Mord und Ratschlag

Darf ein Esel zum Pferderennen?

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
18.05.2011. In seinem großartigen Thriller "Wahrheit" zeigt Peter Temple, mit welcher Geschmeidigkeit das Geld sich die Politik kauft, und Medien und Polizei gleich mit. In John Harveys Krimi "Das Fleisch ist schwach" untersucht der melancholische Inspector Charlie Resnick noch einmal soziale Grundsatzfragen.
Für seinen Thriller "Wahrheit" hat Peter Temple erst den Miles Franklin Award, einen angesehenen australischen Literaturpreis, erhalten und kam dann auch noch auf die Longlist für den britischen Man Booker Prize. Natürlich wurde prompt wieder die Frage nach Literatur und Genre gestellt. Wie viel literarische Weihen verdient ein Krimi? Darf ein Esel zum Pferderennen? Ist andererseits nicht auch "Schuld und Sühne" ein Kriminalroman? Peter Temple behandelt nicht das Verbrechen als philosophisches Problem oder menschliche Grundkonstante, "Wahrheit" ist kein Roman, der mit kriminalistischen Elementen arbeitet. Temple hat einen lupenreinen Polizeithriller geschrieben, aber einen so großartigen, dass man ihm alle Ehren gönnt. Schon weil er das Genre auf den Stand des 21. Jahrhunderts gebracht hat und unter anderem klarstellt, dass das Problem heutiger Polizeiarbeit nicht darin besteht, an Telefonverbindungen, E-Mails und andere Daten zu kommen, sondern den Anschein zu erwecken, dies sei auf legale Weise geschehen.

Stephen Villani, Inspektor und vorübergehend Leiter der Mordkommission des Bundesstaat Victoria, untersucht den Mord in Melbournes neuem Prestigehochhaus: ein Callgirl wurde in einem der leerstehenden Luxus-Appartements tot aufgefunden, das einer arabischen Gesellschaft als Investitionsobjekt dient. Die hochmoderne Überwachungstechnik ist leider ausgefallen, vielleicht ist bei der Eröffnung des Kasinos auch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, auf alle Fälle wollen Gebäudeverwaltung und Sicherheitsfirma keine negativen Schlagzeilen und sorgen dafür, dass die Ermittlungen eingestellt werden. Schließlich finden auch Polizeipräsident, Innen- und Justizminister, dass wegen einer toten Nutte nicht die Zukunftsprojekte der Stadt in Verruf geraten sollten. Villani muss sich auch um einen brutalen Dreifachmord kümmern, dessen Opfer erst gefoltert und dann sadistisch verstümmelt wurden. Waldbrände fressen sich immer näher an die Stadt heran. Der Vater will die Farm nicht verlassen, die Frau sich scheiden lassen, und die Tochter reißt aus. Die Hitze steigt, die Medienmaschinerie läuft heiß.

Seine Wucht entfaltet Temples Thriller dabei nicht allein durch diese fiebrige Atmosphäre, sondern durch seine Hauptfigur, den herrischen, arroganten und dabei mit sich selbst hadernden Villani, der so viele Tote gesehen hat in seinem Leben, dass er glaubt, es müsste doch zu irgendetwas gut sein. In noblen Villen, in vollgekotzten Hinterhöfen, in Kofferräumen und in Abflusskanälen, erschossen, erstochen, erschlagen und verhungert. Doch die vielen Toten, die er gesehen hat, die Morde, die er aufgeklärt hat oder auch nicht, haben ihn nicht zu einem guten Polizisten gemacht und erst recht nicht zu einem besseren, weniger ehrgeizigen Menschen. Stephen Villani ist ein untreuer Ehemann, ein nachtragender Sohn und ein hundsmiserabler Vater. Das Verschwinden seiner drogensüchtigen Tochter, die er nicht liebt, hält ihn nicht davon ab, die Nächte mit der Frau zu verbringen, die ihn benutzt. Vor allem aber hat er sich korrumpieren lassen, als Polizist und als Mensch. Für Geld interessiert er sich heute nicht mehr, es ist die Aussicht auf Erfolg, auf Anerkennung, sozialen Aufstieg und schönere Frauen, die ihn erneut in Versuchung geraten lässt. Die einzige Wahrheit, die er jemals kennengelernt hat, so sagt er, war ein Rennpferd seines Vaters, eine prächtige Schimmelstute, die leider viel zu schnell zerschunden und zu Tode geritten wurde.

