Mord und Ratschlag

Godzwill

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
03.03.2014. Operation Vergeltung: David Peace erzählt in seinem Großwerk "GB 84" die Geschichte des Bergarbeiterstreiks als schwarze Rachetragödie in fünf Akten. Karim Miské erzählt in seinem Roman "Entfliehen kannst Du nie" von religiösem Wahn und profanen Verbrechen im Pariser Black-Blanc-Beur-Viertel La Vilette.
David Peace mutet seinen Lesern viel zu und gönnt ihnen nichts. Über fünfhundert Seiten harte wütende Prosa, unterschiedliche Erzählweisen, krass wechselnde Perspektiven, vertrackteste literarische Anspielungen und kein erkennbarer Handlungsstrang, der die Orientierung in diesem erzählerischen Labyrinth erleichtern würde. Dafür stößt Peace uns mit den ersten Zeilen mitten hinein in das traurigste Kapitel der britischen Nachkriegsgeschichte, den großen Bergarbeiterstreik von 1984: "Die Toten brüten unter Britannien. Wir flüstern. Wir hallen. Emanation des Großen Albion. - Wach auf, wiederholt Cath. Wach auf, Martin. Ich drehe mich um und schaue sie an. Die machen Cortonwood zu, sagt sie. Jetzt bist du draußen."

Martin wird, wie später auch Peter, ein fliegender Streikposten, ein Flying Picket, die von einer Zeche zur anderen beordert werden, um sie zu besetzen, stillzulegen und das Durchkommen von Streikbrechern zu verhindern. Oder um sich mit der Polizei die ein oder andere Schubserein zu liefern, die allerdings in üble Schlachten ausarten konnten wie etwa vor der Stahlwerk von Orgreave, wo die Polizei Hunderte von streikenden Bergarbeitern in eine Falle lockte, um sie von berittenen Truppen niederknüppeln zu lassen. Die Erzählungen dieser beiden Streikenden ziehen sich wie untergründige Ströme durch das Buch, reißen mitten im Satz ab und setzen dreißig Seiten später wieder ein. Ungeduldige Leser könnten dazu neigen, diese kleingedruckten Erzählungen zu überblättern, doch in ihnen finden sich die schönsten und traurigsten Passagen des ganzen Buches, voller Verzweiflung und ohnmächtiger Wut. Im gesamten Hauptteil des Buches wird man nicht so viel Aufrichtigkeit finden.

David Peace erzählt das Drama des Bergarbeiterstreiks als schwarze Rachetragödie in fünf Akten: Im Hintergrund laufen die Hits von George Michael, in den Hinterzimmern der Macht wird der Kampf um die Kohlereviere von Yorkshire, Nottinghamshire und Derbyshire mit allen denkbaren Tricks und ohne Rücksicht auf Verluste ausgefochten. Nicht alles erschließt sich sofort in diesem vielschichtigen Roman, der im englischen Original bereits vor zehn Jahren erschienen ist, dafür schreibt Peace viel zu enigmatisch und anspielungsreich über die Ereignisse, die immer dreißig Jahre zurückliegen. Aber Peace hat gut recherchiert, er lässt sich nicht von dunklen Fantasien davontragen, sondern setzt das Unglaubliche mit aller Härte und Unerbittlichkeit in Szene, aber immer wohldurchdacht.

Margaret Thatcher erklärt nach den argentinischen Generälen den Gewerkschaften als dem Feind im Innern den Krieg, die rechten Militärs bereiten Putschpläne vor, denn sie wollen ihr teures Land nicht an Ausländer und Juden preisgegeben sehen. Der Geheimdienst heuert für besonders dreckige Einsätze faschistische Schlägerkommandos an, und natürlich werden sämtliche Büros der Gewerkschaften, sämtliche privaten Telefone ihrer Mitglieder und alle öffentlichen Telefonzellen in den Bergbauregionen abgehört: "Operation Vergeltung. Aus Nordirland importiert, für Yorkshire modernisiert. Computerisierte Aufnahmegeräte, gesteuert durch Stimmenerkennung, durch eine bestimmte Wortfolge, das Zusammentreffen einzelner aufgelisteter und nicht aufgelisteter Telefonnummern und der Kombination von Telefonnummern und Vorwahlnummern." Später hieß es, das ewige Klicken in den Leitungen zeuge nur davon, wie heruntergekommen das Land unter dem Joch der Gewerkschaften sei.

Arthur Scargill ist der Gewerkschaftspräsident, der gegenüber seinen Gegnern ebenso wenig Gnade walten lässt wie gegenüber seinen eigenen Leuten. Von seinen Anhänger wird er als König Arthur gefeiert, von Medien und Politik geschmäht: als Stalin von Sheffield oder General Galtieri aus Yorkshire, als Adolf Scargill oder das rote Arschloch.

Sein Geschäftsführer Terry Winters verschiebt die Gewerkschaftsgelder von einem Konto auf das andere, einerseits um es vor den Gerichten in Sicherheit zu bringen, die reihenweise Strafzahlungen wegen illegaler Streikaktivitäten verhängen, andererseits um sich mit seiner Flamme ins Ausland abzusetzen. Nervlich am Ende, süchtig nach Anerkennung und dem Wahnsinn nahe ist der Mann in eine Honigfalle getappt.

