Mord und Ratschlag

Zwanghafte Verführer

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
22.06.2015. In Carol O'Connells märchenhaftem Thriller "Kreidemädchen" müssen es Elfen in New York mit Hyänen und Ratten aufnehmen. In Dominique Manottis "Abpfiff" gedeihen Politik und Geschäft ganz prächtig auf der Ehrentribüne im Fußballstadion.
Kathy Mallory ist Detective der New Yorker Polizei, und sie ist so hübsch und gruselig zugleich, dass in ihrer Nähe die guten Eigenschaften der Menschen dahinschmelzen wie Butter in der Sonne. Selbst Kollegen, die ihr zugeneigt sind, finden sie eher kalt und herzlos. Ihr Chef hasst und fürchtet sie zugleich, ein gehässiger Polizeipsychiater attestiert ihr "gefährlich instabil" zu sein; ihr privater Psychiater ist heillos in sie verliebt, traut ihr aber nicht über den Weg. Mallory hat ein Faible für Seidenblusen und maßgeschneiderte Kleidung, das nötige Geld besorgt sie sich entweder in Pokerrunden oder dank ihres enormen Talents als Hackerin. Ach, und sie kann auf zwei Arten lächeln. Das eine Lächeln sagt: Dafür krieg ich dich. Das andere: Jetzt hab ich dich.

Kathy Mallory ist ein wirklich komplizierter Fall, und es spricht für die Kunst der Autorin Carol O"Connell, dass man sich auch im zehnten Mallory-Roman keinen Reim auf diese Ermittlerin machen kann. In "Kreidemädchen" verschenkt nun ein kleines verlorenes Mädchen ausgerechnet an diese Polizistin ihr Herz, und in den Augen aller Beteiligter beweist dies nur, wie wenig Überlebensinstinkt dieses Kind hat. In Wahrheit sind die beiden Seelenverwandten: Elfen in der Wildnis der modernen Großstadt.

Aber der Reihe nach: In einer irrwitzigen Szene, wie sie nur in New York alltäglich sein kann, überschlagen sich die Ereignisse im Central Park, als ein Tölpel von einem Kammerjäger ein Rattennest ausräuchert, die Viecher jedoch alle fliehen, und eine verschreckte Lehrerin vor den Augen ihrer Schulklasse einen Herzinfarkt bekommt. Beinahe wäre daraufhin die kleine Elfe mit Namen Coco in die Hände eines gesuchten Mörders geraten, wenn nicht Mrs. Ortega beherzt eingegriffen hätte. Mrs. Ortega ist Putzfrau und eine waschechte New Yorkerin, deswegen erkennt sie an den Flecken auf dem T-Shirt sofort, dass dem Kind bereits Schreckliches widerfahren sein muss: "Ein Cop konnte vielleicht mit Ketchup getäuscht werden, aber sie nicht. Das war Blut." Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Coco nach dem Tod ihrer Großmutter entführt worden war. Die Oma verstand sich übrigens auf Ratten, erzählt Coco ohne Sinn für Ironie, sie war die Chefin von Chicago Killers.

Diese Episode ist nur der Einstieg, im Grunde nur der rote Hering, um nicht rothaarige Elfe zu sagen. Der eigentliche Fall sind die zweieinhalb Toten, die in Säcken festgeschnürt und in den Bäumen des Central Parks aufgehängt wurden: Ein reicher Erbe und Kinderschänder, eine bösartige Sozialarbeiterin und ein verarmtes It-Girl. Übelst malträtiert, halb verblutet und verdurstet, hat die verwöhnte Göre jedoch überlebt und beginnt nun, die Überlebenden aus dem betroffenen Kreis böser Menschen zu tyrannisieren. Sie alle kennen sich gut, die geldgierige Mutter, der lächerlich ehrgeizige Staatsanwalt und der blinde Anwalt, sie wissen genau, was gespielt wird, doch sie schweigen, um noch mehr Geld herauszuschlagen, um der Rache zu entkommen oder um noch weitere alte Rechnungen begleichen zu lassen. Und in diesen Zirkel aus Upperclass-Hyänen stolpert immer wieder die kleine Coco mit ihrer übergroßen Sehnsucht nach menschlichem Kontakt.

Wie Carol O"Connell ihren Stoff ausbreitet, das ist von einer Könnerschaft und Eleganz, die ihresgleichen sucht: Aus einem bizarren, fast surrealen Einstieg entwickelt sie die Geschichte eines ungemein tragischen Verbrechens, voller Trauer, Scham und Schuld. Mehr und mehr rücken dabei die Angst und die Einsamkeit eines Kindes ins Bild, das von seinen Mitschülern Tag für Tag tyrannisiert und gequält wird, und das sich, von Eltern, Lehrern und Polizei im Stich gelassen, nur noch ins Geistige flüchten kann: "Sarkasmus ist meine beste Superkraft."

