Mord und Ratschlag

Der Wolkenschaufler

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
29.03.2007. Auch in ihrem neuen Roman "Die dritte Jungfrau" beweist Fred Vargas eine unbedingte Liebe zu allem, was neben der Spur ist: Kommissar Adamsberg ermittelt in Sachen Unsterblichkeit.
Zwei Leichen tauchen auf, es scheint ein klarer Fall - und zwar fürs Drogendezernat, nicht für die Mordkommission. Kommissar Adamsberg aber spürt gleich, dass etwas nicht stimmt mit den Toten. Und wo Adamsberg etwas spürt, da muss man ihm weder mit Augenschein noch mit Logik kommen. Umgekehrt gilt: Wo die Logik nicht weiterhilft, da kommt Adamsberg erst richtig in Fahrt. Dieser doppelte Sachverhalt, die Logikferne Adamsberg, die Adamsbergferne der Logik, macht das Beschreiben der Handlungen und Plots von Fred Vargas' Romanen immer ein wenig schwierig. Sie klingen nämlich, nacherzählt, manifest absurd. So geht es in "Die dritte Jungfrau" um Knöchelchen an seltsamen Stellen von Tierkörpern (Schweinerüssel, Katerpenis, Hirschherz), um ein Unsterblichkeitselixier und, das ist noch das Normalste, um dissoziierte Persönlichkeiten, bei denen die eine Hälfte nicht weiß, was die andere tut.

Zusammen bringen all diese Ingredienzen wie immer nur die ums Entlegene nicht verlegene Fantasie der Autorin und die "wolkenschaufelnde" Intuition des Kommissars, dessen Verhalten oft mehr von Eigensinn als Realitätstüchtigkeit zeugt; oder etwas komplizierter: dessen Eigensinn so enorm ist - und oft genug auch enorm enervierend -, dass die Realität sich ein ums andere Mal mit einem resignierenden Seufzer beugt. Fast scheint es manchmal, als bringe nicht Adamsberg, wie es des Detektivs ehrwürdige Aufgabe ist, rekonstruierend die Zeichen und Spuren mit der Wirklichkeit zur Deckung - vielmehr kann einem scheinen, er bedränge die Realität so lange mit seinen weit hergeholten Einfällen, bis das Reale der Idee sich fügt. So viel ist auf jeden Fall an einer solchen Vermutung richtig, dass Fred Vargas unbedingt das Absurde dem Wahrscheinlichen, das Hergeholte dem Naheliegenden und das Fantastische dem Banalen vorzieht. Das ist ihr Programm und Figur für Figur macht sie klar, dass sie es mit ihrer unbedingten Liebe zu allem, was neben der Spur ist, sehr Ernst meint.

Was nicht heißen soll, dass sie es ihren Figuren, Adamsberg zu allererst, jemals leicht macht. Der Kommissar bekommt es diesmal gleich mit mehreren Gegnern zu tun. Der härteste von ihnen scheint der neue Kollege Veyrenc, mit dem ihn sofort ein in der Vergangenheit begründetes, in der Gegenwart freilich sofort genauso viel Anlass findendes Konkurrenz-Verhältnis verbindet. Sogar die ihm sonst fast blind ergebene skurrile Schar seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter droht, zum seltsam attraktiven neuen Mann überzulaufen, dessen hervorstechende Eigenart die Spontanverfertigung von nicht perfekten, aber ganz ordentlichen Versen ist; sowas wie ein Tourette-Syndrom für gehobene Schichten.

Ihren einstigen Brotberuf, die Archäologie, hat Fred Vargas, wie zu lesen ist, angesichts ihres erstaunlichen Erfolgs als Kriminalromanautorin erst einmal ruhen lassen. Dafür sind Grabungen in "Die dritte Jungfrau" umso präsenter. Was jemand nämlich in Gräbern bei Unfällen ums Leben gekommener Jungfrauen zu suchen haben könnte, bleibt lange das bestimmende Rätsel des Romans. Die archäologischen Ergebnisse führen auf direktem Weg freilich nicht zur Antwort. Also muss erst ein geheimnisvolles Buch ins Spiel kommen, in dem vom erwähnten Unsterblichkeitselixier die Rede ist. Natürlich ist, wer daran buchstäblich glaubt, manifest verrückt - und mordsgefährlich. So droht Adamsberg gar seine geliebte Kollegin Retancourt zu verlieren und muss seine ganze Hoffnung auf die apathische Revierkatze mit dem sprechenden Namen Kugel setzen, die dann aber eindrucksvoll zeigt, was in ihr steckt. Überhaupt geht es bei Fred Vargas genau darum ja eigentlich immer: Menschen (und Tier), die auf den ersten Blick nicht viel hermachen, erweisen sich als Helden des Geistes und der Tat. Oder, das ist die Kehrseite, auch andersherum: Die attraktivsten Figuren begehen die schrecklichsten Taten.