Und dann ist da noch die heikle Figur des Stephen Sweet, eines reichen Unternehmers von grotesker Blasiertheit und Inbegriff neoliberaler Abscheulichkeit, der für Thatcher die Anti-Streik-Kampagnen organisierte. Nach einem erfolgreichen Coup onaniert er, völlig zugedröhnt, auf dem Badezimmerboden seines Luxushotels: "Er hält seinen Schwanz mit beiden Händen und zitiert Hayek." Sweet wird ganz aus der Sicht seines Fahrers und Handlangers geschildert und dabei durchgängig als "der Jude" bezeichnet. Das macht erzählerisch durchaus Sinn und lenkt den Widerwillen vornehmlich auf das faschistoiden Faktotums. Und da Peace auch schon in seiner Red-Riding-Quartett aus der Perspektive folternder Polizisten und in der Tokio-Trilogie japanischer Massenmörder geschrieben hat, lernt man bei ihm, was es heißt, die Figurenrede bis zum Äußersten zu treiben. Trotzdem ist einem diese Figur doch in mehrerer Hinsicht unangenehm, die sich so eifrig den Herrschenden andient, um an Ende die Verachtung beider Seiten auf sich zu ziehen.

Ein Jahr lang dauerte der Streik, dann mussten sich die Bergarbeiter einer übermächtigen Allianz aus Politik, Medien und Geheimdiensten beugen, aber auch den Gewinnaussichten der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen, die Großbritannien nur zu bereitwillig die nötige Kohle lieferte, um dem Streik die Kraft zu rauben. Bis zum Ende wird Arthur Scargill tönen, dass sich die Löwen der Arbeiterklassen noch erheben werden. Doch es kann kein Zweifel bestehen: Wenn wir dieses dunkle erzählerische Labyrinth aus Intrigen und Verrat am Ende verlassen, werden wir uns in einem fremden Land befinden, das mit dem Großbritannien von 1984 keine Ähnlichkeit mehr hat.

David Peace: GB 84. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2014, 544 Seiten, 24,80 Euro (Bestellen).

David Peace liest aus seinem Buch am 14. März in Berlin in der Buchhandlung Ocelot, Katy Derbyshire moderiert.


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Karim Miské ist ein Journalist und Dokumentarfilmer, der sich sehr lange und sehr intensiv mit der Geschichte von Juden und Muslimen in Europa und der arabischen Welt befasst hat. Und er ist wie so viele französische Autoren ein großer Fan von James Ellroy. Das Ergebnis dieses doppelten Faibles ist ein Roman, der von religiösem Wahn und profanem Verbrechen erzählt. Im französischen Original heißt der Roman, der 2013 den Grand prix de littérature policière erhielt, in Anlehnung an Ellroy "Arab Jazz", Bastei Lübbe bevorzugt es mit "Entfliehen kannst du nie" weniger subtil.

In La Vilette im 19. Arrondissement von Paris wird die junge Laura brutal ermordet, und da in diesem Viertel fast nur Araber und Juden wohnen, kann niemand die makabre Botschaft übersehen: Auf dem sorgsam für zwei Personen gedeckten Tisch prangt auf einer Porzellanplatte ein riesiger Schweinebraten. Offenbar sollte hier an einer unreinen Frau ein fundamentalistisches Exempel statuiert werden.

Allerdings kann auch ihr Nachbar Ahmed nicht ganz ausschließen, an diesem Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Der Junge ist ein armer Tropf, der nicht weiß, ober er von Dämonen verfolgt wird oder selber einer ist. Sich selbst und seinem Leben versucht er mit viel Haschisch und noch mehr Krimis zu entfliehen. Doch aus Loyalität zu seiner ermordeten Nachbarin und mit dem Gefühl der letzten Chance für sein eigenes Leben gibt er sich einen Ruck und fängt an, auf eigene Faust zu ermitteln.

Mit diesem Ahmed und zwei nicht weniger verwirrten Polizisten, Jean Hamilot und Rachel Kupferstein, fügt Miské ein ziemlich unwahrscheinliches, aber sehr charmantes Ermittler-Team zusammen: einen Araber mit Borderline-Syndrom, einen versponnenen Bretonen und eine aschkenasische Jüdin mit flammend rotem Haar, einem Faible für Hardboiled-Thriller und enormer Lust auf das große Spiel des Lebens. Ein Traum von Black-Blanc-Beur, der dem religiösen Fanatismus jeder Couleur die Stirn bietet. Das Böse entspringt in diesem Roman Godzwill, einem einzigen monotheistischen Horrortrip.

Den lehrbuchhaften Einschlag wird Miskés von republikanischen Idealen durchdrungener Roman bis zum Schluss nicht ablegen. Die Zahl der Spinner und Verrückten, die der Roman in La Villette zusammenbringt, ist höher als in der Pariser Nervenklinik Maison Blanche. Zugleich leben hier so viele Menschen mit tragischen Schicksalen, dass Miské sie nur in einem einzigen Absatz auftreten lassen kann. Aber mit der Zeit und nach einigen ungeschickten Konstruktionen kommt die Erzählung in ihren Fluss. Dann erzählt Miské in sehr schönen Passagen von lebenshungrigen jungen Menschen, die voller Verlangen nach Rausch oder Liebe durch die Nacht streifen, und von eingeschüchterten Jugendlichen, die nicht wissen, auf welche Seite der Angst sie sich stellen sollen. Von ägyptischen Juden, arabischen Marxistinnen und marokkanischen Gnawa-Musikern, deren Vorfahren von den Ufern des Niger in die Sklaverei verschleppt wurden.

Das Leben, das Miské von La Villette zeichnet, ist keine Idylle der Vielfalt, sondern ein Kosmos voll politischer Konflikte und tragischer Schicksale. Die meisten Menschen hier sind sich spinnefeind. Ausgeschlossen wie sie sind, verachten und verabscheuen sie sich auch noch gegenseitig. Nur eines verbindet sie: Die Arroganz der Pariser gegenüber den anderen Franzosen.

Karim Miské: Entfliehen kannst Du nie. Roman. Aus dem Französischen von Ulrike Werner. Bastei Lübbe. Köln 2014, 334 Seiten, 8,99 Euro (Bestellen)