Mord und Ratschlag

La Muerte, Die Knochige, Die Magere

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
25.11.2010. Seine Hauptfiguren sind zwar etwas grob geschnitzt, aber in der Schilderung des mexikanischen Drogenkriegs ist Don Winslows Thriller "Tage der Toten" präziser und wahrhaftiger als eine ganze Jahresproduktion deutscher Regionalkrimis.
Am Anfang der mexikanischen Tragödie steht die Operation Condor. Für die Operation schlossen sich 1975 die zwei Jahre zuvor gegründete amerikanische Drogenbekämpfungsbehörde DEA, das Neunte mexikanische Armeekorps, die mexikanische Bundespolizei und die Provinzbehörden von Sinaloa zusammen - und verwandelten den Bundesstaat im Norden Mexikos in ein einziges gewaltiges Flammenmeer. Mohnfelder wurden angezündet, Dörfer in Brand gesteckt, Tausende von Campesinos vertrieben, gefoltert und ermordet, bis schließlich Don Pedro Aviles, der oberste Drogenboss von Sinaloa gefasst und getötet wurde, der bis dahin Kaliforniens Mafia um Bugsy Siegel mit dem berüchtigten Mexican Mud versorgte, einem billigen, aber starken braunen Opium.

Die Operation Condor steht auch am Anfang von Don Winslows "Tage der Toten" und sie wird zwei Männern den Weg nach oben ebnen. Dem DEA-Agenten Art Keller und Miguel Angel Barrera, Polizeikommandeur und rechte Hand des Gouverneurs von Sinaloa, der sich an die Spitze eines neuen Drogenkartells setzt, mit dem Heroinhandel Schluss macht und sich als wichtigster Transporteur für das Kokain der kolumbianischen Kartelle von Medellin und Cali etabliert.

Art Keller ist Fiktion, aber die Operation Condor hat es gegeben und auch den zum Kartellboss gewandelten Polizeichef. Er hieß im richtigen Leben Miguel Angel Gallardo und machte Mexiko zur wichtigsten Drehscheibe für den Drogenschmuggel in die USA. Zehntausende von Todesopfern hat der Drogenkrieg in Mexiko seitdem gefordert. Er tobt in den Grenzstädten Tijuana und Ciudad Juarez, zwischen rivalisierenden Kartellen, auch zwischen Militär und Kartellen, doch in der Regel müssen die Drogenbarone den Staat nicht fürchten, sie können ihn kaufen. In Wahrheit ist der Kondor mit seinem klangvollen Namen und den weiten Schwingen auch nicht der größte aller Raubvögel, sondern ein Aasfresser, der statt selber zu jagen auf bereits erledigte Beute wartet.

In einem gewaltigen, 700 Seiten umfassenden Thriller-Epos erzählt Don Winslow die Geschichte des mexikanischen Drogenkriegs in allen Facetten, er lässt dabei keine Grausamkeit aus und keine politische Schweinerei der CIA. Doch so unfassbar und unerträglich all die bitteren Wendungen erscheinen, die diese Geschichte nehmen wird, Winslow hält sich ziemlich eng an die historische Tatsachen. Manche Passagen lesen sich wie ein Auszug aus der Wikipedia oder eine Reportage von Alma Guillermoprieto, und man verschlingt sie umso atemloser, vielleicht auch weil die mexikanische Katastrophe hierzulande - im Unterschied zu den USA - so selten Thema ist. Aber man muss es einfach so sagen: Don Winslow erzählt von dieser mexikanischen Katastrophe schlicht und ergreifend in einem der spektakulärsten und grandiosesten Thriller der letzten Jahre. In dem Buch stecken so viel Dramatik, Relevanz und Welthaltigkeit wie in einer ganzen Jahresproduktion von deutschen Regionalkrimis.

