Mord und Ratschlag

Der Werwolf von Mercantour

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
03.12.2002. Die Krimikolumne. Heute: Erst sterben die Schafe, dann die Menschen. Ganz klar, im Mercantour geht ein Werwolf um. In Fred Vargas' Roman "Bei Einbruch der Nacht" zieht eine Gruppe von Gefährten aus, das schwer definierbare Böse zu bekämpfen. Von Ekkehard Knoerer
Erst sind nur ein paar Schafe tot. Ein Tier, das, den Wunden nach zu urteilen, mächtig groß sein muss, hat sie gerissen. Sofort geraten die Wölfe in Verdacht, die seit wenigen Jahren, von Italien kommend, wieder im südfranzösischen Mercantour leben, einer wenig besiedelten Gebirgslandschaft. Ernst wird die Sache, als der erste Mensch ums Leben kommt, die in ihrem Dorf wenig beliebte Suzanne Rosselin. Sie hinterlässt neben achselzuckenden Nachbarn zwei Männer in tiefer Trauer, einen alten Hirten, der von allen nur "der Wacher" genannt wird (und seinem Namen immer wieder alle Ehre macht), und ihren farbigen Adoptivsohn Soliman. Nicht nur ist deren Trauer tief, auch ihre Wut ist groß und der Wunsch nach Rache größer. Suzanne, erfährt man, hielt schon, als es um die toten Schafe ging, nicht die Wölfe für die Täter, sondern einen Werwolf. In Frage kommt dabei nur einer, Massart, der Schlachter, denn Werwölfe, das ist allgemein bekannt, sind haarlos wie Massart: erst bei ihrer Verwandlung wendet sich der nach innen gewachsene Pelz nach außen.

Und tatsächlich ist Massart verschwunden, in seiner Hütte findet sich eine Straßenkarte mit einer Markierung, die womöglich den Fluchtweg anzeigt. Der Wacher und Soliman wollen hinterher, aber sie brauchen Hilfe, einen Chauffeur, der sie kutschiert. Genauer gesagt: eine Chauffeurin. Denn im Auge haben die beiden Camille, Komponistin fürs Fernsehen, Klempnerin zum Ausgleich, die der Liebe zum Grizzlyforscher und nun auch Wolfexperten Lawrence wegen, in die abgelegene Gegend geraten ist. Die drei machen sich auf, teilen sich die nach Schafsschweiß stinkende Schlafstatt auf der Ladefläche des LKWs und sehen, als weitere Morde geschehen, ein, dass sie professionelle Unterstützung benötigen. Ins Spiel kommt Adamsberg, der Polizist und einstige Geliebte Camilles, der aus Paris verschwunden ist, weil ihm dort eine Frau nach dem Leben trachtet (das ist eine andere Geschichte, die der Roman aber auch erzählt, mehr nebenbei.)

Es handelt sich, mehr noch als man nach dem ersten Resümee vermuten möchte, um einen Plot, auch um Figuren mit allerhand Seltsamkeiten. Deren offensichtlichste ist der Werwolf, der freilich, das wird recht schnell klar, keiner ist. Obwohl aber vom Phantastischen am Ende nichts übrig bleibt, alles einer völlig rationalen, höchstens etwas zu elaborierten Lösung zugeführt wird, muss man doch sagen: Der Roman ist nicht ganz von dieser Welt. Ganz und gar respektlos verhält er sich gegen so manche Erwartung an den Realismus des Dargestellten. So sind zum Beispiel die Figuren - allesamt - Typen, die irgendwo eine Schraube locker haben. Soliman hat mit Stumpf und Stil ein Wörterbuch auswendig gelernt, dessen Definitionen er nun anbringt, wo er kann, als wären es der Lebensweisheit letzte Schlüsse. Camilles Liebe zum Klempnerkatalog ist nicht weniger bizarr als des Polizisten Adamsbergs Vorgehensweise. Er ist der radikale Gegenentwurf zum Ermittler in Poes und Conan Doyles Tradition, einer, der nicht weiß, was er tut, und nicht sagen kann, wie er hinter die Dinge kommt. Ein hellsichtiger Träumer, der wartet, nicht auf Eingebungen im strengen Sinn, sondern darauf, dass sich alles ordnet, in seinem Kopf, aber ohne Zutun einer Methode. Übrigens verhält er sich in Liebesdingen nicht sehr viel anders (das ist noch eine Geschichte, die erzählt wird, nicht so nebenbei).