Temple erzählt mit ungeheurer Rasanz, in knappsten Dialogen, man muss sehr aufpassen und sich jeden Namen sofort einprägen, ein zweites Mal wird er nicht erklärt. Dabei tauchen eine Unmenge von Personen auf, der gesamte australische Polizeiapparat und das halbe Kabinett, ganz zu schweigen von all den Lokalreportern. Leider entwirft Temple nicht alle Figuren mit der gleichen Sorgfalt wie seinen abgründigen Helden Villani. Politiker, Journalisten und Wirtschaftsbosse erscheinen mitunter etwas schablonenhaft, getrieben allein von Gier, Ehrgeiz und Zynismus. Auch einige sprachliche Entgleisungen könnte man ihm verübeln und den ganz unstimmigen Nachrichtenjargon (dass er von Australien aus Rumänisch für eine slawische Sprache hält, ist wohl verzeihlich). Wettgemacht wird dies allerdings durch die Raffinesse, mit der Temple dieses Geflecht aus Macht und Geld darstellt. Wie ein intelligenter Organismus positioniert es sich immer wieder neu, legt sich geschmeidig um Polizisten, drückt sanft auf die zuständigen Minister, umschmeichelt die Medien und gibt eine Gartenparty für die entscheidenden Leute. Hin und wieder tötet es.

Der Apparat, den Temple dagegen setzt, gibt einem eine bittere Ahnung davon, dass gute Polizeiarbeit nicht darin besteht, die passenden Zeugen zu finden und die richtigen Beweise zu präparieren, sondern sich in und gegenüber dieser gewaltigen Bürokratie zu behaupten, die keinerlei Geschmeidigkeit kennt und in der Gier, Ehrgeiz und Zynismus ganz unsublimiert zutage treten. Und die hin und wieder tötet.


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John Harveys Krimi "Das Fleisch ist schwach" kommt mit mehr als fünfzehn Jahren Verzug auf den deutschen Markt. Das ist sehr schade, denn seinen melancholischen Inspektor Charlie Resnick hat Harvey schon lange aufs Altenteil geschickt. Rein technisch hat der Roman die Jahrtausendwende nicht gut überstanden: Nottinghams Kriminalpolizei kennt keine Handys, von Anruferkennung wissen sie nichts und Thelonius Monk hören sie am liebsten vom Plattenspieler.

Nicky Snape ist 15 Jahre alt und weiß schon ziemlich genau, dass er keine Zukunft mehr vor sich hat. Man kann gar nicht sagen, dass er auf die schiefe Bahn gerät, er stürzt sie geradezu sehenden Auges hinunter. Es hält ihn aber auch niemand auf: Seine Mutter kann sich selbst kaum helfen, sein Bruder Shane ist schon gerichtsnotorisch, auch die Schwester hält sich nicht mehr lange auf dem rechten Pfad. Und wenn seine Lehrer ehrlich sind, geben sie zu, dass sie über sein Schuleschwänzen ganz erleichtert waren, ein schwieriger Fall weniger in der Klasse. Nach einem brutalen Raubüberfall kommt der Junge in den Jugendknast, in dem er wenige Tage später tot aufgefunden wird. Resnick, der dieser kriminellen Karriere nicht unbedingt taten-, aber doch recht hilflos zugesehen hat, möchte den Fall aufnehmen, aber er kann den Behörden kaum verklickern, dass eben nicht alles korrekt und nach Vorschrift abgelaufen ist, wenn ein Junge erhängt aufgefunden wird. Kurz darauf wird auch der ermittelnde Inspektor ermordet, und es ist völlig unklar ob die beiden, der kriminelle Jugendliche und der honorige Polizist kurz vor der Pensionierung, zufällig oder konsequenterweise Opfer des gleichen Verbrechers werden.

Detective Inspector Charlie Resnick ist ein kluger und toleranter Polizist, ein Jazz-Fan und Guardian-Leser. Minderschwere Fälle von Delinquenz sieht er einem Teenager ebenso nach wie einem Constable den rassistischen Kalauer. Wenn es sein muss, ist für ihn Polizeiarbeit Sozialpolitik mit anderen Mitteln. Fürsorglich sieht er im Prekariat nach dem Rechten, und gegen Homophopie in der Polizei, weiß er, gibt es kein besseres Rezept als schwarze schwule Polizisten. Doch wenn Ressentiments in Hass und Gewalt umschlagen, wird er unerbittlich.

Der Autor John Harvey ist viel menschenfreundlicher und hoffnungsvoller als Peter Temple, bei ihm helfen noch Fantasie und Aufklärung gegen die Unzulänglichkeiten und Trägheit des Systems. Hier ist Harvey ganz alte Schule: Es ist die ungerechte, empathielose Gesellschaft, die die schlimmsten Verbrechen generiert. Harvey überfrachtet seine Geschichte heillos mit gesellschaftlichen Grundsatzfragen - Armut, Kinderprostitution, Frauendiskriminierung, Rassismus, männliche Vergewaltigungsopfer - , die soziale Problemlage drückt so stark auf die Figuren, dass ihre Glaubwürdigkeit zu leiden beginnt. Aber vielleicht wollen wir auch heute nur nicht mehr glauben, mit welcher Verbissenheit in den neunziger Jahren Beziehungsdiskussionen oder Rassismusdebatten geführten wurden.

Peter Temple: Wahrheit. Roman. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. C. Bertelsmann Verlag, München 2011, 480 Seite, 21,99 Euro

John Harvey: Das Fleisch ist schwach. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt. dtv Verlag. München 2011, 415 Seiten. 8,95 Euro
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