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Stets an den Rändern der Gesetze und Konventionen der Kriminal- und Genreliteratur bewegt sich der Argentinier Pablo de Santis. So steht bei seinen vertrackten Denk-Rätsel-Ideen-Romanen der große Jorge Luis Borges mindestens ebenso Pate wie die englischen Klassikerinnen und Klassiker des Mystery-Genres. Dies gilt auch für "Die sechste Laterne", sein jüngstes Werk (hier eine Leseprobe). Auf den ersten Blick wird hier, mehr oder weniger chronologisch, die Geschichte eines Lebens erzählt, nämlich die des in Italien geborenen Silvio Balestri, der im Jahr 1914 in die USA - genauer: nach Brooklyn, New York - auswandert und dort eine Karriere als Architekt macht. Oder gerade nicht. Denn zwar wird er in eine der angesehensten Architekturfirmen New Yorks aufgenommen, zuständig für den gerade in schwindelerregender Weise einsetzenden Wolkenkratzerbau in Manhattan. Zwar arbeitet er sich vom Kellergeschoss - in dem die Kellergeschosse entworfen werden - immer weiter nach oben, wird sogar einer der drei Teilhaber des florierenden Unternehmens. Sein ganzer Ehrgeiz gilt jedoch dem Bau eines beinahe unermesslichen Turms, nach dem Vorbild des Turms zu Babel, im Roman meist beim mesopotamischen Namen "Zikkurat" genannt. Diesem Werk der Hybris widmet er Tage und Nächte; er verliert seine Frau, ohne dass es ihn sonderlich bekümmerte; er verfasst theoretische Schriften zur Architektur und ihrem vielfachen Sinn und gerät in Konflikt nicht nur mit den vor allem mit dem Niederreißen (in Gedanken) beschäftigten Futuristen, sondern auch mit allen funktionalistisch orientierten Vertretern der Baumoderne. So erhebt auch der geheimnisvolle Club der sechsten Laterne scharfen Einspruch gegen den neuen Zikkurat, und zwar im Namen der Bedeutungslosigkeit der Architektur.

Mit Bedeutungen spielt, wie sein Protagonist, auch Pablo de Santis. In hundert kurze und kürzeste Abschnitte zerfällt das Buch, in fast ebeno viele kleine und große Ideen und ihre Wendungen zerteilt de Santis das Leben und in der Praxis so erfolglose Wirken Silvio Balestris. "Die sechste Laterne" ist ein Buch wundersamer Erfindungen, von einem im Süden Manhattans gelegenen Museum der ungebauten Entwürfe bis zum Auftritt einer jungen Frau, die das Offene nicht erträgt und darum im aus unabsehbaren Innenflächen bestehenden Zikkurat ihr neues Zuhause erkennt. Noch ins beinahe Belanglose kerbt De Santis seine Bedeutungssuggestionen: So verschwindet etwa die lange namenlose Katze des Helden auf Nimmerwiedersehen, sobald sie auf den Namen "Zikkurat" getauft wird. Ideen, Figuren, Katzen, alles liegt bei De Santis auf ein- und derselben Ebene und zwischen allem zirkulieren Namen und Schicksale, ohne aber je auf den einen Sinn hinauszulaufen. Anders als sein Held zielt der Autor nämlich nie auf eine maßlose Gesamtbedeutung. Er baut weder an einem Wolkenkratzer noch an einem Turm zu Babel. Viel eher arbeitet er die großen Ideen klein. Schweifende intellektuelle Fantasie verbindet er mit Lakonie im Ausdruck. Kurz poliert er die einzelnen Gedanken bis sie funkeln. Zur Allegorie oder dem, was man tiefere Bedeutung nennen könnte, zieht es ihn nicht. "Die sechste Laterne" ist wie all seine Romane zuvor ein glitzernder Steinbruch abendländischer Ideengeschichte, fern aller - auch der magischen - Realismen. Der Leser muss seine eigenen Schlüsse ziehen - wenn er denn will. Oder er genießt Pablo de Santis' Kunststücke, die im Verstand perlen wie Champagner extra brut am Gaumen.


Fred Vargas
: "Die dritte Jungfrau". Roman. Aus dem Französischen von Julia Schoch. Aufbau Verlag, Berlin 2007, 474 Seiten, gebunden, 19,95 Euro

Pablo de Santis: "Die sechste Laterne". Roman. Auzs dem Spanischen von Claudia Wuttke. Unionsverlag, Zürich 2006, 256 Seiten, gebunden, 19,90 Euro