Mord und Ratschlag

Kein Schlaf, nur Albträume

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
02.12.2009. In seinem Roman "Tokio im Jahr Null" lässt David Peace neben allen anderen Untätern auch noch einen Serienmörder umgehen. Das ergibt einen einzigen Albtraum. Die Frage ist allerdings: wessen?
David Peace ist schlicht und ergreifend der aufregendste Autor, den der britische Krimi derzeit zu bieten hat. Allerdings auch der düsterste. Fünfzehn Jahre lang hat Peace in Japan gelebt und als Englischlehrer gearbeitet. Dort schrieb er sein legendäres "Red Riding Quartet", ein Vierteiler über den Yorkshire Ripper und den Untergang der Industriereviere im England der siebziger und frühen achtziger Jahre. Nun, nach England zurückgekehrt, legt David Peace den ersten Teil einer Japan-Trilogie vor. Sie beginnt mit "Tokio im Jahr Null" - und ist der reinste Albtraum.

Die Handlung beginnt an dem Tag, als für Japan alles zu Ende ist, am Tag der Kapitulation. Das Land liegt eigentlich schon am Boden und wartet auf die Ansprache des Kaisers. Im Keller einer zerbombten Uniformfabrik wird die übel zugerichtete Leiche einer Frau gefunden, vergewaltigt und erdrosselt. Die Militärpolizei macht mit einem koreanischen Kriegsgefangenen, den sie bald in der Nähe aufspürt, kurzen Prozess. Doch ein Jahr später werden weitere Frauen ermordet, sie alle wurden vergewaltigt, gewürgt, erdrosselt und auch als Tote weiter vergewaltigt. Als die Polizei richtig zu suchen beginnt, fügen sich mehr und mehr unaufgeklärte Fälle in diese Mordserie. Es dauert nicht lange, bis der zweifache Familienvater Kodaira Yoshio festgenommen wird, der sich den jungen Frauen, Huren meist, mit Geschenken und Lebensmitteln angedient hatte. Er gesteht zunächst nur einen Mord, dann weitere, und schließlich wird er wegen zehnfachen Mordes hingerichtet werden. Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass er diese Morde begangen hat.

Eigentlich scheint es sogar das einzige zu sein, was in "Tokio im Jahr Null" feststeht: Kodaira Yoshio ist ein Serienmörder, und er hat getötet, um seine Lust zu befriedigen. Ansonsten ist nichts klar. Niemand ist der, der er zu sein vorgibt. Verbrechen und Ordnung, Macht und Moral, Sieger und Verlierer, Wahn oder Wirklichkeit - nach diesem Krieg gilt nichts mehr. Daraus entfaltet Peace den Horror dieser Geschichte. Und am allerwenigsten weiß man, woran man mit dem Ich-Erzähler ist, Inspektor Minami. Wer ist er? Was treibt ihn? Was hat er getan? Ist er verückt oder böse? Er leitet die Ermittlungen, allerdings eher gegen seine eigenen Kollegen, denen er die Ermordung des Koreaners nicht verzeiht. Aber vielleicht will er auch nur von den eigen Untaten ablenken. Dabei kann man ihn nicht wirklich einen Erzähler nennen, denn erzählt wird hier gar nichts. Peace drückt in seiner unverwechselbaren Härte einen Alb auf Minami nieder. Durch dessen mal vernebeltes, mal zermartertes Hirn eröffnen sich allenfalls Fragmente einer Geschichte, aber keine Bilder, keine Anschauung, kein Zusammenhang. Was kann hier auch schon Sinn ergeben?

Wo andere Menschen ein Innenleben haben, tosen bei Minami Dämonen und Schuldgefühle. Denn er mag noch so viele Gauner festsetzen: die übelsten Verbrechen, nämlich die eigenen und die seiner Kollegen, sind tief unter dem Schutt der eingestürzten Ordnung begraben. "Wir haben einen Krieg verloren, wir haben alle Geheimnisse." Schlaf findet Minami nachts schon lange nicht mehr, höchstens Träume. Minami braucht Schlaftabletten und er braucht Geld. Die lumpigen hundert Yen, die er verdient, reichen nicht einmal für die Familie zum Leben und schon gar nicht für die kostspielige Geliebte. Doch bei den Yakuza wird er beides erst wieder bekommen, wenn er ihnen den Mörder ihres Bosses ausliefert.

Tokio im Jahr Null ist eine verheerte Stadt, äußerlich wie innerlich. Und nichts beginnt hier neu. Hier herrscht kein Enthusiasmus. Der japanische Kalender schreibt das 16. Jahr Showa des Kaisers Hirohito. Sie alle verabscheuen die Demokratie und müssen doch das Spiel der amerikanischen Sieger mitspielen. Sie ändern ihre Identität, wechseln die Seiten oder tauchen unter. Jeder nimmt seine schmutzige Vergangenheit mit in die neue Zeit, in der der Kaiser kein Gott mehr ist, es "stinkt nach Niederlage", nach Tod und DDT, es mangelt an allem außer Krankheiten wie beri-beri und Läusen, die gibt es in schwarz, braun, gelb und grau. Eine Zeit, von der man sich fragt, ob ein Serienmord wirklich das einzig perverse ist. Hier sind die Polizisten nicht einfach nur korrupt oder brutal oder belastet, diese Männer haben allesamt mehr Menschenleben auf dem Gewissen als der Triebtäter, den sie hinter Gitter bringen wollen. Sie haben Massaker in China begangen, sie räumen im Auftrag der Yakuza die chinesischen Triaden aus dem Weg. Sie töten, um ihren Persilschein zu behalten. Eine der getöteten Frauen hatte eigentlich im Sommer 1945 aus Tokio nach Nagasaki zurückkehren wollen. Jemandem nur die Wahl zu lassen zwischen Tod durch Serienmord oder Tod durch Massenmord - das ist pervers.

David Peace: Tokio im Jahr Null. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind Verlag, München 2009. 408 Seiten, 22 Euro

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