit als Filmdesignerin, kann Freundschaften schließen und sich verlieben. Eng verbunden ist sie ihrem Bruder Alex, einem Biologen und Cineasten. Vor zwölf Jahren, da war sie 19 und er 17, hat er zuerst ihr gesagt, dass er schwul ist. Neun Jahre später ist sie zu ihm geflohen, nachdem der Schauspieler Matt, von dem sie sich getrennt hatte, sie niedergeschlagen hat. Nicht zum ersten Mal - viel zu lange war sie bei ihm geblieben. Nun aber, wieder drei Jahre später, wirkt sie erholt. Sie sagt menschenfreundliche Sachen wie "Leute erkennen nur selten ihre eigenen Fehler, sonst würden sie sie vermeiden". Im Grunde, meint man, ist sie heil.

Dann verschwindet Alex. Ruth fährt nach Greenwell, der kleinen Stadt, in der er eine Lehrerstelle angetreten hat, und sucht ihn. Was sie dort erlebt, wirkt zunächst wie gewöhnliche Unfreundlichkeit gegenüber Fremden, an denen man nichts verdienen kann: Alex' grober Vermieter, sein ungehobelter Schulleiter, die verstörte Nachbarin. Bald sieht es jedoch so aus, als sei die halbe Stadt an einem Komplott gegen Ruths Bruder beteiligt. Die Polizei stellt sich als eine Bande von sadistischen Drecksäcken heraus. Und Matt ist wieder da, entschlossen zu töten.

Der Leser beginnt zu zweifeln. Kann das alles stimmen, oder bildet Ruth es sich ein? Wenn sie verrückt ist, warum? Technisch ist es nicht einfach, eine Geschichte in Ich-Form von jemandem verständlich erzählen zu lassen, der sie selbst nicht versteht. J. M. Morris hat es in "Das Gespinst" geschafft. Lange hält er die Balance: Ruths Odyssee klingt halluziniert, könnte aber auch wahr sein. Morris verleitet bei steigender Spannung mal zur einen, mal zur anderen Interpretation. Er führt den Leser an der Nase herum, und zwar ohne faule Tricks: Alles steht im Text. Man merkt es nur nicht gleich.

Alex ist in diesem Thriller nicht der einzige Cineast. Der andere ist der Autor. "Das Gespinst" ließe sich gut verfilmen, episodisch und mit harten Schnitten. Hat sich der Leser gerade besonders erschrocken, bricht Morris ab und öffnet eine Rückblende. Personen, Berufe, Verhältnisse führt er erst ein, wenn der Plot es braucht. Nichts wird zerredet. Vierhundert Mal hat Alex "Die Vögel" gesehen, und auch Morris pflegt ein hitchcockhaftes Faible für scheinbar harmlose Details, deren fürchterlichen Sinn der Zuschauer erst ein paar Sekunden später begreift, wenn er sie schon nicht mehr sieht. Zum Beispiel ein staubfreier Türknauf in einem sonst schwer verdreckten aufgegebenen Bahnhof...

Die Geschichte berührt stark, weil sie menschenbildlich fundiert ist. Morris' Stärke ist der Alltag, also alles Wichtige: Familie, Arbeit, Stadt, Land, Lust, Tod. Viel Kluges sagt er, britisch pointiert, über die Liebe. Er hat nicht vergessen, welch "tiefes Entsetzen und herzzerreißende Aufregung" den ganz Jungen die durchbrechende Sexualität verschafft. Auch nicht, wie komisch sich das, aber eben erst lange danach, ausnimmt: "'Steck deinen Finger in mich rein', sagte sie. 'Welchen?', fragte ich unbeholfen." Man verzeiht diesem Autor sogar, dass er es immer im passenden Moment regnen lässt.

Schwächer wird der Roman, nachdem Morris die Balance aufgegeben hat und dem Leser verrät, ob Ruth von Wahnvorstellungen verfolgt wird oder nicht. Die letzten zwei Sätze sind allerdings großartig. In allen Feinheiten versteht sie nur, wer das ganze Buch aufmerksam gelesen hat. Dass Morris das voraussetzt, während andere Thriller- und Krimischreiber, jeden Kunstanspruch fahren lassend, so tief sinken, alles fünfmal zu erklären, macht Freude.


J. M. Morris: "Das Gespinst". Roman. Aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg. Krüger Verlag, Frankfurt am Main 2003, 301 Seiten, gebunden, 19,90 Euro