Mord und Ratschlag

Heil in der Flucht

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
12.03.2008. Von Brüssel nach Mexiko, vom Polizeialltag in Grenzbereiche des Absurden geht die wilde Jagd in Linus Reichlins Romandebüt "Die Sehnsucht der Atome" - erstaunlicherweise folgt man da gerne. Die beste Gelegenheit, Bekanntschaft mit einer der erfolgreichsten japanischen Krimiserien zu schließen, bietet der zweite Band um Arimasa Osawas "Hai von Shinjuku".
"Die Sehnsucht der Atome" gehört zu der Sorte Roman, die man beim besten Willen nicht nacherzählen kann. Soll heißen, können tut man schon, nur klingt das dann so: Kommt ein Mann aus Amerika in ein Brüsseler Kommissariat und teilt dem kurz vor dem Ruhestand stehenden Kommissar Hannes Jensen mit, er fühle sein Leben bedroht. Der Kommissar begleitet ihn auf sein Hotelzimmer, wo zwei Kinder nicht den allerbesten Eindruck machen, aber auch wieder nicht ausdrücklich Klage führen. Der Kommissar lässt die Sache auf sich beruhen, kurz darauf ist der Mann aus Amerika tot, seine Kinder sind spurlos verschwunden. Die Todesursache ist mysteriös, aber das ist noch nichts im Vergleich zu der Frau mit Namen O'Hara, die kurz darauf auftaucht. Sie ist blind und auch sonst gesundheitlich nicht auf der Höhe, erzählt etwas von einer Heilerin Esperanza und bittet den Kommissar sehr bestimmt um seine Mithilfe. Die wird verweigert, aber kurz darauf sitzen die beiden durch Zufall dann doch im selben Flieger nach Amerika.

Dort wird dann alles immer nur mysteriöser. Die Kinder sind weg, auch von der Heilerin keine Spur. Ein Hotelbesitzer hat Informationen, an die die blinde Frau gelangt, indem sie mit ihm schläft. Weiter geht es nach Mexiko, wo es dann richtig gefährlich wird. Mensch und Tier scheinen sich gegen die einander die meiste Zeit eher minder als mehr zugetanen Protagonisten zu verschwören. Linus Reichlins Debütroman "Die Sehnsucht der Atome" hat mithin einen Plot, der sein Heil in der Flucht sucht und die Versatzstücke, mit denen er umgeht, durch tolldreiste Überbietungen immer weiter ins Unvertraute, zuletzt mit einigem obskurantistischem Brimborium in ein abgelegenes Dorf tief in Mexiko und damit auch ad absurdum führt.

Anders als man denken könnte, ist "Sehnsucht der Atome" dennoch nicht einfach eine Thriller-Parodie. Reichlin nimmt die Bestandteile seiner Geschichte nämlich - zum Glück - nicht einfach zum Nennwert, er nimmt und meint sie auf eigentümliche Weise ernst. Oder nimmt jedenfalls ernst, was im Rahmen all der kolportagehaften Abwege, auf denen er sich bewegt, an Zwischenmenschlichem anfällt. An Trauerarbeit zum Beispiel: Jensen, der vor einigen Jahren seine geliebte Frau verloren hat, kämpft einen erbitterten Kampf mit dem Friedhofswärter und pflanzt, was verboten ist, immer aufs Neue Bambus aufs Grab. Davon, dass ein Kommissar, der mit dem Trauern nicht aufhört, durch eine neue Frau ins Leben zurückkehrt, hat man in den Kriminalromanen der letzten Jahre weiß Gott oft gelesen. Weil aber die ihrerseits traumatisierte Blinde eine wirklich nicht sehr sympathische Person ist, weil sie von den Pfaden des gesunden Menschenverstands ebenso wie denen der Tugend mit schöner Regelmäßigkeit abweicht; weil dieser Jensen nicht weiß, was er will und weil das alles deshalb manche Gepflogenheit einschlägiger Liebesgeschichten unterläuft, liest man es doch mit immer erneuter Verblüffung, wenn nicht sogar mit Vergnügen.

Und etwas Weiteres, von dem der Titel schon kündet, kommt hinzu: Kommissar Jensen hat einen Quantenphysik-Spleen. Er plant für den Ruhestand im Hobbykeller eine Doppelspaltexperimentinstallation. Und er erklärt sich die Welt - ohne dass man auch das immer für bare Münze nehmen müsste - mit recht detailliert ausgeführten Vergleichen aus der erstaunlichen Welt der Atomphysik. Auf die Weise kommen dann auch die Sehnsucht und die Atome zusammen, wie eben in diesem Roman ganz gezielt immerzu zusammenkommt, was eigentlich nicht zusammengehört. Der Roman gipfelt darum in der Frage, ob die Heilung, die am Ende geschieht, sich nun natürlichen oder übernatürlichen Kräften verdankt. Das bleibt schön unklar. Kein Zweifel aber besteht an der Chuzpe des Romandebütanten Linus Reichlin, der nicht nur mit Todesmut gegenüber dem Absurden, sondern auch - wie von einem hauptberuflichen Kolumnisten zu erwarten - mit originellen Miniaturen am Rande glänzt.