O"Connell beherrscht dabei alle Register des Erzählens. Ihr Humor ist mal grimmig oder sardonisch, mal feinsinnig und heiter, aber nie von dieser routinierten Smartheit, auf die sich viele ihrer männlichen Kollegen kapriziert haben. Mit bewundernswerter Gewissenhaftigkeit zeichnet sie Figuren, die alle ein bisschen spleenig sind, aber alle Charakter haben - wenn auch nicht unbedingt einen guten oder leicht durchschaubaren. Vor allem gewährt sie sich und ihren Figuren ein großes Maß an Versponnenheit und Fantasie, ohne dabei das realistische Erzählen zu verlassen. Da bleibt O"Connell strenger als etwa ihre französische Kollegin Fred Vargas, die viel leichtfertiger diese Grenze überschreitet.

Sehr einnehmend ist übrigens auch O"Connells Blick auf New York, um dessen urbanen Charme sie einerseits fürchtet, wenn am Washington Square selbst kiffende Jugendliche als Gefahr angesehen und durch umzäunte Rasenflächen und Eiswagen abgedrängt werden, und das sie andererseits als große Verwandlungskünstlerin bewundern kann: "Die guten alten Zeiten lagen immer schon sechs Minuten zurück."

Carol O"Connell: Kreidemädchen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Judith Schwab. btb, München 2015, 542 Seiten, 9,99 Euro .


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Preisfrage: Wie heißt der Fußballfunktionär, der über unvorstellbare Geldsummen verfügt und sie von den reichen zu den armen Verbänden umverteilen möchte? Der am liebsten mit den unsympathischsten Gestalten aus kleptokratischen Ländern Geschäfte macht? Der als Person ein so zwanghafter Verführer ist, dass man körperlich und mental sofort in Abwehrstellung gehen muss? Genau: Jean-Pierre Reynaud. Er ist Chef eines dynamischen Bauunternehmens und Bürgermeister des Pariser Vororts Lisle-sur-Seine, genau dort, wo das schicke Dienstleistungsviertel La Défense und die Arbeiterviertel von Seine-Saint-Denis aufeinanderstoßen. Sein Verein steht kurz davor, französischer Meister zu werden. Besonders stolz ist Reynaud darauf, ein Publikum aus den Vorstädten anzuziehen, aus dem echten Volk. Die Leute sorgen nämlich für ein super Spektakel. Nach Heimsiegen geht er mit der Mannschaft auch immer zur Nordkurve, um den Fanblock zu grüßen.

Jean-Pierre Reynaud ist die zentrale Machtfigur in Dominique Manottis Thriller "Abpfiff", der im Original bereits 1998 und vor kurzem in der souveränen Übersetzung von Andrea Stephani erschien. Es ist nicht unbedingt Manottis bestes Buch, dafür geraten ihr die meisten Figuren zu schematisch, aber es ist definitiv nicht nur wegen der - zufällig aktuellen - Bezüge zur Fifa ein großes dunkles Vergnügen. Manotti erzählt auch hier kraftvoll, schnell und ultrarealistisch, und ihr schwuler Kommissar Théo Daquin mit seinem Faible für Sex und Gerechtigkeit ist einfach eine toller Typ.

In die Welt des Fußballs gerät Daquin durch den Mord an seinem Kollegen. Am helllichten Tag wird Inspecteur Romero zusammen mit einer jungen Frau in einem Einkaufszentrum in der Banlieue erschossen, niedergestreckt von zwei Halbstarken auf einem Motorrad. Nadine Speck war die Schwester des Stadionwarts von Lisle-sur-Seine und offenbar eine neue Informantin des Inspecteurs. Kurz darauf wird auch der Bruder selbst ermordet, und der Torwart der Mannschaft wird zusammengeschlagen.

Stark ist Manotti in den Szenen, in denen sie Welten maskuliner Macht entfaltet. Im Fußballstadion etwa, im Empfangsraum für die Gäste der Ehrentribüne, wo hundert Männer und nicht eine Frau bei Whisky und Champagner über die Politik und Geschäfte der Stadt entscheiden: Wer bekommt den Auftrag für das neue IT-System der Verwaltung? Wer darf den Fuhrpark erneuern? Gut, dass der Verein auch einen Kommissar a.D. im Vorstand hat, der weiß, wie man alles legal hält! Oder wenn eine Eingreiftruppe die Wohnung der beiden Auftragskiller stürmt: Innerhalb von Sekunden setzten die hochgerüsteten Männer mit einer Kombination aus Lärm, Waffen und Brutalität eine absolut betäubende Dosis aus Adrenalin und Aggression frei. Völlig überrumpelt stehen die beiden Halbstarken da, die für die Ermordung des Polizisten klägliche 80.000 Franc bekommen haben. Ein Spieler, der sich bestechen ließ, bekommt für ein kassiertes Tor immerhin 300.000 Franc. Wer kann da was sagen? So kommt doch noch Geld in die Banlieue.

Dominique Manotti: Abpfiff. Roman Aus dem Französischen von Andrea Stephani. Ariadne Verlag, Hamburg 2015, 230 Seiten, 17 Euro