Von den zwanzig Jahren Drogenkrieg erzählt Winslow aus verschiedenen Erzählperspektiven, aber alle eint, dass es sich im junge Löwen handelt, die hochkommen, weil sie die alten gestürzt haben. Der DEA-Agent Keller, der sich im Laufe der Jahre immer heftiger in den Kampf gegen die Kartelle und um Rache für seinen ermordeten Kollegen verbeißt und dabei Frau und Kinder und seine moralischen Maßstäbe verliert, steht ebenbürtigen Protagonisten auf der Gegenseite gegenüber: Adan Barrera, der zusammen mit seinem Bruder Raul die Nachfolge seines Onkels übernimmt, mit seiner Flotte von 23 Boeings zum "Herrn der Himmel" aufsteigt und die Organisationsstruktur des Drogenhandels den Erfordernissen des nordamerikanischen Freihandels anpasst.

Bis in die neunziger Jahren waren die Kartelle, lernen wir, wie die sizilianischen Mafia-Clans pyramidenförmig aufgebaut. Oben der Boss, in der Mitte die Kapos, unten die Soldaten, jede Ebene liefert an die nächsthöhere. Ein Nachteil war, dass ein einziger Verräter das ganze Gebäude zum Einsturz bringen konnte. Das neue von Adan Barrera eingeführte System kannte nur noch zwei Ebenen: Oben die Barrera-Brüder, unten alle anderen und zwar unabhängig organisiert: "Wir wollen Unternehmer, keine Angestellten", erklärt Adan das tatsächlich neue mexikanische Prinzip: "Angestellte kosten, Unternehmer verdienen."

Die sympathischste, leider heillos unglaubwürdige Figur ist der irische Ganove Sean Callan aus New York, der sich mit siebzehn auf den Thron von Hell's Kitchen katapultierte, dann aber wider Willen zur mörderischsten Waffe der CIA wird, mit Aufträge in Kolumbien, El Salvador, Guatemala. "Langes fettiges Haar, gelbliche Haut vom vielen Trinken, aber auf seinem Gebiet ist er eine echte Kapazität". Dass dieser Callan, der für die Mafia und die CIA in New York, in Kolumbien, El Salvador und Mexiko mordet, bis zum Schluss ein im Innern unverdorbener Kerl bleibt, nimmt man Winslow nun wirklich nicht ab. Hin und wieder hätte man auch erwartet, einem pomadisierten Proleten im Trainingsanzug zu begegen, aber selbst die einfachsten Sicarios lassen sich keine Stillosigkeit zu Schulden kommen.

So kämpft Winslow bei seinen männlichen Charakteren oft tapfer, nicht immer erfolgreich gegen das Klischee, aber bei den Frauen streckt er die Waffen. Unangenehm ist dabei nicht, dass sie meist nur als Mätressen, Coke-Bunnies oder abgedrehte Ehefrauen mit einen Satz auftauchen, bevor sie einen Kopf kürzer wieder abtreten. Schlimm wird es erst bei der mit erkennbarer Sorgfalt erschaffenen Nora, die Hure mit Herz, eher eine kultivierte Hetäre, die den grundgütigen Kardinal liebt, aber mit dem Drogenboss ins Bett geht. An einer Stelle geht ihr durch den Kopf, was Frauen wohl so denken, wenn's um Beziehungen geht: "Er hat sich ihr geöffnet, sexuell und auch sonst. Sie verbringen mehr Zeit mit Reden."

Aber dafür schafft er immer wieder großartige Szenen, in denen man zum Beispiel begreift, dass man sich Menschen nicht durch Gewalt gefügig macht, sondern indem man sie korrumpiert. Die Dialoge sind so cool und präzise wie die Doppelschüsse aus Callans 22.er und einige Passagen von solcher Wucht, Brutalität und Kälte, dass man schier nach Fassung ringt. Nach siebenhundert Seiten glaubt man, jeden Aspekt des Drogenkriegs zu kennen. Trotzdem bleibt er ungeheuerlich, darin liegt die Großartigkeit dieses Romans, der aus einem verheerten Land erzählt, in dem der Tod als Herzensdame liebkost wird, als La Muerte, Die Knochige, Die Magere. Und in dem es versöhnlich heißt: "Nun lach doch mal, heute ist Totentag."

Don Winslow: "Tage der Toten". Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 689 Seiten, 14,95 Euro