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Japan ist eine der großen Kriminationen der Welt - leider vermitteln die wenigen bei uns erhältlichen Übersetzungen japanischer Autorinnen und Autoren davon alles andere als einen angemessenen Eindruck. Da bleibt man auf Pioniere wie den cass-Verlag angewiesen, der die Serie um den "Hai von Shinjuku" für den deutschen Markt entdeckt hat. Soeben ist in - von kleineren Mängeln abgesehen - sehr gut lesbarer Übersetzung von Katja Busson der zweite Band mit dem Titel "Rache auf chinesisch" erschienen. Die deutsche Edition ist Nachholarbeit, denn in Japan gibt es bereits neun Bände. Der vorliegende ist beim verspäteten Transfer von einer aktuellen Beschreibung der Machenschaften der taiwanesischen Mafia in Japan im Jahr 1991 unversehens zum fast schon historischen Roman geworden.

Die gute Nachricht: Das tut dem Lesevergnügen nicht den mindesten Abbruch. Shinjuku ist der Stadtteil von Tokio, in den seine Vorgesetzten den Polizisten Samejima versetzt haben. Es ist nicht nur der Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil und mit der größten Bahnstation, sondern auch mit dem größten Ausmaß an Yakuza-Umtrieben und damit verbundener Polizeikorruption. Samejima jedoch ist ganz und gar unkorrupt und deshalb ist der Einsatz in Shinjuku eine Bestrafung, mit der Hoffnung verbunden, der Kommissar müsse irgendwann frustriert die Flinte ins Korn werfen.

Natürlich denkt er nicht daran. Vielmehr tut er sich in "Rache auf chinesisch" mit einem Kommissar aus Taiwan zusammen, der einem von ihm halb bewunderten Profikiller auf der Spur ist. Der taiwanesische Profikiller wiederum ist diesmal nicht im Auftrag unterwegs, sondern in eigener Sache. Er will Rache nehmen an einem Mafia-Boss, der seine, des Killers, Frau auf dem Gewissen hat. Samejima und sein Kollege bewegen sich bei ihrer gemeinsamen Suche an der Grenze des Legalen und gelegentlich auch jenseits. Vor allem aber geraten sie zwischen alle Fronten und sehen sich attackiert von Seiten der Polizei, der japanischen Yakuza, der Taiwan-Mafia und natürlich des Killers. Ein Glück, dass Kollege Guo außerordentlich versiert ist in fernöstlichem Kampfsport.

Arimasa Osawa entwickelt die Ausgangssituation ein klein wenig umständlich, setzt im Fortgang aber auf die genau richtige Mischung aus verwickelten Verhältnissen und Rasanz. Mini-Duette und Mini-Duelle werden in einer überzeugenden Mord-, Rache- und Ermittlungschoreografie ineinander erzählt und zwar stets so, dass aus zeitlichen Aufschüben, aus wechselnden Konflikten und Solidaritäten Spannung entsteht und nicht Unübersichtlichkeit. Die drei Protagonisten sind dabei so angelegt, dass sie einander in ihrem obsessiven Charakter spiegeln: Guo und der Killer haben dasselbe Training genossen und Guo ist in gewisser Weise genauso in sein Gegenüber verbissen, wie der Killer wiederum in sein designiertes Opfer. Samejimas Sympathie für Guo resultiert in einer erstaunlichen Freundschaft, die sich zuletzt unter schwierigsten Umständen zu bewähren hat. Arimasa Osawa ist ein zu guter Autor, um zu behaupten, dass dergleichen gut ausgehen kann. Rache führt, auf chinesisch wie in allen anderen Sprachen, vor allem zu Blutbädern. Davon legt der Roman nüchtern, traurig und mit sehr plausiblen Charakteren auf sehr lesenswerte Art Zeugnis ab.

Linus Reichlin: Die Sehnsucht der Atome. Eichborn Berlin. 359 Seiten. 19,95 Euro )

Arimasa Osawa: Der Hai von Shinjuku 2: Rache auf chinesich. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Cass Verlag. 324 Seiten. 19,80 Euro
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