Das alles klingt, wenn man es hört, ganz furchtbar ausgedacht. Jedoch will es einem bei der Lektüre überhaupt nicht so scheinen. Was daran liegt, dass Fred Vargas diese Figuren liebt, und zwar gerade, weil sie sind, wie sie sind. Und auch daran, dass sie, ohne alle psychologischen Tiefgründeleien oder banalisierende Erläuterungen, sie sein lässt wie sie sind. Sie da hinstellt in die Handlung und tun lässt, was sie tun müssen. Das Buch konstituiert nicht den aus dem Kriminalroman gewohnten homogenen Plot-Raum, dem die Figuren sowie alles was sie tun, untergeordnet wird, und zwar auf des Rätsels Lösung hin, die sich aus dem Dargestellten zwanglos ergeben soll. Die Kraftzentren dieses Buches sind vielmehr die Personen selbst in ihrer nicht auszubügelnden Eigenheit, seine Höhepunkte die gar nicht so sehr geistreichen wie vor allem in ihren Abbrüchen und Non-Sequiturs verblüffenden und entzückenden Dialoge. Man hat daher, bis zum Schluss, der hier umso stärker als fast gewaltsame Schließung erscheinen muss, den Eindruck einer nicht sonderlich zielgerichteten Offenheit, zugleich eines In-Sich-Kreisens des Geschehens, das nur äußerlich zur Struktur des Road-Movies gestreckt wird.

Aber auch der Begriff "Road-Movie" trifft es nicht ganz. Der erste Lektüreeindruck nämlich ist ein anderer, der vermeintliche Werwolf ist da nur eines von mehreren Signalen. Man glaubt, hinter der Realismus-Schicht der Gegenwartswelt, der existierenden Geografie, die sogar immer wieder genauestens kartiert wird, eine tiefer liegende und anders geartete Wirklichkeit zu spüren, und zwar die von Solimans Lexikon-Wissen nie einzuholende Abenteuer-und Anderwelt-Struktur des Fantasyromans (was Soliman nicht gerecht wird, denn dem Lexikon steht seine fabulatorische Lust an der Mythenerfindung gegenüber). Was so entsteht, ist eine Welt der Seltsamkeiten, der abgelegenen Gegenden, deren Agentin die an der Geografie ein ums andere Mal verzweifelnde Camille ist. Die Geschichte des Aufbruchs einer Gruppe von Gefährten, die ausziehen, das schwer definierbare Böse zu bekämpfen, das ist alles da und die mystery des Kriminalromans ist in diesen ganz anders gelagerten Grund mit leichter Hand hineingezeichnet.

Freilich dürfte man sich auch mit der "Fantasy"-Assoziation täuschen, denn Vargas kennt (wie auch der Urvater Tolkien) die Originale, die die neuere Fantasy meist ohne allen Sinn und Verstand kopiert. Und das sind die mittelalterlichen aventiuren, in denen behaarte Waldschrate, deren Umkehrung der "Werwolf" Massart ist, als "wilde Männer" zum vertrauten Personal gehören. Auch die merkwürdige Inhomogenität des Raums, der Zeitbrüchen genauso wie abrupten Stimmungsänderungen unterworfen wird, findet sich in den mittelalterlichen Romanen, deren Welt die Autorin in "Bei Einbruch der Nacht" auf höchst subtile Weise nachstellt und wie von Zauberhand zum Kriminalroman wendet. Dies ist wirklich ein Kunststück, und kein geringes, denn das Ergebnis liest sich wie aus einem Guss. Fred Vargas verfährt so raffiniert wie originell und bewahrt dabei eine Leichtigkeit, die man nur bewundern kann. Der Roman ist ein literarischer Hochgenuss, spannend, komisch und geistreich zudem. Es handelt sich um das fünfte Buch der Autorin, die im richtigen Leben anders heißt und als Archäologin arbeitet. Fred Vargas gehört, dieser Roman ist der Beweis, zum besten, das der Kriminalliteratur im letzten Jahrzehnt widerfahren ist.


Fred Vargas: "Bei Einbruch der Nacht". Kriminalroman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Aufbau Verlag, Berlin 2002, Taschenbuch, 336 Seiten, 8,50 Euro
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